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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 141

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 439/03, Beschluss v. 04.12.2003, HRRS 2004 Nr. 141


BGH 4 StR 439/03 - Beschluss vom 4. Dezember 2003 (LG Bochum)

Strafzumessung (unzulässige Belastung wegen zulässigen Verteidigungsverhaltens des Angeklagten: Duldung von Falschaussagen; rechtsfeindliches Verhalten des Angeklagten).

§ 46 StGB; Art. 6 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das bloße Dulden von Falschaussagen in der Hauptverhandlung seitens des Angeklagten kann nicht als Strafschärfungsgrund angesehen werden: Ein solches Prozessverhalten des Angeklagten zu seinen Lasten zu werten ist jedoch nur zulässig, wenn es Ausdruck von Rechtsfeindlichkeit und Uneinsichtigkeit ist (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 20 und Verteidigungsverhalten 12; Senatsbeschlüsse vom 24. März 1995 - 4 StR 113/95 und 10. März 1998 - 4 StR 66/98). Dies käme insbesondere dann in Betracht, wenn der Angeklagte die Zeugen zu den Falschaussagen zu seinen Gunsten veranlasst oder sie in Kenntnis ihrer Bereitschaft hierzu als Zeugen benannt hat.

2. Das Leugnen der Tat stellt ein zulässiges Verteidigungsverhalten eines Angeklagten dar. Dass dadurch der Geschädigten eine erneute - gerichtliche - Vernehmung nicht erspart bleibt, darf daher - für sich gesehen - nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden (vgl. hierzu BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 15).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum - Auswärtige Strafkammer Recklinghausen - vom 4. Juli 2003 mit den Feststellungen aufgehoben

a) in den Aussprüchen über die in den Fällen II. 2 bis 15 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen,

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung,

auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 15 Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlußformel ersichtlichen Teilerfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben.

Dagegen kann der Strafausspruch in Bezug auf die in den Fällen II. 2 bis 15 der Urteilsgründe verhängten Einzelfreiheitsstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben. Das Landgericht hat bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, er habe es zugelassen, "daß - zur sicheren Überzeugung der Kammer - seine Frau und sein Sohn falsch zu seinen Gunsten ausgesagt haben" (UA 21). Dies hält - wie die Revision zu Recht rügt - rechtlicher Nachprüfung nicht stand, denn es läßt besorgen, daß die Strafkammer das bloße Dulden der Falschaussagen in der Hauptverhandlung als Strafschärfungsgrund angesehen hat. Ein solches Prozeßverhalten des Angeklagten zu seinen Lasten zu werten ist jedoch nur zulässig, wenn es Ausdruck von Rechtsfeindlichkeit und Uneinsichtigkeit ist (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 20 und Verteidigungsverhalten 12; Senatsbeschlüsse vom 24. März 1995 - 4 StR 113/95 und 10. März 1998 - 4 StR 66/98). Dies käme insbesondere dann in Betracht, wenn der Angeklagte die Zeugen zu den Falschaussagen zu seinen Gunsten veranlaßt oder sie in Kenntnis ihrer Bereitschaft hierzu als Zeugen benannt hat. Dafür ist jedoch nichts festgestellt.

Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung der Einzelstrafaussprüche in den Fällen 2 bis 15 der Urteilsgründe (Geschädigte Yvonne T.) und des Ausspruches über die Gesamtstrafe. Der Senat kann jedoch ausschließen, daß er sich auf die Bemessung der Einzelstrafe im Fall 1 (Geschädigte Nadine H.) zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat; diese kann daher bestehen bleiben.

Der mit der erneuten Strafzumessung befaßte Tatrichter wird zu beachten haben, daß das Leugnen der Tat ein zulässiges Verteidigungsverhalten eines Angeklagten darstellt. Der vom Landgericht weiterhin angeführte Gesichtspunkt, daß dadurch der Geschädigten eine erneute - gerichtliche - Vernehmung nicht erspart bleibt, darf daher - für sich gesehen - nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden (vgl. hierzu BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 15).

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 141

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2004, 106; StV 2004, 480

Bearbeiter: Karsten Gaede