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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 583

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 596/19, Beschluss v. 24.03.2020, HRRS 2020 Nr. 583


BGH 4 StR 596/19 - Beschluss vom 24. März 2020 (LG Arnsberg)

Versuch; Rücktritt (Urteilsfeststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten).

§ 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Soweit sich den Urteilsfeststellungen das entsprechende Vorstellungsbild des Angeklagten, das zur revisionsrechtlichen Prüfung des Vorliegens eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch unerlässlich ist, nicht hinreichend entnehmen lässt, kann das Urteil einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht standhalten.

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag und seine Kosten nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 4. Juli 2019 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Ferner beantragt er Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist. Der Wiedereinsetzungsantrag und die Revision des Angeklagten haben in vollem Umfang Erfolg.

1. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 3. Februar 2020 dargelegten Gründen zu entsprechen.

2. Während die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht durchgreifen, führt die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Die Ausführungen des Landgerichts zum Rücktritt vom versuchten Mord halten einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts schlich sich der Angeklagte gegen 3.00 Uhr nachts in das Zimmer des A., der auf dem Bauch liegend auf einer Couch schlief. In Tötungsabsicht versetzte er ihm mit einem Fleischermesser mit zwanzig Zentimeter langer Klinge einen senkrecht geführten, wuchtigen Stich in den Kopf. Das Messer drang oberhalb des linken Ohres in den Schädel ein. Der Geschädigte wurde hierdurch aus dem Schlaf gerissen, schrie auf und fiel auf den Boden. Eine Verteidigung gegen den Angeklagten war ihm nicht möglich. Der Angeklagte beugte sich über ihn und sagte „Fühlst du dich wie Chef?“. Dem Angeklagten war bewusst, dass er A. schwer verletzt hatte, er ging jedoch davon aus, diesen (noch) nicht tödlich verletzt zu haben. Die Zeugin S., die durch die Schreie des A. erwacht war, eilte aus dem Nachbarzimmer zu diesem und zog den Angeklagten vom Geschädigten weg. Nun kam auch der Zeuge M. hinzu und schob den Angeklagten weiter auf den Flur. Der Angeklagte musste erkennen, dass er seinen Tatplan, den Geschädigten A. zu töten, aufgrund der anwesenden Zeugen nicht mehr würde umsetzen können.

Das Landgericht hat einen Rücktritt vom versuchten Mord verneint, weil der unbeendete Versuch aus Sicht des Angeklagten fehlgeschlagen sei. Aus seiner Sicht hätten ihm, nachdem der Geschädigte zu schreien anfing und die Zeugen S. und M. hinzukamen und ihn wegzogen, keine Mittel mehr zur Verfügung gestanden, mit denen er die Tötung des Geschädigten erreichen konnte.

b) Die knappen Ausführungen des Landgerichts zum Rücktritt vom versuchten Mord leiden an einem durchgreifenden Erörterungsmangel. Denn das Landgericht setzt sich nicht hinreichend mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung - dem sogenannten Rücktrittshorizont - auseinander. Soweit sich den Urteilsfeststellungen das entsprechende Vorstellungsbild des Angeklagten, das zur revisionsrechtlichen Prüfung des Vorliegens eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch unerlässlich ist, nicht hinreichend entnehmen lässt, kann das Urteil einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht standhalten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18, NStZ-RR 2018, 169; vom 23. August 2017 - 5 StR 303/17, NStZ-RR 2018, 10; vom 23. November 2016 - 4 StR 471/16, JuS 2017, 550; vom 11. März 2014 - 1 StR 735/13, NStZ 2014, 396; vom 29. September 2011 - 3 StR 298/11, NStZ 2012, 263 und vom 11. Februar 2003 - 4 StR 8/03, StraFo 2003, 206; Urteil vom 19. März 2013 - 1 StR 647/12, NStZ-RR 2013, 273).

Im vorliegenden Fall hat das Landgericht schon nicht festgestellt, dass der über den Geschädigten gebeugte Angeklagte, der nach Beibringung des für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts maßgeblichen Stichs nicht von einer tödlichen Verletzung ausging, überhaupt weitere Tötungshandlungen vornehmen wollte. Die Zeugin S., die herbeieilte, als der Angeklagte über den Geschädigten gebeugt stand, hat offenbar keine weiteren Stichversuche bemerkt.

Es erscheint deshalb nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte bei Eintreffen der Zeugen am Tatort seinen Tatvorsatz bereits aufgegeben und von einem Weiterhandeln freiwillig Abstand genommen hatte. Angesichts der ausdrücklichen Feststellung der Strafkammer, dass der Versuch aus Sicht des Angeklagten trotz der Schwere der zugefügten Kopfverletzung noch nicht beendet war, hätte dies einen strafbefreienden Rücktritt begründet. Die Erwägung des Landgerichts, der Versuch sei fehlgeschlagen, weil dem Angeklagten keine Mittel zur Tatvollendung mehr zur Verfügung standen, als die Zeugen S. und M. ihn vom Geschädigten wegzogen, setzt nicht, wie erforderlich, zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt an. Es erschließt sich aus den Urteilsgründen insoweit insbesondere nicht, ob der Angeklagte bis zum Eintreffen der Zeugen S. und M. - dieser eilte aus dem Obergeschoss des Hauses herbei -, die Möglichkeit hatte, erneut mit dem Messer zuzustechen. Nach den bisherigen Feststellungen ist auch nicht sicher ausgeschlossen, dass der mit einem Messer bewaffnete Angeklagte selbst nach Eingreifen der genannten Zeugen nach seinem Vorstellungsbild noch weitere Ausführungshandlungen hätte vornehmen können (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 22. August 2017 - 3 StR 299/17, NStZ-RR 2017, 335). Ob der Angeklagte nach Zufügung des Stichs die Tötung des Opfers noch für möglich hielt und freiwillig die weitere Tatausführung aufgab oder ob er sich wegen des Erscheinens der Zeugen S. und M. außerstande sah, sein Ziel noch zu erreichen, hätte das Landgericht daher näher erörtern müssen.

Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes; erfasst wird auch die an sich rechtsfehlerfreie tateinheitliche Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung. Dies entzieht ohne Weiteres dem Strafausspruch die Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 583

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner