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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 970

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 184/19, Beschluss v. 09.07.2019, HRRS 2019 Nr. 970


BGH 4 StR 184/19 - Beschluss vom 9. Juli 2019 (LG Essen)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen; verminderte Schuldfähigkeit (Borderline-Störung).

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Das Vorliegen einer Borderline-Störung lässt als solches nicht bereits eine Einschränkung der Schuldfähigkeit besorgen. Treten im Einzelfall weitere Umstände hinzu, kann das Vorliegen dieses Befundes aber Anlass dazu geben, zu erwägen, ob eine tatrelevante Einengung der Steuerungsfähigkeit vorliegt.

Entscheidungstenor

1. Der Angeklagten wird auf ihren Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 28. November 2018 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

2. Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt die Angeklagte.

3. Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 12. Februar 2019, durch den die Revision der Angeklagten als unzulässig verworfen wurde, ist damit gegenstandslos.

4. Auf die Revision der Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

5. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Die auf den Strafausspruch beschränkte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten hat ebenso wie ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist Erfolg.

1. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 9. April 2019 dargelegten Gründen zu entsprechen.

2. Der Strafausspruch hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil die Schuldfähigkeit der Angeklagten unzureichend erörtert und damit für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar ist.

a) Die Angeklagte und der später Geschädigte J. hatten seit Juli 2016 eine intime Beziehung. Als J. der Angeklagten im Juli 2017 eröffnete, dass er die Beziehung beenden wolle, versuchte sich die Angeklagte an ihrer Halskette zu erhängen. Der Kontakt zwischen beiden bestand danach als „Freundschaft plus“ fort. Am Tattag, dem 7. Februar 2018, begab sich die Angeklagte zur Wohnung von J., der die Beziehung nunmehr gänzlich beenden wollte und sie aufgefordert hatte, ihre Sachen abzuholen. Entgegen ihrer Gewohnheit trug die Angeklagte einen Dolch mit einer beidseitig geschliffenen Klinge am Gürtel. Sie wollte die Trennung nochmal bereden; als der später Geschädigte dies ablehnte, wurde sie zunehmend aggressiv und griff ihn mit bloßen Händen an, was er abwehren konnte. Die Angeklagte zog sodann den Dolch aus dessen Scheide und stach damit von oben herab in Richtung seines Halses. Die Klinge drang etwa fünf bis sieben Zentimeter tief in die linke Schulter des Geschädigten mit Stichrichtung Achselhöhle ein. Nach einer kurzen Pause stach die Angeklagte nochmals von vorn in Richtung des Halses des Geschädigten. Er wich aus und hob zur Abwehr seinen linken Arm. Der Dolch verletzte ihn oberflächlich am Vorderhals; am Unterarm erlitt er einen Schnitt. Nach einem Gerangel konnte der Geschädigte die Wohnung verlassen. „Die Angeklagte war bei Begehung der Tat voll schuldfähig“.

b) Das Landgericht hat die Annahme vollständig erhaltener Schuldfähigkeit nicht begründet. Dies wird den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, ob das Landgericht wesentliche Umstände in der Person der Angeklagten und in der Tatvorgeschichte berücksichtigt hat.

So teilt das Urteil bei den Angaben zur Person der Angeklagten mit, diese habe in der Pubertät eine Borderline-Störung entwickelt und trage sich gelegentlich mit Suizidgedanken; auch füge sie sich Selbstverletzungen zu. Sie habe sich zweimal in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden, einmal für eine Nacht in einer geschlossenen Psychiatrie nach dem Vorfall im Juli 2017 und einmal danach für eineinhalb Wochen in einer offenen Psychiatrie. Seit September 2017 befinde sie sich wegen ihrer Borderline-Störung in Therapie. Zwar lässt das Vorliegen einer Borderline-Störung als solches nicht bereits eine Einschränkung der Schuldfähigkeit besorgen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 1997 - 4 StR 672/96, BGHSt 42, 385, 388). Ob dieser Befund allerdings zusammen mit der Belastung der angekündigten Trennung zu einer tatrelevanten Einengung der Steuerungsfähigkeit bei der Angeklagten führte, hat das Landgericht nicht erwogen. Dazu hätte aber schon deshalb Anlass bestanden, weil die Angeklagte nach dem Vorfall im Juli 2017, dem ebenfalls die beabsichtigte Trennung durch den Geschädigten zugrunde lag, jedenfalls für eine Nacht in der geschlossenen Psychiatrie aufgenommen wurde.

3. Der aufgezeigte Rechtsfehler hat die Aufhebung des Strafausspruchs zur Folge. Dagegen bleibt der Schuldspruch unberührt, denn der Senat kann nach den getroffenen Feststellungen ausschließen, dass sich die Angeklagte im Tatzeitpunkt in einem Zustand befunden hat, in dem ihr die Einsichtsfähigkeit gefehlt hat oder ihre Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben war. Dem neuen Tatrichter dürfte sich die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 StGB empfehlen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 970

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner