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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1245

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 670/19, Beschluss v. 27.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1245


BGH 4 StR 670/19 - Beschluss vom 27. August 2020 (LG Essen)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Vorrang vor den Regelungen über die mehrfache Anordnung der Maßregel); Reihenfolge der Vollstreckung (Entbehrlichkeit einer Entscheidung über den Vorwegvollzug).

§ 55 StGB; § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB; § 67f StGB;

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für eine - erneute ? Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt besteht kein Raum, wenn die jetzt abgeurteilte Tat vor der früheren, die Maßregel anordnenden Verurteilung des Angeklagten begangen wurde. In diesem Fall haben die Grundsätze der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§ 55 StGB) Vorrang vor der Regelung des § 67f StGB.

2. In Fällen, in denen nachträglich eine so hohe Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird, dass eine nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB bemessene, am Halbstrafenzeitpunkt orientierte Anordnung des Vorwegvollzugs zu einer Herausnahme des Angeklagten aus dem Maßregelvollzug führen müsste, kann entgegen der Regel des § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB auf eine Entscheidung über einen Vorwegvollzug verzichtet werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 8. April 2019, soweit es ihn betrifft,

a) wegen eines offensichtlichen Fassungsversehens dahin berichtigt, dass der Angeklagte unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 - 26 KLs 10/18 - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt ist;

b) im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt aufgehoben; der Ausspruch entfällt;

c) dahin ergänzt, dass die im Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 angeordnete Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt aufrechterhalten wird; d) aufgehoben, soweit der Vorwegvollzug der Strafe angeordnet worden ist; e) im Adhäsionsausspruch aufgehoben, soweit der Angeklagte verpflichtet worden ist, den Nebenkläger von der Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten freizustellen; insoweit wird von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen besonders schweren Raubes unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. September 2018 - 26 KLs 10/18 - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Darüber hinaus hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass drei Jahre der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vorweg zu vollziehen sind. Schließlich hat das Landgericht eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Der Senat hat den Urteilstenor - der Anregung des Generalbundesanwalts folgend - im Hinblick auf das Datum des Urteils des Landgerichts Wuppertal berichtigt, das vom 12. September 2018 und nicht vom 12. März 2018 datiert.

2. Darüber hinaus hat der Senat - in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO die im Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. August 2018 angeordnete und noch nicht erledigte Maßregel nach § 64 StPO aufrecht erhalten und die (erneute) Maßregelanordnung aufgehoben.

Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB auch im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegen. Bei dieser Sachlage war, weil der Angeklagte die dem hiesigen Verfahren zugrundeliegende Tat am 12. November 2017 und damit vor der Vorverurteilung durch das Landgericht Wuppertal begangen hat, die in jenem Urteil angeordnete und derzeit vollzogene Maßregel gemäß § 55 Abs. 2 StGB aufrecht zu erhalten. Für eine - erneute ? Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt bestand kein Raum, weil die jetzt abgeurteilte Tat vor der früheren, die Maßregel anordnenden Verurteilung des Angeklagten begangen wurde. In diesem Fall haben die Grundsätze der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§ 55 StGB) Vorrang vor der Regelung des § 67f StGB (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 23. November 2017 - 4 StR 477/17, NStZ 2018, 526; vom 9. November 2017 - 1 StR 456/17, StV 2019, 272, 273; vom 27. September 2016 - 5 StR 417/16, StV 2017, 575, und vom 25. November 2010 - 3 StR 406/10, NStZ-RR 2011, 105; Urteil vom 10. Dezember 1981 - 4 StR 622/81, BGHSt 30, 305).

3. Auch die Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB kann nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob entgegen der Regel des § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB auf eine Anordnung des Vorwegvollzugs verzichtet werden kann, obwohl hierzu Anlass bestand.

In Fällen, in denen nachträglich eine so hohe Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird, dass eine nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB bemessene, am Halbstrafenzeitpunkt orientierte Anordnung des Vorwegvollzugs - wie hier - zu einer Herausnahme des Angeklagten aus dem Maßregelvollzug führen müsste, kann entgegen der Regel des § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB auf eine Entscheidung über einen Vorwegvollzug verzichtet werden (BGH, Beschlüsse vom 23. November 2017 - 4 StR 477/17, NStZ 2018, 526, 527; vom 2. August 2017 - 4 StR 261/17, StV 2019, 271 und vom 13. November 2018 - 3 StR 243/18, NStZ-RR 2019, 208 f.).

Da es sich um einen reinen Wertungsfehler handelt, bedarf es der Aufhebung der Feststellungen nicht. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht kann ergänzende Feststellungen insbesondere zum Stand der Therapie treffen.

4. Die Entscheidung über den Adhäsionsantrag des Neben- und Adhäsionsklägers begegnet rechtlichen Bedenken, soweit das Landgericht den Angeklagten verurteilt hat, den Nebenkläger von der Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe eines Betrages von 1.029,35 € freizustellen. Zur Begründung hat das Landgericht lediglich ausgeführt, dass die Höhe des aus § 823 Abs. 1 BGB folgenden Anspruchs sich nach der Höhe der Schmerzensgeldforderung richte. Diese knappen Ausführungen erlauben dem Senat nicht die Nachprüfung, ob der insoweit zuerkannte Anspruch auf Freistellung dem Grunde und der Höhe nach rechtsfehlerfrei bestimmt worden ist. Der Senat hat daher insoweit gemäß § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO von einer Entscheidung abgesehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1245

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 72; StV 2021, 40

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner