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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1244

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 670/19, Beschluss v. 27.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1244


BGH 4 StR 670/19 - Beschluss vom 27. August 2020 (LG Essen)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Vorrang vor den Regelungen über die mehrfache Anordnung der Maßregel).

§ 55 Abs. 2 StGB; § 67f StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ist die Anlasstat vor der früheren Verurteilung des Angeklagten begangen, haben die Grundsätze nachträglicher Gesamtstrafenbildung (§ 55 Abs. 2 StGB) Vorrang vor der Regelung des § 67f StGB.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 8. April 2019, soweit es ihn betrifft, aufgehoben

a) soweit eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung unterblieben und die Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Wuppertal vom 28. Mai 2018 aufrechterhalten worden ist;

b) im Ausspruch über die Maßregel sowie im Ausspruch über den Vorwegvollzug;

c) im Adhäsionsausspruch, soweit der Angeklagte verpflichtet worden ist, den Nebenkläger von der Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten freizustellen; insoweit wird von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten V. wegen besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt; von einer nachträglichen Einbeziehung der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Wuppertal vom 28. Mai 2018 hat es abgesehen. Darüber hinaus hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass drei Jahre der Freiheitsstrafe vorweg zu vollziehen sind. Schließlich hat das Landgericht eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Hiergegen richtet sich die auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, die den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg hat. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

1. Der Strafausspruch weist zur Gesamtstrafenbildung durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Das Landgericht hat dem noch nicht erledigten Strafbefehl des Amtsgerichts Wuppertal vom 28. Mai 2018 zwar zu Recht Zäsurwirkung beigemessen. Es hat jedoch verkannt, dass nicht nur die verfahrensgegenständliche Tat (Tatzeit: 11. November 2017), sondern auch die dem ? nach den Feststellungen ebenfalls noch nicht erledigten ? Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 zugrundeliegende Tat (Tatzeit: 22. Oktober 2017) vor Erlass des Strafbefehls des Amtsgerichts Wuppertal vom 28. Mai 2018 begangen wurde. Damit lag hinsichtlich aller Strafen aus allen drei Verurteilungen eine Gesamtstrafenlage vor; das Landgericht wäre daher gemäß § 55 StGB zur nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe verpflichtet gewesen.

b) Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Wuppertal vom 28. Mai 2018 gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert hat bestehen lassen, halten aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

c) Da es sich um reine Wertungsfehler handelt, können die zugrunde liegenden Feststellungen bestehen bleiben. Ergänzende, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen bleiben möglich.

2. Der Rechtsfehler bei der Gesamtstrafenbildung zieht die Aufhebung der Maßregelanordnung (§ 64 StGB) sowie die Anordnung des Vorwegvollzugs (§ 67 Abs. 2 Satz 2 StGB) nach sich.

Gegen den Angeklagten wurde bereits in dem - gesamtstrafenfähigen - Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 neben der Freiheitsstrafe eine Maßregel gemäß § 64 StGB verhängt, die - soweit ersichtlich - noch nicht erledigt ist.

Ist - wie hier - die Anlasstat vor der früheren Verurteilung des Angeklagten begangen, haben die Grundsätze nachträglicher Gesamtstrafenbildung (§ 55 Abs. 2 StGB) Vorrang vor der Regelung des § 67f StGB (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 23. November 2017 - 4 StR 477/17, NStZ 2018, 526, 527; vom 9. November 2017 - 1 StR 456/17, StV 2019, 272, 273; vom 27. September 2016 - 5 StR 417/16, StV 2017, 575, und vom 25. November 2010 - 3 StR 406/10, NStZ-RR 2011, 105, 106; Urteil vom 10. Dezember 1981 - 4 StR 622/81, BGHSt 30, 305). Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird daher zu prüfen haben, ob die in dem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 getroffene Maßregelanordnung aufrechtzuerhalten ist.

3. Die Entscheidung über den Adhäsionsantrag des Neben- und Adhäsionsklägers begegnet rechtlichen Bedenken, soweit das Landgericht den Angeklagten verurteilt hat, den Nebenkläger von der Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe eines Betrages von 1.171,76 € freizustellen. Zur Begründung hat das Landgericht lediglich ausgeführt, dass die Höhe des aus § 823 Abs. 1 BGB folgenden Anspruchs sich nach der Höhe der Schmerzensgeldforderung richte. Diese knappen Ausführungen erlauben dem Senat nicht die Nachprüfung, ob der insoweit zuerkannte Anspruch auf Freistellung dem Grunde und der Höhe nach rechtsfehlerfrei bestimmt worden ist. Der Senat hat daher insoweit gemäß § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO von einer Entscheidung abgesehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1244

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 72; StV 2021, 40

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner