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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1014

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 638/19, Beschluss v. 10.06.2020, HRRS 2020 Nr. 1014


BGH 4 StR 638/19 - Beschluss vom 10. Juni 2020 (LG Landau)

Grundsatz der freien richterlicher Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Zwar ist es allein Sache des Tatgerichts, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht hat dessen Entscheidung daher grundsätzlich hinzunehmen. Seiner Prüfung unterliegt es aber, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten. Im Fall einer Verurteilung liegt ein Rechtsfehler unter anderem dann vor, wenn die Beweiswürdigung nicht auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht, so dass die vom Tatgericht gezogene Schlussfolgerung sich nur als Annahme darstellt oder als Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das Urteil des Landgerichts Landau (Pfalz) vom 8. Juli 2019, auch soweit es den nicht mehr revidierenden Mitangeklagten A. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und gegen ihn die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 3.000 Euro angeordnet. Den nach Revisionsrücknahme nicht mehr revidierenden Mitangeklagten A. hat es wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten W. führt zur Aufhebung des Urteils; die Entscheidung ist auf den Mitangeklagten A. gemäß § 357 StPO zu erstrecken.

I.

Nach den Feststellungen veranlasste der Mitangeklagte A. in Absprache mit dem Angeklagten W. den Geschädigten K. dazu, sich mit ihm auf einem Parkplatz zu treffen. Nachdem der Geschädigte zu dem Mitangeklagten in dessen Pkw gestiegen war, fuhr der Angeklagte W. mit seinem Pkw vor, stieg aus und gab mit einem Revolver - bei dem es sich nicht ausschließbar „um eine Attrappe“ handelte - einen Schuss in Richtung des Bodens ab. Damit wollte der Angeklagte W. den Geschädigten einschüchtern, ihm Angst um sein Leben bereiten und seine im Folgenden geäußerten Forderungen durchsetzen. Tatsächlich hielt K. den Revolver für echt und hatte Angst um sein Leben. Als der Angeklagte W. den Geschädigten dazu aufforderte, in sein Fahrzeug zu steigen, kam K. dem unter dem Eindruck des Schusses nach und setzte sich auf eine weitere Anweisung des Angeklagten W. hin auf die Rücksitzbank. Dort nahm auch der Angeklagte W. Platz. Der Mitangeklagte A. setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr mit dem Pkw durch L. Dabei war es K. nicht möglich, das Fahrzeug zu verlassen. Auch wirkte die mit der Schussabgabe verbundenen Drohung fort. All dies war dem Angeklagten W., der den Revolver auch weiterhin bei sich trug, bewusst. Da sich K. dem ungehinderten Einfluss des Angeklagten W. ausgesetzt sah und nach längerer Diskussion davon überzeugt war, dass er sich aus der Lage nicht anders würde befreien können, schlug er nun selbst vor, in der Filiale einer Bank Geld abzuheben und dem Angeklagten W. zu geben. Dabei stand er immer noch unter dem Eindruck des Einsatzes des täuschend echt aussehenden Revolvers. Daraufhin fuhren die Angeklagten mit K. zu einer Bank, wo dieser 3.000 Euro abhob und dem Angeklagten W. übergab.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten W. wegen schwerer räuberischer Erpressung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die hierzu getroffenen Feststellungen auf einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung beruhen.

1. Die Strafkammer ist in Bezug auf das eigentliche Tatgeschehen von einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ausgegangen, weil sich die Angeklagten hierzu entweder nicht geäußert (W.) oder angegeben haben, von einer Erpressung nichts zu wissen (A.) und deshalb insoweit nur die Bekundungen des Geschädigten zur Verfügung standen (UA 26). Dessen Angaben, er sei nach dem Schuss mit einer Schreckschusswaffe in Richtung Boden und dem Umsteigen in das Fahrzeug des Angeklagten W. von diesem über einen längeren Zeitraum mit einem Teppichschneidemesser bedroht worden und habe deshalb der an ihn gerichteten Geldforderung nachgegeben, ist die Strafkammer nur hinsichtlich der Schussabgabe gefolgt. Weder den behaupteten Messereinsatz, noch das Vorliegen einer „konkreten Bedrohung“ hat sie deshalb als erwiesen angesehen. Warum die Strafkammer zu der Überzeugung gelangt ist, der Geschädigte sei auf die von ihr festgestellte Weise zu der Beschaffung von 3.000 Euro genötigt worden, hat sie in der Folge nicht mehr näher begründet.

2. Zwar ist es allein Sache des Tatgerichts, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht hat dessen Entscheidung daher grundsätzlich hinzunehmen. Seiner Prüfung unterliegt es aber, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten. Im Fall einer Verurteilung liegt ein Rechtsfehler unter anderem dann vor, wenn die Beweiswürdigung nicht auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht, so dass die vom Tatgericht gezogene Schlussfolgerung sich nur als Annahme darstellt oder als Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2020 - 5 StR 529/19 Rn. 4; Beschluss vom 23. Januar 2018 - 2 StR 238/17, NStZ-RR 2018, 119 mwN).

3. Ein solcher Rechtsfehler liegt hier vor. Denn die Beweiswürdigung bietet keinen tragfähigen Beleg für die Überzeugung der Strafkammer, der Geschädigte habe sich aufgrund der Fortwirkung der mit der Schussabgabe verbundenen Drohung dazu genötigt gesehen, dem Angeklagten W. 3.000 Euro auszuhändigen. Der dafür als einziges unmittelbares Beweismittel zur Verfügung stehende Geschädigte hat einen anderen Ereignisablauf (Schusswaffe als Schreckschussrevolver wahrgenommen, Geldbeschaffung nur aus Angst vor der Bedrohung mit einem Messer) geschildert. Nach der Zurückweisung dieser Einlassung zum Nötigungsgeschehen ist es nicht nachvollziehbar, worin die Strafkammer die objektive Tatsachengrundlage für den von ihr stattdessen angenommen Nötigungszusammenhang und einen entsprechenden Vorsatz des Angeklagten gesehen hat.

III.

Die Aufhebung bezieht sich notwendig auch auf die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen Freiheitsberaubung. Sie ist, obgleich der zur Aufhebung führende Rechtsfehler die Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und nicht unmittelbar die Anwendung des Strafgesetzes betrifft, nach § 357 Satz 1 StPO auf den wegen Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit Beihilfe zur Freiheitsberaubung verurteilten nicht mehr revidierenden Mitangeklagten A. zu erstrecken (vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2018 - 2 StR 98/18, wistra 2019, 183 Rn. 14; Beschluss vom 9. Juni 2011 - 2 StR 153/11 Rn. 4, Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 357 Rn. 8; Knauer/Kudlich in MünchKomm-StPO, 1. Aufl., § 357 Rn. 21).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1014

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner