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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1180

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 327/15, Beschluss v. 07.10.2015, HRRS 2015 Nr. 1180


BGH 4 StR 327/15 - Beschluss vom 7. Oktober 2015 (LG Bielefeld)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Gesamtwürdigung aller Beweise; Anforderungen an die Darstellung im Urteil)

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt worden sein. Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter die Überzeugung von der Täterschaft eines Angeklagten auch dann rechtsfehlerfrei gewinnen, wenn die Tat als solche kaum verständlich und das Motiv des Täters nicht feststellbar ist (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 42, 43).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 26. Februar 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Seine auf zwei Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen stattete der Angeklagte am 24. Dezember 2013 nach 16.30 Uhr dem späteren Tatopfer Dr. G., zu der er eine freundschaftliche Beziehung unterhielt, einen Besuch in deren Wohnung ab.

Dr. G. öffnete die Tür, umarmte ihn zur Begrüßung und bat ihn in das Ess-/Wohnzimmer. Der Angeklagte überreichte ihr eine am Morgen gekaufte Weinflasche als Geschenk, die auf den Esszimmertisch gestellt wurde. Anschließend trank er aus einem ihm angebotenen Glas mit Wasser. Ob zu diesem Zeitpunkt auch das zweite Tatopfer, der pensionierte Beamte S., bereits anwesend war oder erst später dazu kam, vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Anhaltspunkte dafür, dass es eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den anwesenden Personen gab, liegen nicht vor. Im Verlaufe seines Besuches stach der Angeklagte vor 21.35 Uhr insgesamt jeweils elf Mal auf die Körper von Dr. G. und S. mit einem oder mehreren Messern ein, wobei er ihren Tod zumindest billigend in Kauf nahm. Dr. G. und S. verstarben an den ihnen zugefügten Messerstichen. Außerdem versetzte der Angeklagte dem Hund der Tatopfer sechs im Ergebnis tödliche Messerstiche. Das genaue Vorgehen des Angeklagten vor und zu Beginn der Tat, die Modalitäten der Tatbegehung, die Herkunft der Tatwerkzeuge und der Zeitpunkt des Tatentschlusses mussten offen bleiben. Auch vermochte das Landgericht weder den Anlass der Tat, noch ein Tatmotiv festzustellen. Der Angeklagte begab sich nach der Tatausführung zurück in seine Wohnung. Die Leichen der Tatopfer wurden am Mittag des 25. Dezember 2013 von der Zeugin G. (der Tochter des Tatopfers Dr. G.) und dem Zeugen Sch. entdeckt, die das Tatanwesen aufsuchten und die unverschlossene, keine Einbruchspuren aufweisende Terrassentür aufdrückten (UA 11).

Der Angeklagte hat eingeräumt, Dr. G. am 24. Dezember 2013 besucht und ihr eine Flasche Wein als Geschenk überreicht zu haben. Auch habe er aus dem ihm angebotenen Glas mit Wasser getrunken. Die Tatbegehung hat er in Abrede gestellt.

Zur Täterschaft hat das Schwurgericht im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

- der Angeklagte kannte beide Tatopfer und das Haus aufgrund zahlreicher vorheriger Besuche;

- am Nachmittag und Abend des 24. Dezember 2013 erwarteten die Tatopfer keine Besucher mehr und hatten keine Verabredung;

- der Angeklagte hat die Tatopfer am 24. Dezember 2013 besucht;

- am Fingernagel des rechten Ringfingers von Dr. G. fanden sich DNA-Anhaftungen des Angeklagten und allein ihm zuzuordnende Y-chromosomale Merkmale;

- an beiden hinteren Hundekrallen fanden sich unvollständige DNA-Mischspuren des Angeklagten und seine Y-chromosomalen Merkmale, für deren Vorhandensein es keine plausible Erklärung gebe;

- die von den Einsatzkräften der Polizei vorgefundene „Bewirtungssituation“ - das Trinkglas, die Weinflasche und die Wasserflasche mit den Spuren des Angeklagten standen noch auf dem Esstisch - spräche für einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Besuch und Tötung (UA 30);

- Aufbruchspuren, die Anlass dafür geben würden, dass ein unbekannter Dritter in das Haus unberechtigt eingedrungen sei und die Geschädigten getötet habe, waren am Folgetag beim Eintreffen der Polizei nicht vorhanden; dafür, dass die Terrassentür „auf Kipp gestanden hätte“ und sich eine dritte Person „mittels Hineingreifen“ Einlass verschafft haben könnte, gäbe es keine Anhaltspunkte (UA 32); ob etwas aus dem Haus weggenommen wurde, sei nicht feststellbar; lebensnah sei aber, dass ein Dieb oder Räuber zumindest die offen liegenden Wertgegenstände mitgenommen hätte;

- der Umstand, dass ein Motiv des Angeklagten für die Tat nicht festgestellt werden konnte, stehe der Annahme der Täterschaft nicht entgegen (UA 39);

- soweit der psychiatrische Sachverständige B. ausgeführt hat, dass der Angeklagte nur ein geringes Aggressionspotential habe, führe dies nicht zwingend zu dem Schluss, dass er die Tat nicht begangen habe, zumal keine Feststellungen zu den näheren Tatumständen und insbesondere zum Anlass der Tat getroffen werden konnten (UA 40).

II.

Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Zudem muss das Urteil erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt worden sein (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13, Rn. 8 zitiert nach juris mwN). Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter die Überzeugung von der Täterschaft eines Angeklagten auch dann rechtsfehlerfrei gewinnen, wenn die Tat als solche kaum verständlich und das Motiv des Täters nicht feststellbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 31. Juli 1996 - 1 StR 247/96, NStZ-RR 1997, 42, 43).

2. Nach diesen Maßstäben hält die durch die Schwurgerichtskammer vorgenommene Beweiswürdigung rechtlicher Prüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, weil sie eine nach der Beweislage und den Umständen des Einzelfalls wesentliche Feststellung nicht erörtert (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13, Rn. 13; Urteil vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06, Rn. 24; jeweils zitiert nach juris).

Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten unter anderem auf den Umstand gestützt, dass beim Eintreffen der Polizei am Folgetag keine Aufbruchspuren vorhanden gewesen seien und es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Terrassentür „auf Kipp gestanden hätte“ und sich eine dritte Person „mittels Hineingreifen“ Einlass verschafft haben könnte. Es bestünde deshalb kein Anlass für die Annahme, dass ein unbekannter Dritter in das Haus eingedrungen sein könnte und die Geschädigten getötet habe. Bei dieser Sachlage hätte es näherer Erörterung bedurft, dass die Zeugin G. und der Zeuge Sch., als sie am 25. Dezember 2013 das Tatanwesen aufsuchten, die Terrassentür unverschlossen vorfanden und - offenkundig von außen - aufzudrücken vermochten. Sollte die Terrassentür auch vor der Tat unverschlossen gewesen sein, käme dem Fehlen von Einbruchspuren und dem Ausschluss eines „Auf-Kipp-Stehens“ der Terrassentür keine indizielle Bedeutung mehr zu. Eine Erörterung dieses Umstands hat sich auch nicht deshalb erübrigt, weil das Landgericht unter Bezugnahme auf die Angaben des Zeugen St. ausgeführt hat, dass die Getöteten ihre Haustür immer abschlossen und nur Verwandte oder Bekannte einließen (UA 32).

b) Die Urteilsgründe lassen auch besorgen, dass das Landgericht die Beweisergebnisse nur für sich genommen gewertet und nicht in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen hat. Die Strafkammer legt in den Urteilsgründen die den Angeklagten belastenden Indizien einzeln dar und behandelt danach die für ihn sprechenden Gesichtspunkte. Eine Gesamtschau aller be- und entlastenden Umstände findet nicht statt; sie war trotz der gewichtigen, für eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände auch nicht entbehrlich. Stattdessen werden die entlastenden Gesichtspunkte (kein Tatmotiv feststellbar, nur geringes Aggressionspotential) lediglich isoliert bewertet und einzeln als nicht durchgreifend zurückgewiesen („steht der Annahme der Täterschaft nicht entgegen“, „führt nicht zwingend zu dem Schluss, dass er diese Tat nicht begangen hat“).

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1180

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede