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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 826

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 605/16, Beschluss v. 27.04.2017, HRRS 2017 Nr. 826


BGH 4 StR 605/16 - Beschluss vom 27. April 2017 (LG Essen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Unwirksamkeit der Revisionsbeschränkung).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Dass die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt einschließlich der Entscheidung über den Vorwegvollzug nach dem Willen der Revision vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sein soll, steht der Aufhebung des Maßregelausspruchs nicht entgegen. Die Beschränkung ist insgesamt unwirksam, wenn der Angeklagte mit den erhobenen Verfahrensrügen den Schuldspruch ebenso angreift wie mit der Sachrüge. In einem solchen Fall kann mit der erklärten Rechtsmittelbeschränkung nicht wirksam auf die Anfechtung der Unterbringung in einer Erziehungsanstalt verzichtet werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 12. Juli 2016, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben

a) im Schuldspruch in den Fällen III. 1 bis 6 und III. 8 der Urteilsgründe,

b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen unter Einbeziehung der Strafen aus einer anderweitigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es hat darüber hinaus seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass ein Jahr und neun Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel zu vollziehen sind.

Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen überwiegenden Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

1. Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen III. 1 bis 6 und III. 8 kann keinen Bestand haben. Insoweit hat die Revision des Angeklagten mit einer entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts zulässig erhobenen Aufklärungsrüge Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, dass das Landgericht die gesondert verfolgte N. S. zur Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der früheren Mitangeklagten O. als Zeugin hätte vernehmen müssen. Diese Zeugin hätte, so der Revisionsvortrag, abweichend von den Bekundungen der O., ausgesagt, der Angeklagte sei von ihr, der Zeugin S., zu keinem Zeitpunkt mit Betäubungsmitteln beliefert worden. Tatsächlich habe sie O. mit Heroin beliefert. O. habe sich mit ihrer nicht der Wahrheit entsprechenden Belastung des Angeklagten Vorteile in dem gegen sie gerichteten Strafverfahren verschaffen wollen.

a) Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte mindestens seit 2008 im Betäubungsmittelhandel tätig. Er erwarb größere Mengen Heroin in Deutschland und in den Niederlanden für den gewinnbringenden Weiterverkauf in Deutschland. Gegenstand der Verurteilung in den Fällen III. 1 bis 4 sind vier Lieferungen von jeweils 1 kg Heroin durch eine dem Angeklagten und der früheren Mitangeklagten O. unter dem Namen „Ni.“ bekannten weiblichen Person. In zwei dieser Fälle fuhren der Angeklagte und O. in die Nähe der niederländischen Grenze und übernahmen das Heroin dort von „Ni. “, in zwei weiteren Fällen erfolgte die Übergabe jeweils in der Wohnung der „Ni. “. Sämtliche Betäubungsmittel wurden vom Angeklagten in G. gewinnbringend weiterverkauft.

Der Angeklagte hat den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln, vorwiegend zur Finanzierung seines Eigenkonsums, zwar eingeräumt, die gegen ihn in den Fällen III. 1 bis 6 sowie III. 8 erhobenen Tatvorwürfe jedoch bestritten. Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten im Wesentlichen auf die Einlassung seiner früheren Mitangeklagten O. gestützt, die, so die Strafkammer, durch TKÜ-Erkenntnisse bestätigt worden seien. Dass O. mit Blick auf die ihr in Aussicht gestellte Strafmilderung nach § 31 BtMG ein „erhebliches Interesse daran hatte, W. und andere zu belasten“, wird in den Urteilsgründen erörtert.

b) Vor diesem Hintergrund hätte sich dem Landgericht aufdrängen müssen, die gesondert verfolgte N. S., deren ladungsfähige Anschrift aktenkundig war, als Zeugin zu vernehmen. Erhebliche Anhaltspunkte für eine Personenidentität zwischen „Ni.“ und der Zeugin N. S. und deren Verwicklung in Betäubungsmittel-Straftaten im hier entscheidungserheblichen Zeitraum ergaben sich insbesondere aus dem in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesenen Urteil des Landgerichts Essen vom 20. Juli 2011 gegen R. Dementsprechend findet der Name „Ni.“ im angefochtenen Urteil gerade auch im Zusammenhang mit der R. ausdrücklich Erwähnung (UA 26).

Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Bekundungen der früheren Mitangeklagten O. in einem anderen Licht erschienen wäre, wenn die Zeugin N. S. das von der Revision behauptete Vorbringen durch ihre Aussage bestätigt hätte. Dies gilt nicht nur wegen möglicher Vorteile, die sich O. im Hinblick auf § 31 BtMG in ihrem eigenen Strafverfahren verschaffen wollte. Es kommt hinzu, dass die zur Bestätigung der Einlassung von O. herangezogenen Erkenntnisse aus Telefonüberwachungsmaßnahmen, wie die Strafkammer selbst ausführt, überwiegend nicht aus dem Tatzeitraum stammen.

c) Da die Feststellungen, die die Verurteilung des Angeklagten tragen, nicht nur in den Fällen III. 1 bis 4, sondern auch in den Fällen III. 5, 6 und III. 8, maßgeblich auf den Bekundungen der früheren Mitangeklagten O. beruhen und damit deren Glaubwürdigkeit insgesamt in Rede steht, kann die Verurteilung auch in diesen Fällen nicht bestehen bleiben.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass der Schuldspruch im Fall III. 8 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zugleich sachlich-rechtlich durchgreifenden Bedenken begegnet, weil bei diesem Betäubungsmittelgeschäft eine Gewinnerzielungsabsicht des Angeklagten weder festgestellt noch belegt ist (UA 27).

2. Soweit der insoweit geständige Angeklagte in den Fällen III. 7 und III. 17 jeweils wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist, hat die Nachprüfung des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Insoweit wird auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 18. Januar 2017 Bezug genommen.

II.

1. Die Teilaufhebung im Schuldspruch entzieht dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage. Der Senat hebt auch die übrigen Einzelstrafen auf, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu geben, über die Rechtsfolgen umfassend neu zu befinden.

2. Auch der Maßregelausspruch kann insgesamt nicht bestehen bleiben.

a) Dass die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt einschließlich der Entscheidung über den Vorwegvollzug nach dem Willen der Revision vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sein soll, steht dem nicht entgegen. Denn die Beschränkung ist insgesamt unwirksam, weil der Angeklagte mit den erhobenen Verfahrensrügen den Schuldspruch ebenso angreift wie mit der Sachrüge. In einem solchen Fall kann mit der erklärten Rechtsmittelbeschränkung nicht wirksam auf die Anfechtung der Unterbringung nach § 64 StGB verzichtet werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Januar 2010 - 4 StR 504/09, NStZ-RR 2010, 171 f. mwN).

b) Die Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Urteilsgründe die nach § 64 Satz 2 StGB erforderliche hinreichend konkrete Erfolgsaussicht nicht belegen. Das Landgericht beschränkt sich insoweit unter nicht näher erläuterter Bezugnahme auf die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen auf die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts. Eine nähere Erörterung der für und gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht sprechenden Gesichtspunkte war im vorliegenden Fall aber umso mehr erforderlich, als beim Angeklagten ausweislich der Urteilsfeststellungen zu seinen persönlichen Verhältnissen in der Vergangenheit dreimal Entscheidungen nach § 35 BtMG ergingen und er sich auch bereits einmal im Maßregelvollzug befand.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 826

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner