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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 633

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 318/20, Beschluss v. 03.03.2021, HRRS 2021 Nr. 633


BGH 4 StR 318/20 - Beschluss vom 3. März 2021 (LG Verden)

Notwehr (Notwehrprovokation; Verteidigungswille: Verfolgung auch anderer Ziele; Gegenwärtigkeit: Erheblichkeit der Absichten des Angreifers).

§ 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine schuldhafte Provokation kann zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen, wenn bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Eine Notwehreinschränkung wegen zumindest leichtfertiger Provokation setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht.

2. Die bloße Kenntnis oder die („billigende“) Annahme, ein bestimmtes eigenes Verhalten werde eine andere Person zu einem rechtswidrigen Angriff provozieren, kann für sich genommen nicht zu einer Einschränkung des Rechts führen, sich gegen einen Angriff mit den erforderlichen und gebotenen Mitteln zur Wehr zu setzen.

3. Eine Rechtfertigung durch Notwehr kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter neben der Abwehr eines Angriffs andere Ziele verfolgt, solange sie den Verteidigungszweck nicht vollständig in den Hintergrund drängen.

4. Zwar dauert ein Angriff in Fällen, in denen der Angreifer, der erfolglos einen Schlag gegen den Angeklagten geführt hatte, an und ist daher gegenwärtig im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB, solange eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Entscheidend sind insoweit jedoch nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden von 28. April 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte im Fall II.1 der Urteilsgründe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde,

b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. a) Nach den im Fall II.1 der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen trat der Angeklagte am Tatabend auf dem Bahnhofsvorplatz in B. auf eine Gruppe Obdachloser zu und bat um eine Zigarette. Der spätere Geschädigte reagierte auf die Bitte nicht. Daraufhin wandte sich der angetrunkene und aggressiv gestimmte Angeklagte einem Begleiter des Geschädigten zu und äußerte diesem gegenüber sinngemäß, dass es „dem Kollegen“ nicht gut gehe und er wohl betrunken sei. Diese Äußerung fasste der Geschädigte als Beleidigung auf, erhob sich und fragte den Angeklagten mehrfach, was er wolle. Im Zuge des sich nunmehr entwickelnden Streitgesprächs trat der „für den Angeklagten erkennbar stark betrunkene“ Geschädigte einen Schritt auf den Angeklagten zu, so dass dieser vom Speichel des Geschädigten im Gesicht getroffen wurde. Der Aufforderung des Angeklagten, Abstand zu halten, kam der Geschädigte nicht nach. Der Angeklagte glaubte, der Geschädigte drohe, ihn mit einer Bierflasche zu schlagen. Um dies zu verhindern, ergriff der Angeklagte nunmehr die Bierflasche, beleidigte den Geschädigten („Spinner“) und drohte ihm Schläge für den Fall an, dass er ihn anfasse. Der Geschädigte forderte mehrfach erfolglos seine Bierflasche zurück, zog schließlich seine Jacke aus und holte zu einem Schlag aus.

Der Angeklagte wich zurück und schlug sofort mit der Bierflasche auf den Kopf des Geschädigten, um sich zu wehren. Infolge der Wucht des Schlages ging die Bierflasche zu Bruch und der Geschädigte stürzte zu Boden. Nunmehr trat der Angeklagte schwungvoll mit dem Fuß gegen den Kopf des zu Boden stürzenden Geschädigten und traf ihn seitlich im Gesicht. Durch dieses „Nachtreten“ wollte er verhindern, dass der Geschädigte sich erhebe und ihn erneut schlage; ihm war dabei klar, dass er sich „bis dahin auch einfach hätte entfernen können“.

b) Das Landgericht hat den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB durch den Schlag mit der Flasche auf den Kopf sowie den wuchtigen Tritt mit dem beschuhten Fuß in das Gesicht des Tatopfers als erfüllt angesehen und angenommen, dass die Tat nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sei. Zwar habe sich der Angeklagte einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff des Geschädigten gegenübergesehen, als dieser zum Schlag gegen ihn ausholte. Es fehle jedoch an der Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen. Das Notwehrrecht des Angeklagten sei durch die vorangegangene Provokation eingeschränkt gewesen; der Geschädigte habe die Äußerung des Angeklagten gegenüber seinem Begleiter „wohl“ als Beleidigung aufgefasst und dies habe zu dem eskalierenden Streit geführt. Darüber hinaus sei der Geschädigte ersichtlich stark betrunken gewesen. Der Angeklagte habe bei dieser Sachlage von Trutzwehr zu Schutzwehr übergehen müssen und die Flasche nicht als Schlagwerkzeug einsetzen dürfen, zumal er dem Angriff bereits erfolgreich habe ausweichen können; dies gelte „erst Recht“ für den Tritt, der nicht mehr „in erster Linie“ von Verteidigungswillen getragen sei.

2. Die Verurteilung im Fall II.1 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht eine Rechtfertigung der Tat durch Notwehr (§ 32 StGB) mit nicht tragfähiger Begründung abgelehnt hat.

a) Das Landgericht ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass eine schuldhafte Provokation zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen kann, wenn bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Eine Notwehreinschränkung wegen zumindest leichtfertiger Provokation setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2020 - 4 StR 658/19, NStZ 2021, 93, 94 mwN). Die bloße Kenntnis oder die („billigende“) Annahme, ein bestimmtes eigenes Verhalten werde eine andere Person zu einem rechtswidrigen Angriff provozieren, kann für sich genommen nicht zu einer Einschränkung des Rechts führen, sich gegen einen Angriff mit den erforderlichen und gebotenen Mitteln zur Wehr zu setzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2018 - 1 StR 208/18, StV 2020, 290, 291 und vom 4. August 2010 - 2 StR 118/10, NStZ 2011, 82, 83; Urteile vom 2. November 2005 - 2 StR 237/05, NStZ 2006, 332, 333 und vom 12. Februar 2003 - 1 StR 403/02, NJW 2003, 1955, 1959).

b) Gemessen hieran ist eine Überschreitung der Grenzen zulässiger Verteidigung nicht tragfähig begründet.

aa) Es fehlt bereits an Feststellungen zu den Kräfteverhältnissen zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten, so dass nicht geprüft und entschieden werden kann, ob das Landgericht zu Recht von einer Überschreitung der Grenzen der Notwehr durch den Angeklagten ausgegangen ist. Die Bezugnahme auf Lichtbilder zur „Verdeutlichung des Ablaufes des Tatgeschehens“ vermag die erforderlichen eigenen Feststellungen zur objektiven Kampflage nicht zu ersetzen.

bb) Den Urteilsgründen kann auch nicht sicher entnommen werden, welches konkrete Verhalten des Angeklagten das Landgericht als ? zumindest leichtfertige ? Notwehrprovokation (zu den Einschränkungen des Notwehrrechts bei Absichtsprovokation, Vorsatzprovokation und leichtfertiger Provokation vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2019 - 4 StR 456/18, NStZ 2019, 263, 264) gewertet hat. Zwar ist im Rahmen der rechtlichen Würdigung auf die gegenüber dem Begleiter des Geschädigten erfolgte Äußerung, dieser sei wohl betrunken, abgestellt und ausgeführt, dass der Geschädigte diese Ansprache „wohl“ als Beleidigung aufgefasst habe. Ein jedenfalls objektiv gegenüber dem Geschädigten ehrverletzendes Verhalten ist damit nicht belegt. Darüber hinaus fehlt es an Feststellungen zum motivationalen Zusammenhang zwischen der möglichen Pflichtverletzung des Angeklagten und dem Verhalten des Angreifers; insoweit hätte das Landgericht sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Wegnahme der Bierflasche durch den Angeklagten das Verhalten des Geschädigten auslöste und der vom Landgericht angenommene motivationale Zusammenhang zwischen Äußerung und späterem Angriff durch den Geschädigten daher fehlte.

cc) Soweit das Landgericht schließlich angenommen hat, dass der neben dem Schlag mit der Bierflasche ausgeführte Tritt in das Gesicht des zu Boden stürzenden Geschädigten nicht mehr „in erster Linie mit Verteidigungswillen“ geführt worden sei, lässt diese Erwägung - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat - besorgen, dass es nicht hinreichend beachtet hat, dass eine Rechtfertigung durch Notwehr auch dann in Betracht kommt, wenn der Täter neben der Abwehr eines Angriffs andere Ziele verfolgt, solange sie den Verteidigungszweck nicht vollständig in den Hintergrund drängen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2003 - 1 StR 403/02, Rn. 24, NJW 2003, 1955, 1957).

3. Die Sache bedarf daher im Fall II.1 der Urteilsgründe neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt auch die zugehörigen Feststellungen zum objektiven Tathergang auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht in sich stimmige und widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

4. Die Aufhebung im Fall II.1 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs nach sich. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht auch Gelegenheit haben wird, eindeutige Feststellungen zur objektiven Notwehrlage zu treffen. Zwar dauert ein Angriff in Fällen, in denen der Angreifer wie hier der Geschädigte, der erfolglos einen Schlag gegen den Angeklagten geführt hatte, an und ist daher gegenwärtig im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB, solange eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 - 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39 mwN). Entscheidend sind insoweit jedoch entgegen der Annahme des Landgerichts, das allein auf die subjektive Sicht des Angeklagten abgestellt hat, nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016, aaO).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 633

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 607; StV 2022, 155

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner