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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 684

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 434/19, Beschluss v. 29.01.2020, HRRS 2020 Nr. 684


BGH 4 StR 434/19 - Beschluss vom 29. Januar 2020 (LG Freiburg)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit; Darlegungsanforderungen in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 16. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung, Körperverletzung in zwei Fällen und Hausfriedensbruchs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, ihn vom Vorwurf eines weiteren Hausfriedensbruchs freigesprochen und wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwei Monate der Strafe als vollstreckt erklärt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner allgemein auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernten sich die Nebenklägerin und der Angeklagte im Sommer 2015 kennen. In der Folgezeit trafen sie sich gelegentlich, wobei es auch zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr einschließlich sadomasochistischer Praktiken kam; eine feste Beziehung bestand zwischen ihnen nicht.

An einem Wochenende im Juli 2015 hielt sich die Nebenklägerin in der Wohnung des Angeklagten auf. Nachdem beide einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hatten, schlug der Angeklagte der Nebenklägerin unvermittelt mehrfach gegen den Oberkörper, übte mit seinen Oberschenkeln Druck auf ihren Hals aus, den er zwischen seine Oberschenkel geklemmt hatte, und würgte sie mit seinen Händen (Fall II.B.1.). Bei einem weiteren Treffen Ende Juli oder Anfang August 2015 in der Wohnung der Nebenklägerin schlug er sie mehrfach mit den Fäusten, stieß ihren Kopf gegen eine Wand, trat ihr gegen den Körper, würgte sie mit beiden Händen, bis ihr schwarz vor Augen wurde, und drohte ihr an, sie zu töten (Fall II.B.2.). Am 22. August 2015 hielt sich der Angeklagte erneut bei der Nebenklägerin auf. Sie teilte ihm mit, dass sie keine weitere Beziehung mit ihm haben wolle. Hiermit war er nicht einverstanden, schlug ihr unvermittelt mehrfach gegen den Oberkörper und nahm sie erneut in eine „Beinschere“ (Fall II.B.3.). Am 13. November 2015 suchte der Angeklagte wiederum die Wohnung der Nebenklägerin auf. Aus Angst vor erneuten Gewalttätigkeiten erlaubte sie ihm, über Nacht bei ihr im Zimmer zu bleiben. Am nächsten Morgen forderte sie ihn mehrfach vergeblich auf, die Wohnung zu verlassen, was er aber nicht tat (Fall II.B.4.).

Als die Nebenklägerin am Abend des 9. Januar 2016 im Begriff war, ihre Wohnung zu verlassen, erschien der Angeklagte unerwartet vor ihrer Wohnungstür, drängte sie in die Wohnung zurück und nahm ihr die Schlüssel und das Mobiltelefon aus der Hand. Er schloss die Wohnungstür ab, ließ die Rollläden herab und machte ihr Festnetztelefon unbrauchbar. Sodann forderte er sie auf, mit ihm den Geschlechtsverkehr auszuüben. Die Nebenklägerin wollte dies nicht, ließ es aber ohne Gegenwehr geschehen, weil der Angeklagte bereits bei früheren Gelegenheiten gegen sie Gewalt angewandt hatte, sie ihm in der verschlossenen Wohnung hilflos ausgeliefert war und sie Angst vor neuerlichen Gewalttätigkeiten hatte. Der Angeklagte übte dann mit der Nebenklägerin gegen ihren Willen den vaginalen und analen Geschlechtsverkehr aus. Anschließend gelang ihr die Flucht über eine Terrassentür (Fall II.B.6.).

Das Landgericht hat den die Tatvorwürfe bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen aufgrund der Aussage der Nebenklägerin verurteilt, die es für glaubhaft erachtet hat.

2. Das angefochtene Urteil war aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) - sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; vom 27. Juli 1994 - 3 StR 225/94, StV 1994, 580).

Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15, juris Rn. 11; Beschlüsse vom 30. August 2012 - 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; vom 12. November 1998 - 4 StR 511/98, NStZ-RR 1999, 139). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin ist nicht ausreichend belegt.

aa) Aus den in der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils - wenn auch nur in fragmentarischer Form - mitgeteilten Angaben der Nebenklägerin ergibt sich, dass ihre Angaben zu der Tat vom 9. Januar 2016 bei verschiedenen Befragungen und Vernehmungen zum Teil erheblich voneinander abwichen. So gab sie bei ihrer ersten Befragung durch einen Polizeibeamten am Tattag zunächst an, der Angeklagte habe ihr den Schlüssel und das Handy abgenommen. Sodann teilte sie mit, sie habe dem Angeklagten diese Gegenstände selbst übergeben, nachdem er sie bedroht habe. Anschließend schilderte sie, der Angeklagte habe ihr drei Ohrfeigen gegeben, und teilte erst hiernach dem Beamten mit, sie sei vergewaltigt worden.

