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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 538

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 75/06, Urteil v. 01.06.2006, HRRS 2006 Nr. 538


BGH 4 StR 75/06 - Urteil vom 1. Juni 2006 (LG Bochum)

Darlegungsanforderungen an die Beweisantragsrüge; Sicherungsverwahrung (Gelegenheits- und Augenblickstaten als Symptomtaten).

§ 244 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 66 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Auch Gelegenheits- und Augenblickstaten können als Symptomtaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB in Betracht kommen; die Anwendung des § 66 StGB ist nur dann ausgeschlossen, wenn eine äußere Tatsituation oder eine Augenblickserregung die Tat allein verursacht hat (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 7). Auch bei einer Gelegenheitstat ist deshalb regelmäßig im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten zu prüfen, ob die Tat Symptomcharakter zeigt (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 6).

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 16. August 2005 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung und wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit Raub und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich allein dagegen, dass das Landgericht die Anordnung von Sicherungsverwahrung abgelehnt hat.

Der Revision des Angeklagten bleibt der Erfolg versagt. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat hingegen Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen veranlasste der Angeklagte nur sechs Monate nach seiner letzten Haftentlassung aufgrund eines mit seinem Mittäter spontan gefassten Tatentschlusses einen Drogenabhängigen mittels Drohung und Gewaltanwendung zur Herausgabe von etwa einem Gramm Heroin und seines Portemonnaies, dem der Angeklagte 50 € entnahm. Bei der Tat führte er, was das Tatopfer bemerkte, ein Messer mit sich (Fall II 1). Trotz eines wegen dieser Tat gegen ihn bestehenden, jedoch außer Vollzug gesetzten Haftbefehls überfiel der Angeklagte vier Monate später den 87 Jahre alten P., den er beim Verlassen eines Bankinstituts beobachtet hatte. Der Angeklagte vermutete, dass P. eine größere Geldmenge bei sich führte. Diese wollte er an sich bringen. Er verfolgte deshalb P. auf dem Nachhauseweg und verschaffte sich gewaltsam Zutritt zu dessen Wohnung. Dort stieß er das Tatopfer zu Boden und entnahm aus dessen Jacke eine Geldbörse mit 70 € Bargeld sowie weitere Gegenstände.

Anschließend durchsuchte der Angeklagte die Wohnung des Geschädigten nach weiteren Wertgegenständen. Als er solche nicht finden konnte, warf er P., der im Begriff war, aus der Wohnung zu flüchten, erneut zu Boden und drückte ihm, um Hinweise auf weitere Wertgegenstände zu erhalten, die Spitze eines in der Wohnung aufgefundenen Brieföffners gegen das Gesicht, wodurch P. leichte Schnittverletzungen erlitt. Da der Angeklagte weitere mitnehmenswerte Gegenstände nicht finden konnte, ließ er von P. ab und verließ die Wohnung (Fall II 2).

2. Der Angeklagte war bei Begehung dieser Taten bereits vielfach vorbestraft.

Er wurde u. a. im Jahr 1982 wegen Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, 1985 wegen schwerer räuberischer Erpressung und Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren (Einzelfreiheitsstrafen fünf Jahre und zwei Jahre drei Monate), sowie 1993 wegen schweren Raubes und wegen zwei Waffendelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren (Einzelfreiheitsstrafen acht Jahre, sieben Monate und zwei Jahre). Diesen Verurteilungen lagen jeweils Überfälle auf Bankinstitute bzw. auf eine Postfiliale zugrunde. Zuletzt wurde der Angeklagte im Mai 2002 wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren drei Monaten (Einzelfreiheitsstrafen jeweils ein Jahr drei Monate) verurteilt. Mit Ausnahme der Strafe aus dem zuletzt genannten Urteil, von welcher ein geringer Strafrest im Dezember 2003 zur Bewährung ausgesetzt worden war, verbüßte der Angeklagte die vorgenannten Strafen vollständig.

II.

Revision des Angeklagten

1. Die auf die Verletzung des § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO gestützten Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.

Zwar ist die unter Nr. 2 der Revisionsbegründung erhobene Rüge nicht, wie der Generalbundesanwalt meint, bereits deshalb unzulässig, weil der den Beweisantrag ablehnende Beschluss der Strafkammer in seinem Wortlaut in Ergänzung der Revisionsbegründungsschrift erst nach Ablauf der Frist zur Begründung der Revision mitgeteilt worden ist. Der Beschwerdeführer hat in der Revisionsbegründung mit eigenen Worten den Inhalt dieser von ihm beanstandeten Entscheidung der Strafkammer vollständig wiedergegeben. Einer darüber hinausgehenden wörtlichen Wiedergabe des Beschlusses, der in seinem Kern auf die von der Revision mitgeteilte Entscheidung der Strafkammer vom 12. Juli 2005 verweist, bedurfte es nicht (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Beweisantragsrecht 4).

Die erhobenen Rügen sind aber deshalb unzulässig, weil weitere in Bezug genommene Aktenteile, nämlich das toxikologische Gutachten und das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. W., in der Revisionsbegründung nicht mitgeteilt werden. Im Übrigen sind die Verfahrensrügen auch aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend dargelegten Gründen unbegründet.

2. Die Überprüfung des Urteils auf die nicht näher ausgeführte Sachrüge hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

II.

Revision der Staatsanwaltschaft

1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Frage der Anordnung von Sicherungsverwahrung beschränkt. Zwar hat die Beschwerdeführerin in ihrer Revisionsbegründung die Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs insgesamt beantragt. Die erhobene Sachrüge ist jedoch nur insoweit ausgeführt, als das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat. Nach dem Revisionsvorbringen ist deshalb davon auszugehen, dass das Urteil nur im Hinblick auf die Nichtanordnung der Maßregel angefochten ist. Diese Rechtsmittelbeschränkung ist im vorliegenden Fall wirksam, da nach den Urteilsgründen auszuschließen ist, dass die maßvollen Strafen von dem Unterbleiben der Maßregelanordnung beeinflusst worden sind (vgl. Kuckein in KK 5. Aufl. § 344 Rdn. 12 m.N.).

2. Die Ablehnung der Sicherungsverwahrung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB gegeben sind. Es ist ferner, insoweit in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen, zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Hangtäter handelt. Gleichwohl hat es von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen, weil es - entgegen dem Gutachten des Sachverständigen - gemeint hat, die nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose nicht stellen zu können. Bei den vorliegenden Taten habe es sich, anders als bei den früheren Taten des Angeklagten, um "reine Gelegenheitstaten" gehandelt, die der Angeklagte spontan und situativen Auslösereizen folgend begangen habe. Zudem lasse die bei den Taten jeweils erzielte geringe Beute, die geringen Tatfolgen und der Umstand, dass der Angeklagte die Tat zum Nachteil des P. bereue und sich dafür schäme, auf eine abnehmende Intensität künftiger Straftaten schließen.

a) Die Beschwerdeführerin beanstandet mit Recht die Annahme des Landgerichts, die Anlasstaten seien als Gelegenheitstaten nicht symptomatisch für den rechtsfehlerfrei festgestellten Hang des Angeklagten zum Verbrechen und für seine Gefährlichkeit. Die Strafkammer hat ersichtlich verkannt, dass auch Gelegenheits- und Augenblickstaten als Symptomtaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB in Betracht kommen können und die Anwendung des § 66 StGB nur dann ausgeschlossen ist, wenn eine äußere Tatsituation oder eine Augenblickserregung die Tat allein verursacht hat (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 7). Auch bei einer Gelegenheitstat ist deshalb regelmäßig im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten zu prüfen, ob die Tat Symptomcharakter zeigt (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 6).

Eine solche Gesamtwürdigung hat das Landgericht nicht vorgenommen. Nach den getroffenen Feststellungen sprechen jedoch gewichtige Gründe, die die Strafkammer nicht bedacht hat, dafür, dass auch die verfahrensgegenständlichen Taten Symptomtaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB sind.

Der Angeklagte ist nach den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, denen das Landgericht insoweit gefolgt ist, und den Feststellungen zu den früheren Straftaten vollständig in eine kriminelle Subkultur integriert und verfügt über eine fest verwurzelte Neigung, sich auf "kriminelle Weise" Geld oder andere Wertgegenstände zumeist mittels Gewaltanwendung oder Drohung zu verschaffen. Schon aus diesen Gründen liegt es nahe, dass zwischen der festgestellten Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten und den verfahrensgegenständlichen Taten eine innere Beziehung besteht und deshalb auch diese Taten trotz der ihnen zugrunde liegenden Spontaneität Konsequenz seines verbrecherischen Hanges sind. Hierfür spricht darüber hinaus die Art und Weise der Durchführung der Taten. Der Angeklagte ging jeweils zielgerichtet und, insbesondere im Fall II 2, im Rahmen eines zeitlich gestreckten, mehraktigen Geschehens gegen die Tatopfer vor.

b) Das Landgericht hat auch keine tragfähigen Umstände festgestellt, die den Schluss rechtfertigen, beim Angeklagten sei nunmehr die Wiederholungsgefahr im Hinblick auf die Begehung erheblicher Straftaten entfallen. Soweit die Strafkammer meint, eine abnehmende Intensität und Gefährlichkeit (auch) künftiger Straftaten daraus herleiten zu können, dass bei den Anlasstaten die Tatbeute und die Verletzungsfolgen gering waren, beurteilt sie die Erheblichkeit dieser Taten rechtsfehlerhaft ebenfalls nur einseitig am eingetretenen Erfolg (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 38). Die Massivität des Vorgehens des Angeklagten in beiden Fällen, insbesondere aber bei der Tat zum Nachteil des 87jährigen Tatopfers im Fall II 2, das Mitsichführen bzw. Verwenden von gefährlichen Werkzeugen und die in beiden Fällen vorhandene höhere Beuteerwartung des Angeklagten lassen schwerlich eine andere Beurteilung zu, als dass es sich auch bei den Anlasstaten um den Rechtsfrieden empfindlich störende, die Allgemeinheit erheblich in Mitleidenschaft ziehende und damit "erhebliche" Straftaten handelt.

3. Über die Anordnung von Sicherungsverwahrung muss mithin neu befunden werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 538

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2007, 107

Bearbeiter: Karsten Gaede