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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 74

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 71/11, Urteil v. 20.10.2011, HRRS 2012 Nr. 74


BGH 4 StR 71/11 - Urteil vom 20. Oktober 2011 (LG Siegen)

BGHSt 57, 42; Garantenstellung des Betriebsinhabers oder Vorgesetzter (Verhinderung von betriebsbezogenen Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter: Überwachergarantenstellung, Beschützergarantenstellung; Mobbing); Beihilfe durch Unterlassen und psychische Unterstützung; unterlassene Hilfeleistung (Unglückfall).

§ 13 Abs. 1 StGB; § 323c StGB; § 27 StGB; § 357 StGB

Leitsätze

1. Aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter kann sich eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes - unabhängig von den tatsächlichen Umständen, die im Einzelfall für die Begründung der Garantenstellung maßgebend sind - auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht. (BGHSt)

2. Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist. Es muss sich eine dem Betrieb oder der im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit spezifisch anhaftende Gefahr verwirklichen. (Bearbeiter)

3. Die Betriebsbezogenheit kann nicht daraus hergeleitet werden, dass die Taten Bestandteil einer Serie wiederkehrender und sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckender Misshandlungen waren, die bei Gelegenheit der betrieblichen Tätigkeit erfolgt sind. Anderenfalls würde das Merkmal der Betriebsbezogenheit jedenfalls für gemeinschaftlich begangene Körperverletzungen und Nötigungen überdehnt, die praktisch in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter auftreten können. Ließe man allein das iterative Moment für die Annahme der Betriebsbezogenheit ausreichen, würde die mit diesem Merkmal bezweckte und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gebotene Einschränkung der Haftung des Geschäftsherrn aufgegeben und dieser im Ergebnis doch für eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit verantwortlich gemacht. In solchen Fällen ist jedoch auf eine mögliche Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung zu achten. (Bearbeiter)

4. Eine aus der Übertragung arbeitsvertraglicher Schutzpflichten resultierende Garantenstellung hinsichtlich nachgeordneter Mitarbeiter setzt jedenfalls voraus, dass sich der zu Schützende innerhalb des personellen Verantwortungsbereichs des Angeklagten befindet. (Bearbeiter)

5. Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erheblichen Schaden an Menschen oder Sachen anrichtet und weiteren Schaden zu verursachen droht (BGHSt 3, 65, 66). Als solches Ereignis kommt auch eine Straftat Dritter in Betracht (BGH NStZ 1997, 127; BGHSt 3, 65, 66; 30, 391). Ein drohender Schaden reicht für die Annahme eines Unglücksfalles aus. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 8. Juli 2010 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte M. in den Fällen III.1, III.9 und III.16 der Urteilsgründe freigesprochen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung und zur Nötigung in zehn Fällen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Revision, die sie wirksam beschränkt hat und die sie auf die Verletzung materiellen Rechts stützt, gegen die Freisprüche in den Fällen III.1, III.9 und III.16 der Urteilsgründe. In diesem Umfang hat das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte war in der Straßenbauabteilung der Stadt H. beschäftigt. Nach deren Zusammenlegung mit der Grünflächenabteilung der Stadt im städtischen Bauhof im Frühsommer 2006 war er Vorarbeiter einer Kolonne, der außer ihm die Mitangeklagten S., K. und B. angehörten.

Zwischen Februar 2006 und Juli 2008 wurde der ebenfalls beim städtischen Bauhof angestellte, aber in einer anderen Kolonne tätige Geschädigte D. während der Arbeitszeit wiederholt Opfer demütigender körperlicher Übergriffe von Seiten der Mitangeklagten, die hierfür bisweilen auch Knüppel, Ketten oder andere Werkzeuge verwendeten. Unter anderem kam es zu folgenden Vorfällen:

Am 22. Februar 2006 drängten die Mitangeklagten den Geschädigten D. in eine Friedhofskapelle. Die Mitangeklagten K. und B. hielten den Geschädigten an den Armen fest, während der Mitangeklagte S. ihm mit einem Holzknüppel mehrere wuchtige Schläge gegen den Oberkörper versetzte. Nach einem Positionstausch zwischen den Mitangeklagten S. und K. schlug dieser ebenfalls mehrfach auf den Geschädigten ein. Sodann ließen die Mitangeklagten den Geschädigten, der eine Rippenfraktur erlitten hatte und wegen der starken Schmerzen mehrere Stunden nicht bewegungsfähig war, in der Kapelle zurück und entfernten sich (Fall III.1).

Anfang 2008 forderten die Mitangeklagten S. und K. einem gemeinsamen Tatplan entsprechend den Geschädigten auf, sich einen vermeintlichen Schaden an einem der zum Bauhof gehörenden Fahrzeuge anzuschauen, packten ihn, als er sich dem Fahrzeug genähert hatte, von hinten und stießen seinen Kopf heftig auf die Motorhaube (Fall III.9).

Im Frühjahr 2008 erhielt der Geschädigte D., weil er sich für eine berufliche Fortbildung angemeldet hatte, beim Beladen eines Fahrzeugs Schläge zunächst vom Mitangeklagten S., sodann vom Mitangeklagten K. (Fall III.16).

Das Landgericht ist zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte bei diesen drei Taten anwesend war; eine ihm mit der Anklageschrift zur Last gelegte aktive Tatbeteiligung in Form psychischer Unterstützung hat es jedoch nicht festgestellt. An einer Verurteilung wegen einer durch Unterlassen begangenen Beihilfe hat es sich gehindert gesehen, weil es eine Garantenstellung des Angeklagten verneint hat. Eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften hat das Landgericht nicht erörtert.

II.

Der Freispruch hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Allerdings hat das Landgericht entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts die Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes zu Recht abgelehnt. Die dafür erforderliche Garantenstellung im Sinne einer besonderen Pflichtenstellung, die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht (BGH, Urteil vom 19. April 2000 - 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754), hatte der Angeklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht.

a) Eine solche Garantenstellung ergibt sich zum einen nicht aus einer dem Angeklagten von seiner Arbeitgeberin, der Stadt H., übertragenen Pflicht zum Schutz der Rechtsgüter des Geschädigten vor Angriffen durch Dritte. Dabei kann dahinstehen, ob die Stadt H. eine solche Schutzpflicht - etwa aus § 618 BGB (vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 2009 - 4 StR 610/08, BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 9) - überhaupt traf und welche konkreten Vorgesetztenpflichten sich ferner aus dem Arbeitsvertrag des Angeklagten mit der Stadt H. ergaben. Selbst wenn hier eine solche - grundsätzlich mögliche (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44, 48 f.; Weigend in LK-StGB, 12. Aufl., § 13, Rn. 60; Rogall, ZStW 98, 573, 619) - arbeitsvertragliche Übertragung einer Schutzpflicht im Interesse nachgeordneter Mitarbeiter anzunehmen sein sollte, würde sich diese jedenfalls nicht auf den Geschädigten erstreckt haben. Dieser befand sich zu keinem der Tatzeitpunkte innerhalb des personellen Verantwortungsbereichs des Angeklagten.

Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte weder der planmäßige Vorgesetzte des Geschädigten, noch war der Geschädigte ihm und der von ihm geführten Kolonne aus anderen Gründen, etwa vertretungsweise, zugeordnet.

b) Ebenso wenig ergibt sich eine Garantenstellung aus einer der Stadt H. obliegenden und vom Angeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses übernommenen Pflicht zur Überwachung der Mitangeklagten S., K. und B. mit dem Ziel, von diesen ausgehende Straftaten zum Nachteil des Geschädigten zu verhindern.

aa) Zwar kann sich aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter je nach den Umständen des einzelnen Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht (vgl. RGSt 58, 130; BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44 mit Besprechung Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 918; vgl. auch BGH, Urteil vom 6. Juli 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106; OLG Karlsruhe, GA 1971, 281; Weigend, aaO, § 13, Rn. 56; Stree/Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 13, Rn. 53; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 13, Rn. 14; Wohlers in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 3. Aufl., § 13, Rn. 53; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13, Rn. 37 f.; Roxin, Strafrecht AT II, § 32 Rn. 134 ff; Schünemann, wistra 1982, 41; Schall, FS Rudolphi, S. 267; Rogall, ZStW 98, 573, 618; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 183 ff.; gegen eine Garantenstellung des Geschäftsherrn wegen des Grundsatzes der Eigenverantwortlichkeit SK-Rudolphi, StGB, § 13, Rn. 32 ff.; Otto, Jura 1998, 409, 413; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 116 ff.). Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist (vgl. Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, 2009, S. 137, mwN; Roxin, aaO, Rn. 141; Weigend, aaO; enger Rogall, aaO, S. 618 f.; Schünemann, aaO S. 45).

Die Beschränkung der Garantenhaftung des Betriebsinhabers auf betriebsbezogene Taten ist unabhängig davon geboten, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind (vgl. Schünemann, aaO S. 45; Rogall, aaO, 616; [Autoritätsstellung]; Roxin, aaO, § 32, Rn. 137; Schall, aaO, S. 277 ff.; Weigend, aaO; Stree/Bosch, aaO [Herrschaft über den Betrieb als Gefahrenquelle]; zur Begründung der Garantenstellung des Geschäftsherrn i.Ü. vgl. Spring, aaO, S. 124 ff.). Weder mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft über die "Gefahrenquelle Betrieb" (Schall, aaO, S. 279) oder unter einem anderen Gesichtspunkt lässt sich eine über die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten (vgl. OLG Karlsruhe, GA 1971, 281, 283; Roxin, aaO, Rn. 139, 141).

bb) Gemessen daran handelte es sich bei den Misshandlungen des Geschädigten D. durch die Mitangeklagten nicht um betriebsbezogene Straftaten. Sie standen weder in einem inneren Zusammenhang zur von den Mitangeklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu erbringenden Tätigkeit, noch hat sich in ihnen eine gerade dem Betrieb des städtischen Bauhofs spezifisch anhaftende Gefahr verwirklicht. Insbesondere war den Mitangeklagten die Schikanierung des Geschädigten weder als Teil der "Firmenpolitik" - etwa um einen unliebsamen Mitarbeiter zum Verlassen des Unternehmens zu bewegen - von der Betriebsleitung aufgetragen worden, noch nutzten die Mitangeklagten ihnen durch ihre Stellung im Betrieb eingeräumte arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung aus (vgl. Mühe, Mobbing am Arbeitsplatz - Strafbarkeitsrisiko oder Strafbarkeitslücke?, 2006, S. 239).

cc) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist eine andere Bewertung auch nicht deshalb geboten, weil die Taten Bestandteil einer Serie wiederkehrender und sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckender Misshandlungen waren. Zwar wird die Betriebsbezogenheit solcher mit dem Begriff "Mobbing" bezeichneter Tatserien bisweilen mit der Begründung bejaht, dass sich eine in der Betriebsgemeinschaft allgemein angelegte Gefahr verwirkliche, weil für solche Taten der abgegrenzte soziale Raum des Betriebes ohne ausreichende Ausweichmöglichkeiten für das um seinen Arbeitsplatz und damit seine wirtschaftliche Existenz fürchtende Opfer konstitutiv seien (in diesem Sinne etwa Mühe, aaO, S. 244 ff.; Wolmerath, Mobbing, 3. Aufl., S. 80; dagegen Fehr, Mobbing am Arbeitsplatz, 2007, S. 195 ff.).

Damit würde das Merkmal der Betriebsbezogenheit jedoch jedenfalls für Fälle wie den vorliegenden überdehnt. Die Gefahr auch wiederholter, unter Kollegen begangener Körperverletzungen besteht in jedem Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter, ist also keine gerade dem konkreten Betrieb - hier dem städtischen Bauhof - innewohnende Gefahr (ebenso auf den konkreten Betrieb abstellend Roxin, aaO, Rn. 139; Weigend, aaO; Wohlers, aaO). Auch ändert sich am Fehlen eines inneren Zusammenhangs zwischen dem Betrieb des Bauhofs bzw. dem Aufgabenbereich der Mitangeklagten und der Misshandlung des Geschädigten nichts dadurch, dass diese wiederholt begangen wurde. Insbesondere verlieren die Körperverletzungstaten hierdurch nicht ihren Charakter als Exzesstaten. Ließe man allein das iterative Moment für die Annahme der Betriebsbezogenheit ausreichen, würde die mit diesem Merkmal bezweckte und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gebotene (vgl. Weigend, aaO, Rn. 18 f. mwN) Einschränkung der Haftung des Geschäftsherrn aufgegeben und dieser im Ergebnis doch für eine insgesamt straffreie Lebensführung seiner Mitarbeiter während der Arbeitszeit verantwortlich gemacht.

2. Dass das Landgericht eine Strafbarkeit gemäß § 357 StGB verneint hat, ist aus Rechtsgründen ebenfalls nicht zu beanstanden. Es kann dahinstehen, ob der Angeklagte und die Mitangeklagten als Angestellte des kommunalen Bauhofs als Amtsträger im Sinne der Vorschrift anzusehen sind. § 357 Abs. 1 StGB setzt eine "im Amt" begangene rechtswidrige Tat des Untergebenen voraus, wovon nur in Ausübung des Amtes begangene Taten umfasst sind (BGH, Urteil vom 19. Dezember 1952 - 1 StR 353/52, BGHSt 3, 349, 352), nicht aber solche, die lediglich bei Gelegenheit der Amtsausübung verübt werden (vgl. MünchKomm StGB/Schmitz, § 357, Rn. 11 mwN). Insofern gelten die Ausführungen unter II.1.b) zum fehlenden Zusammenhang zwischen dem Tätigkeitsbereich der Mitangeklagten und den zum Nachteil des Geschädigten begangenen Straftaten entsprechend.

3. Der Freispruch hat jedoch keinen Bestand, weil das Landgericht eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB nicht geprüft, insoweit also seiner umfassenden Kognitionspflicht (vgl. BGH, Urteile vom 23. März 1993 - 1 StR 21/93, BGHSt 39, 164, 165 mwN, und vom 8. Oktober 1996 - 5 StR 458/96, NStZ 1997, 127) nicht genügt hat.

a) Ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erheblichen Schaden an Menschen oder Sachen anrichtet und weiteren Schaden zu verursachen droht (BGH, Urteil vom 10. Juni 1952 - 2 StR 180/53, BGHSt 3, 65, 66). Als solches Ereignis kommt auch eine Straftat Dritter in Betracht (BGH, Urteile vom 8. Oktober 1996 - 5 StR 458/96, NStZ 1997, 127; vom 10. Juni 1952 - 2 StR 180/53, BGHSt 3, 65, 66; vom 24. Februar 1982 - 3 StR 34/82, BGHSt 30, 391). Ein drohender Schaden reicht für die Annahme eines Unglücksfalles aus (vgl. Spendel in LK-StGB, 11. Aufl., § 323c, Rn. 42 mwN).

b) Die Feststellungen des Landgerichts lassen zunächst die Prüfung nicht zu, ob der Angeklagte die erforderliche Hilfeleistung dadurch unterlassen hat, dass er die Straftaten der Mitangeklagten nicht verhindert hat. Die Urteilsgründe teilen nicht mit, ob der Angeklagte im Fall III.9 von der "Absprache" der übrigen Angeklagten wusste, den Geschädigten überraschend zu attackieren - die Möglichkeit eines Eingreifens während der Verletzungshandlung liegt hier angesichts der zeitlichen Kürze des Geschehensablaufs anders als bei den Fällen III.1 und III.16 mit ihren zeitlich gestreckten Abläufen fern - und ob der Angeklagte als Vorgesetzter, ggfs. unter Androhung arbeitsrechtlicher Maßnahmen, die Mitangeklagten erfolgreich dazu hätte bewegen können, die Misshandlungen zu unterlassen bzw. zu beenden. Ausgeschlossen ist dies nach den bisherigen Feststellungen auch unter Berücksichtigung der "ausgeprägt dominanten Wesensart" des Mitangeklagten S. nicht.

Hinsichtlich des Falles III.1 wird der neue Tatrichter insoweit außerdem zu prüfen haben, ob im Zeitpunkt der Tat, die am 22. Februar 2006 und damit vor der Zusammenlegung von Straßenbauabteilung und Grünflächenabteilung im Frühsommer 2006 begangen wurde, der Angeklagte überhaupt Vorgesetzter jedenfalls einiger der Mitangeklagten war; nach den bisherigen Feststellungen war der Angeklagte zu jener Zeit wie der Mitangeklagte K. bei der Straßenbauabteilung der Stadt H., die Mitangeklagten S. und B. jedoch bei der Grünflächenabteilung beschäftigt.

c) Im Fall III.1 ist dem Senat darüber hinaus die Prüfung der Strafbarkeit des Angeklagten nach § 323c StGB unter dem Gesichtspunkt eines tatbestandlichen Unterlassens der Hilfeleistung - etwa des Herbeiholens eines Arztes oder einer sonstigen Unterstützung des Geschädigten - im Anschluss an die durch die Mitangeklagten begangene Misshandlung anhand der Urteilsgründe nicht möglich. Insbesondere enthalten sie keine Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten von Art und Ausmaß der Verletzungen des Geschädigten D., der eine Rippenfraktur erlitt und unter starken Schmerzen für mehrere Stunden bewegungsunfähig in der Kapelle ausharrte, nachdem ihn der Angeklagte und die übrigen Kolonnenmitglieder dort zurückgelassen hatten.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 74

Externe Fundstellen: BGHSt 57, 42; NJW 2012, 1237; NStZ 2012, 142; StV 2012, 403

Bearbeiter: Karsten Gaede