Bei einer späteren polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren gab die Nebenklägerin an, der Angeklagte habe ihr gedroht, er werde sie „tot machen und umbringen“, wenn sie ihm nicht ihr Smartphone und ihren Schlüssel aushändige, außerdem werde er „ihre Eltern fertigmachen und ihre Freunde verprügeln“, wenn sie etwas unternehme, das ihm schade. Auch erklärte die Nebenklägerin bei dieser Vernehmung, der Angeklagte habe ihr mindestens sechs Ohrfeigen versetzt.

In der Hauptverhandlung schließlich bekundete die Nebenklägerin, es habe bei der Tat vom 9. Januar 2016 weder Drohungen noch Körperverletzungen gegeben. Weiter gab sie nun erstmals an, der Angeklagte habe ihr bei dieser Tat unmittelbar nach Betreten der Wohnung ein Messer an den Hals gehalten. Auf mehrfachen Vorhalt erklärte sie dann, sie sei sich im Hinblick auf den Einsatz eines Messer nicht mehr sicher und könne sich auch täuschen.

bb) Diese erheblichen Abweichungen zwischen den Angaben der Nebenklägerin bei ihren verschiedenen Vernehmungen werden in der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nur unzulänglich erörtert. Das Landgericht hat - ohne weitere Differenzierung - Abweichungen im Aussageverhalten der Nebenklägerin lediglich damit begründet, dass es zwischen ihr und dem Angeklagten über einen längeren Zeitraum zu zahlreichen Treffen und Geschehnissen gekommen sei und die Taten bereits mehr als drei Jahre zurücklägen; vor diesem Hintergrund seien Irrtümer der Zeugin nachvollziehbar (UA S. 12).

Diese Erwägungen der Strafkammer greifen indes schon deshalb zu kurz, weil die Nebenklägerin nicht erst in der Hauptverhandlung, sondern bereits bei ihren tatzeitnahen Vernehmungen inkonstante Angaben zu dem Tatgeschehen vom 9. Januar 2016 gemacht hatte, etwa zu der Anzahl der von ihr erlittenen Schläge und zu der Frage, ob sich der Angeklagte den Besitz an ihrem Schlüssel und ihrem Mobiltelefon unter dem Einsatz von Nötigungsmitteln verschaffte.

Aber auch soweit das Landgericht eine Verschleifung von Erinnerungen der Nebenklägerin in Betracht zieht, erweisen sich seine Erwägungen als lückenhaft. Denn es lässt außer Betracht, dass es sich bei dem Tatgeschehen vom 9. Januar 2016 gerade nicht um ein gleichförmiges Geschehen innerhalb einer Serie ähnlicher Taten handelt, sondern es sich nach Art und Schwere von den weiteren festgestellten Taten wesentlich unterscheidet; denn nur bei dieser Tat kam es zum Verlust von Wertgegenständen, zu einem Einsperren der Nebenklägerin in ihrer eigenen Wohnung und insbesondere zu einem nichteinvernehmlichen Geschlechtsverkehr.

Schließlich setzt sich die Strafkammer auch nicht ausreichend mit dem Umstand auseinander, dass die Nebenklägerin erstmals in der Hauptverhandlung bekundete, der Angeklagte habe sie bei der Tat vom 9. Januar 2016 mit einem Messer bedroht und ihr dieses an den Hals gehalten. Zwar hat das Landgericht erkannt, dass es sich bei dieser Bekundung der Nebenklägerin um eine Aggravation handelte. Es hat diese erhebliche Aggravation aber lediglich unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen Falschbelastungstendenz der Nebenklägerin erörtert und ausgeführt, gegen eine solche Falschbelastungstendenz der Zeugin spreche, dass sie sich in der Hauptverhandlung im Zusammenhang mit dieser Tat auch an für den Angeklagten negative Umstände, die sie noch im Ermittlungsverfahren angegeben habe, nicht mehr habe erinnern können (UA S. 13).

Eine Erklärung für diese erhebliche Aggravation findet sich in dem angefochtenen Urteil nicht. Ob bei einer Tat ein Messer zum Einsatz kam, ist aber naheliegend eine besonders nachhaltig im Gedächtnis haftende Einzelheit der Tatbegehung; vorliegend gilt dies umso mehr, als nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen bei keiner der anderen Taten ein Messer verwendet wurde. Werden zu einem derart gravierenden Umstand der Tatbegehung unterschiedliche Angaben durch das Tatopfer gemacht, bedürfen diese der Erklärung und einer nachvollziehbaren Einordnung in das Beweisgebäude. Dies lässt das angefochtene Urteil vermissen.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Tatgericht bei Einhaltung seiner Erörterungspflichten zu einer abweichenden Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sowohl bezüglich des Geschehens vom 9. Januar 2016 als auch im Hinblick auf die weiteren festgestellten Taten gelangt wäre. Der Senat hebt deshalb das Urteil insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht eine insgesamt stimmige Beweiswürdigung zu ermöglichen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es mit Blick auf die Auffälligkeiten im Aussageverhalten der Nebenklägerin geboten sein wird, die Entstehung und Entwicklung ihrer Aussage - bei ihrem Erstkontakt mit der Polizei, bei den weiteren Vernehmungen im Ermittlungsverfahren sowie bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung - nachzuzeichnen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 684

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner