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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 815

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 509/14, Urteil v. 02.07.2015, HRRS 2015 Nr. 815


BGH 4 StR 509/14 - Urteil vom 2. Juli 2015 (LG Magdeburg)

Notwehr (Erforderlichkeit der Notwehrhandlung: objektive ex-ante-Betrachtung; Gebotenheit: Notwehrprovokation); tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 32 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn es sich bei ihr um das mildeste zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führende Mittel handelt, das dem Angegriffenen oder seinem Helfer in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden (vgl. BGH StraFo 2014, 29).

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (vgl. BGHSt 26, 143, 145). Darüber hinaus vermag auch bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht einzuschränken, wenn zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGHSt 42, 97, 100).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 2. Mai 2014 werden verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten der Rechtsmittel und die den Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die vormals mitangeklagten Angeklagten R., M., B. und La. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung u.a. zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Der Senat hat insoweit die Revisionen der Angeklagten und des Nebenklägers E. durch Beschlüsse vom 15. April 2015 verworfen. Die Angeklagten S., L., F., St. und F. hat das Landgericht freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft erstrebt eine Verurteilung auch der Angeklagten S., L., F., St. und F. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen. Mit ihren auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen wendet sie sich gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts und die von ihm vorgenommene rechtliche Bewertung des festgestellten Sachverhalts. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

Gegenstand des Verfahrens sind Gewalttätigkeiten, die auf dem Bahnhof in Be. von den ursprünglich neun Angeklagten gegen den türkischstämmigen Imbissbesitzer E., dessen Lebensgefährtin Ste. und dessen Bekannten Si. begangen wurden.

1. Die neun Angeklagten, die der rechtsextremen Szene angehören, feierten am 21. September 2013 den Junggesellenabschied des Angeklagten St. Abends fuhren sie mit dem Zug nach Be., um dort eine Gaststätte aufzusuchen. Während sie noch auf dem Bahnsteig standen, betrat der Nebenkläger E., der in der Bahnhofshalle einen Imbiss betrieb, mit seiner Lebensgefährtin den Bahnsteig, um die Fenster zu kontrollieren und die Türen der Bahnhofshalle zu verschließen. Als er die beiden Angeklagten B. und M. ansprach, beleidigte ihn M. mit den Worten „Verschwinde, dreckiger Ausländer“ oder „Scheiß Kanakenstück, mach Abstand von mir“, während Frau Ste. in ein Wortgefecht mit dem Angeklagten R. geriet, der sie als „Schlampe“, „du Tussi“ und „du Dumme“ beschimpfte. Als der Nebenkläger E. dies hörte, fasste er ihm an den Unterarm und sagte: „Zu einer Frau sagt man das nicht, bisschen mehr Respekt“. R. schüttelte seine Hand ab und rief „Fass mich nicht an, du Scheißvieh!“ Möglicherweise holte sich der Nebenkläger E. daraufhin einen 40 bis 50 cm langen Stock aus seinem Imbiss und begann, schlagende Bewegungen in die Luft auszuführen, um R. zu vertreiben und ihm vor Augen zu führen, was passieren kann, wenn er seine Beleidigungen fortsetzen würde. R. trat einen Schritt zurück und warf dem Nebenkläger E. mit bedingtem Tötungsvorsatz eine fast volle Bierflasche aus nächster Nähe mit großer Wucht an den Kopf, so dass er eine Impressionsfraktur an der Schläfe erlitt. Der Nebenkläger wollte R. für den Flaschenwurf zur Rechenschaft ziehen und setzte ihm mit dem Stock nach. Spätestens jetzt wurden die anderen Angeklagten auf die Auseinandersetzung aufmerksam. Einige von ihnen, u.a. der Angeklagte S., warfen ungezielt mit Flaschen, um den Nebenkläger von der Verfolgung abzuhalten und ihn zu entwaffnen. Alle bildeten einen Ring um den Nebenkläger E., schlugen und traten ihn, um ihn von Schlägen mit dem Stock abzuhalten. Nachdem sie ihn entwaffnet hatten, geriet der Nebenkläger ins Straucheln und schlug mit dem Kopf auf den Boden auf. Während die anderen Angeklagten zurückwichen, schlugen und traten die Angeklagten R., M., B. und La. mit großer Wucht weiter auf ihn ein, wobei sie seinen Tod billigend in Kauf nahmen. Der Nebenkläger Si. kam unterdessen mit einem Messer auf den Bahnsteig gelaufen und fuchtelte damit in Richtung der Angeklagten L. und S. herum. Er wurde zu Boden gebracht, wobei er Prellungen erlitt. Frau Ste. gelang es schließlich, sich schützend über den Körper des Nebenklägers E. zu werfen und die Polizei zu rufen, nachdem sie zuvor einer der Angeklagten vom Nebenkläger weggezogen hatte und sie deshalb zu Boden gestürzt war.

2. Die Strafkammer hat die Angeklagten S., F., St., L. und F. zum Teil aus tatsächlichen und zum Teil aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Sie hat die ungezielten Flaschenwürfe und das Schlagen und Treten gegen den Nebenkläger E., um ihm den Stock abzunehmen, als durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt angesehen. Sie hat des Weiteren nicht festzustellen vermocht, dass einer dieser Angeklagten wahrgenommen habe, dass die Angeklagten R., M., B. und La. mit Tritten gegen den Kopf und den Oberkörper weiter auf den Nebenkläger E. eingewirkt haben und dass einer von ihnen eine Unterstützungshandlung irgendwelcher Art vorgenommen habe. Derjenige, der die Nebenklägerin Ste. von dem am Boden liegenden Nebenkläger E. weggezogen habe, habe nicht identifiziert werden können. Auch die gegen den Nebenkläger Si. eingesetzte körperliche Gewalt sei durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt gewesen.

3. Die Beschwerdeführerin beanstandet die Beweiswürdigung des Landgerichts sowie die Bejahung des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr bzw. Nothilfe. Die Beweiswürdigung sei lückenhaft, weil sich das Landgericht mit den widersprüchlichen Einlassungen der Angeklagten nicht auseinandergesetzt habe und eine Gesamtschau der Beweise fehle. Das Landgericht habe es auch unterlassen, die Umstände der Kampflage vollständig und umfassend zu bewerten sowie die Erforderlichkeit und Geeignetheit der Verteidigung darzutun.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben keinen Erfolg.

1. Die Beweiswürdigung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Würdigung der erhobenen Beweise ist Sache des Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des Beweisergebnisses eine abweichende Ãœberzeugungsbildung möglich erschienen wäre oder sogar näher gelegen hätte (vgl. BGH, Urteil vom 17. April 2014 - 3 StR 27/14, NStZ-RR 2014, 279, 280 mwN). Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt, in sich widersprüchlich oder lückenhaft ist oder sich so weit von einer festen Tatsachengrundlage entfernt, dass die gezogenen Schlussfolgerungen sich letztlich als reine Vermutungen erweisen.

Einen derartigen Rechtsfehler vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen; er ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Angriffe der Revision gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts erschöpfen sich in dem revisionsrechtlich unzulässigen Versuch, die Wertung des hierzu berufenen Tatgerichts durch eine eigene zu ersetzen (vgl. BGH, Urteile vom 19. August 2008 - 1 StR 383/08 juris Rn.11; vom 12. August 2003 - 1 StR 111/03, juris Rn. 18). Die Beweiswürdigung der Strafkammer, insbesondere zu dem Einsatz des Stocks, beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage, namentlich den Aussagen der unbeteiligten Zeugen K. und W. Den Einlassungen der Angeklagten ist die Strafkammer nur gefolgt, soweit sie durch andere Beweismittel gestützt worden sind (UA 70 ff.). Ein Rechtsfehler in der Beweiswürdigung liegt auch nicht darin, dass die Strafkammer nicht aus der Widerlegung der Einlassungen Rückschlüsse darauf gezogen hat, was sich in Wirklichkeit ereignet hat; solche wären nach ständiger Rechtsprechung nicht ohne weiteres tragfähig (vgl. BGH, Urteil vom 17. April 2014 - 3 StR 27/14, juris Rn. 13 mwN). Die von der Strafkammer gezogenen Folgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

2. Auch die rechtliche Wertung des festgestellten Sachverhalts durch die Strafkammer lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen.

a) Der rechtswidrige Angriff des Angeklagten R. auf die Ehre des Nebenklägers E. war beendet, als dieser ihn - nicht ausschließbar - mit dem Stock verfolgte. Denn der Nebenkläger holte - nicht ausschließbar - nach der zweiten Beleidigung zunächst noch den Stock aus dem Imbiss und betrat erst anschließend wieder den Bahnsteig, auf dem sich die Angeklagten aufhielten. Dabei bewaffnete er sich nicht, um einen Angriff auf seine Ehre abzuwehren, sondern weil der Angriff auf seine Ehre und die seiner Freundin „nicht folgenlos bleiben“ durfte und er den Angeklagten R. vertreiben und vor Augen führen wollte, was passieren kann, wenn dieser die Beleidigungen fortsetzt. Daher befand sich der Angeklagte R. in einer Notwehrsituation, als ihm der Nebenkläger E. mit dem Stock nachsetzte.

Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn es sich bei ihr um das mildeste zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führende Mittel handelt, das dem Angegriffenen oder seinem Helfer in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100 mwN). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden (BGH, Beschluss vom 21. August 2013 - 1 StR 449/13, StraFo 2014, 29; Beschluss vom 21. November 2012 - 2 StR 311/12, NStZ-RR 2013, 105, 106; Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140 mwN).

An diesen Maßstäben gemessen weist die Annahme des Landgerichts, die ungezielten Würfe mit Bierflaschen, Schläge und Tritte der Angeklagten S., F., St., L. und F. seien die erforderliche Verteidigungshandlung gegen den mit einem Stock bewaffneten Nebenkläger E. gewesen, keinen Rechtsfehler auf. Es kann dahinstehen, ob der Angeklagte R. angesichts des von ihm provozierten Angriffs berechtigt war, sich aus kurzer Entfernung mit einem gezielten Flaschenwurf an den Kopf des Nebenklägers zu verteidigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (BGH, Urteil vom 15. Mai 1975 - 4 StR 71/75, BGHSt 26, 143, 145). Darüber hinaus vermag auch bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht einzuschränken, wenn zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100).

Ein insoweit möglicherweise vorliegender (weiterer) rechtswidriger Angriff des Angeklagten R. war aber ebenfalls beendet, als ihm der Nebenkläger E. weiter mit dem Stock nachsetzte und die anderen Angeklagten eingriffen. In dieser Situation waren die Angeklagten S., F., St., L. und F. auch mit Blick auf ein möglicherweise eingeschränktes Notwehrrecht infolge einer vorangegangenen Provokation berechtigt, den Nebenkläger E. mit der eingesetzten körperlichen Gewalt von der Verfolgung des Angeklagten R. abzuhalten.

b) Soweit eine mögliche Beihilfe zu den Taten der Angeklagten R., M., B. und La. durch das Wegziehen der Nebenklägerin Ste. vom Nebenkläger E. und eine dadurch bewirkte Körperverletzung dieser Nebenklägerin im Raum stehen, vermochte das Landgericht die Täter nicht festzustellen. Auch insoweit weist die Beweiswürdigung keinen Rechtsfehler auf.

c) Auch hinsichtlich des Nebenklägers Si. konnte sich die Strafkammer keine Überzeugung davon verschaffen, wer ihn zu Boden gebracht hat. Darüber hinaus lässt die Annahme von Notwehr bzw. Nothilfe durch die Strafkammer keinen Rechtsfehler erkennen. Nach den Urteilsfeststellungen hat der Nebenkläger Si. die an der Misshandlung des Nebenklägers E. nicht beteiligten Angeklagten L. und S. mit dem Messer bedroht.

d) Schließlich erweist es sich nicht als rechtlicher Mangel, dass die Strafkammer eine unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB nicht ausdrücklich geprüft hat. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass solches nicht in Betracht kam, weil das Landgericht nicht feststellen konnte, dass die Angeklagten S., F., St., L. und F., die sich vom Tatgeschehen abgewandt hatten, die weitere Misshandlung des Nebenklägers durch die Angeklagten R., M., B. und La. oder den Umstand, dass der Nebenkläger schwer verletzt am Boden lag, wahrgenommen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 815

Externe Fundstellen: NJW 2016, 423; NStZ-RR 2015, 303

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel