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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 459

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 617/19, Beschluss v. 18.12.2019, HRRS 2020 Nr. 459


BGH 4 StR 617/19 - Beschluss vom 18. Dezember 2019 (LG Bielefeld)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefahrenprognose; Darlegungsanforderungen bei Verneinung der Gefahrenprognose).

§ 63 Satz 1 StGB; § 63 Satz 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Darüber hinaus muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, dass der Beschuldigte infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen eine schwere Störung des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt.

2. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Erreicht die Anlasstat den erforderlichen Schweregrad nicht, so gelten gemäß § 63 Satz 2 StGB verschärfte Darlegungsanforderungen; die besonderen Umstände im Sinne dieser Vorschrift müssen die schmale Tatsachenbasis infolge des anders gelagerten Anlassdelikts ausgleichen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 26. Juli 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte, der seit 2015 zeitweise in psychiatrischen Kliniken und dem PsychKG untergebracht war, an einer paranoiden Schizophrenie mit Wahnerleben und Aggressivität. Am 16. Januar 2019 entschloss er sich, ein in seinem Schlafzimmer stehendes Sofa „wegzubrennen“. Vor der Brandlegung vergewisserte der Beschuldigte sich durch Entfernen eines Stücks Tapete, dass die Wand hinter dem Sofa „aus Stein“ und daher „nicht brennbar“ sei. Anschließend montierte er einen Rauchmelder ab, verbrachte eine ihm als Bett dienende Matratze in das angrenzende Wohnzimmer, damit sie den Rauchgeruch nicht aufnehme, verschloss das Schafzimmerfenster und zündete das Sofa mit einem Feuerzeug an, bis es selbsttätig brannte. Daraufhin verließ er die Wohnung.

Das Feuer wurde rasch entdeckt und konnte gelöscht werden, bevor es sich ausbreitete; infolge der Brandlegung entstanden an den Wänden des Schlafzimmers großflächige und starke Verrußungen.

2. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang im Wesentlichen auf die Angaben des Beschuldigten gestützt, denen es mit Ausnahme seiner Angaben zum Motiv seines Handelns gefolgt ist. Hinsichtlich des Tatmotivs hielt es das Landgericht für möglich, dass der Beschuldigte - wie er es unmittelbar nach der Tat gegenüber Polizeibeamten angegeben hatte ? das Sofa für „magic“ gehalten, es aufgrund wahnhaften Erlebens als bedrohlich empfunden und es deshalb angezündet habe; ebenso gut möglich sei jedoch, dass er - wie er in der Hauptverhandlung angegeben hat ? das Sofa in Brand gesteckt habe, weil er allgemein mit seiner Wohnsituation unzufrieden gewesen sei und ihm das Sofa missfiel.

3. Das Landgericht hat die Tat als Vergehen der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) gewürdigt, weil die Wände des Schlafzimmers großflächig mit einer Rußschicht bedeckt gewesen seien. Eine Brandstiftung im Sinne des § 306a Abs. 1 StGB liege nicht vor. Zwar sei das Schlafzimmer zu Wohnzwecken unbrauchbar geworden; hierbei handele es sich jedoch - bezogen auf das Gebäude - nicht um einen wesentlichen Teil, da die Wohnung insgesamt zu Wohnzwecken weiter nutzbar gewesen sei.

4. Sachverständig beraten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich zum Tatzeitpunkt in einer akuten Phase seiner paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie befunden habe und seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben gewesen sei (§ 20 StGB).

II.

Die Unterbringungsanordnung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Darüber hinaus muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, dass der Beschuldigte infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen eine schwere Störung des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306).

Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. September 2019 - 4 StR 24/19, NStZ-RR 2020, 9, 10; vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395). Erreicht die Anlasstat - wovon das Landgericht hier ausgegangen ist - den erforderlichen Schweregrad nicht, so gelten gemäß § 63 Satz 2 StGB verschärfte Darlegungsanforderungen; die besonderen Umstände im Sinne dieser Vorschrift müssen die schmale Tatsachenbasis infolge des anders gelagerten Anlassdelikts ausgleichen (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2017 - 3 StR 385/17, NStZ-RR 2018, 86, 87; Beschlüsse vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 7. März 2017 - 5 StR 609/16, NStZ-RR 2017, 171).

2. Den hieraus folgenden Darlegungsanforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Es fehlt bereits an einer hinreichend konkreten Darstellung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Anlasstat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 4. August 2016 - 4 StR 230/16, NStZ-RR 2017, 86, 87 und vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2013, 98 f.).

Das Landgericht hat sich ohne eigene Begründung dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, dessen Ausführungen es in den Urteilsgründen im Wesentlichen wie folgt wiedergegeben hat:

„Im Rahmen der Tatausführung habe“ der Beschuldigte „ziellos agiert, es sei deutlich geworden, dass er keine rationale Erklärung für die Tat habe - egal, ob Motiv für den Brand Magie gewesen sei oder aber das Sofa ihn aus anderen Gründen gestört habe. Ursache hierfür seien ein parathymes Erleben der Ausgangssituation sowie eine Affektverflachung, beides Symptome der Psychose. Der Beschuldigte sei sich der Tragweite seines Handelns nicht bewusst gewesen, seine Einsichtsfähigkeit sei krankheitsbedingt aufgehoben gewesen.“ Die sachverständige Wertung, der Beschuldigte habe „ziellos agiert“, ist vor dem Hintergrund der vom Landgericht getroffenen Feststellungen zu seinem Verhalten in der Tatsituation nicht nachvollziehbar. Es fehlt an einer Wiedergabe und Auseinandersetzung mit den zu dieser sachverständigen Wertung führenden Anknüpfungstatsachen. Darüber hinaus bleibt unklar, inwieweit sich die vom Sachverständigen diagnostizierte krankheitsbedingte „Affektverflachung“ auf die Fähigkeit des Beschuldigten ausgewirkt haben könnte, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Auch findet sich keine nachvollziehbare Erklärung für die Annahme eines „parathymen Erlebens“ des Beschuldigten in der Tatsituation.

b) Die Gefahrenprognose ist ebenfalls nicht tragfähig begründet.

aa) Das Landgericht hat - dem psychiatrischen Sachverständigen folgend - angenommen, dass unter Berücksichtigung der Schwere der Störung sowie des bisherigen Lebensweges des Beschuldigten künftige Taten mit „bestimmter Wahrscheinlichkeit zu erwarten“ seien. Dabei hat es die Ausführungen des Sachverständigen dahin wiedergegeben, dass die Bereitschaft des Beschuldigten zur Begehung von Straftaten bereits unabhängig von seiner Erkrankung hoch sei; krankheitsbedingt „sinke die Hemmschwelle jedoch weiter ab, die Anlässe würden banaler und für einen gesunden Menschen völlig unverständlich.“ Er - der Sachverständige - halte es für wahrscheinlich, dass der Beschuldigte, wenn er auf Grenzen oder Schwierigkeiten stoße, aggressiv reagiere und aufgrund seiner „krankheitsbedingten läppischen Grundhaltung die Folgen seines Handelns verkenne und schwere Straftaten, insbesondere Körperverletzungsdelikte, begehe.“ Demgegenüber fehle es an Schutzmechanismen; zudem sei der Beschuldigte nicht krankheitseinsichtig. Diesen sachverständigen Ausführungen hat sich das Landgericht wiederum ohne nähere eigene Begründung angeschlossen und lediglich hinzugefügt, dass sich das Krankheitsbild und die Rahmenbedingungen weiter verschlechtert hätten und die vom Beschuldigten nunmehr geäußerte Krankheits- und Behandlungseinsicht wenig belastbar erscheine.

bb) Damit ist den bestehenden - strengen ? Darlegungsanforderungen nicht genügt. Seine Einschätzung, dass der Beschuldigte über die als Vergehen der Sachbeschädigung gewertete Anlasstat hinaus künftig krankheitsbedingt Körperverletzungsdelikte begehen könnte, ist lediglich behauptet, argumentativ jedoch nicht belegt. Soweit in den Urteilsgründen Vorstrafen geschildert sind, lassen die Feststellungen nicht erkennen, ob auch diese Taten auf der Erkrankung des Beschuldigten beruhen (vgl. zu diesem Erfordernis BGH, Beschlüsse vom 26. September 2019 - 4 StR 24/19, NStZ-RR 2020, 9, 10; vom 10. Mai 2016 - 4 StR 185/16, StV 2016, 719, 720; vom 8. August 2007 - 2 StR 296/07, StraFo 2007, 468). Darüber hinaus fehlt es an einer konkreten Erörterung der Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung des Beschuldigten, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition des Beschuldigten zur Begehung von Delikten - insbesondere Körperverletzungsdelikten - belegt. Schließlich fehlt es an der Erörterung der krankheitsbedingten Entwicklung des Beschuldigten seit Begehung der verfahrensgegenständlichen Anlasstat.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 459

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 103; StV 2021, 220

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner