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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 ARs 4/01, Beschluss v. 16.10.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 ARs 4/01 - Beschluss vom 16. Oktober 2001 (OLG Frankfurt/Main)

BGHSt 47, 120; Zweites Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen (Erklärung bei Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ohne Kenntnis des Auszuliefernden); Rechtliches Gehör; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP (Italienische Strafprozeßordnung); Vorlegung nach IRG (grundsätzliche Bedeutung); Völkerrechtlicher Mindeststandard; Verfassungsrechtliche Grundsätze der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (ordre public)

Art. 3 2. ZP-EuAlÜbk; Art. 175 Ital. CPP; Art. 103 Abs. 1 GG; § 42 Abs. 1 IRG; Art. 25 GG

Leitsätze

1. Hatte der Verfolgte von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis, so ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils regelmäßig nur dann zulässig, wenn die italienischen Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 abgeben. (BGHSt)

2. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. nur BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 337 ff.; BGHSt 20, 198, 201 f.; 32, 314, 319, 324 ff.) haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht gehindert - und bei Abwesenheitsurteilen regelmäßig dazu verpflichtet - zu prüfen, ob die Auslieferung und ihr zugrunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar sind (BVerfGE 59, 280, 282 f.; BVerfG NJW 1991, 1411). (Bearbeiter)

3. Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden haben, daß niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (BVerfG NJW 1991, 1411 m.w.N.). Daraus ergibt sich für das Strafverfahren das zwingende Gebot, daß der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich nutzen können muß, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (BVerfGE 63, 332, 337). (Bearbeiter)

4. Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 338). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Hatte der Verfolgte von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis, so ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils regelmäßig nur dann zulässig, wenn die italienischen Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 abgeben.

Gründe

I.

1. Die italienischen Strafverfolgungsbehörden haben um Auslieferung des italienischen Staatsangehörigen Filippo B. zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen schweren betrügerischen Bankrotts (Tatzeit: 1994 bis 17.11.1995) aus einem Urteil des Landgerichts Padua vom 18. Mai 1998 ersucht. Die Entscheidung, gegen die ein Rechtsmittel nicht eingelegt wurde und die seit dem 31. Oktober 1998 rechtskräftig ist, war in Abwesenheit des Verfolgten ergangen (Art. 487 Codice di procedura penale [CPP]), da dessen Aufenthalt nicht ermittelt werden konnte. Die Ladung zur Hauptverhandlung und das Urteil wurden - wie in Art. 159 Abs. 1 CPP vorgesehen - durch Aushändigung an den vom Gericht bestellten Pflichtverteidiger zugestellt. Nach dem Inhalt der Auslieferungsunterlagen ist davon auszugehen, daß der Verfolgte - der seit Juli 1995 eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland besaß und in Frankfurt am Main wohnte, wo ihm das italienische Generalkonsulat noch am 13. November 1998 seinen Paß verlängerte - von dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis hatte. Anhaltspunkte dafür, daß sich der Verfolgte bewußt dem Strafverfahren durch Flucht entzogen hat, sind nicht ersichtlich.

Mit Beschluß vom 15. März 2000 hat das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Oberlandesgericht Frankfurt die italienischen Behörden um die Erklärung gebeten, ob dem Verfolgten in dem Verfahren rechtliches Gehör gewährt und ihm Gelegenheit zu seiner Verteidigung eingeräumt worden sei. Falls dies nicht erfolgt sei, ist um die Zusicherung (gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 des 2. Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 [2. ZP-EuAlÜbk]) ersucht worden, daß dem Verfolgten die Möglichkeit gewährt wird, gegen seine Verurteilung ein neues Gerichtsverfahren zu betreiben, in dem er seine Verteidigungsrechte wahrnehmen und sich insbesondere auch gegen den Schuldvorwurf wehren kann. Die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Appellationsgericht von Venedig hat sich zu einer solchen Erklärung nicht in der Lage gesehen; das italienische Recht sehe lediglich die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Art. 175 Abs. 2 CPP) vor.

Der Verfolgte, der einwendet, daß das gegen ihn durchgeführte Abwesenheitsverfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprochen habe und seine Auslieferung daher unzulässig sei, ist zwischenzeitlich in anderer Sache an Italien ausgeliefert worden. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung des hier in Rede stehenden Urteils ist zurückgestellt worden.

2. Das Oberlandesgericht Frankfurt möchte die Auslieferung für zulässig erklären. Ein Auslieferungshindernis wegen mangelnder Gewährung rechtlichen Gehörs oder fehlender Wahrung angemessener Verteidigungsrechte bestehe nicht, weil Art. 175 CPP dem Verfolgten eine hinreichende Möglichkeit gebe, die erneute gerichtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils zu erreichen. An der beabsichtigten Entscheidung sieht es sich jedoch durch die Beschlüsse des Thüringer Oberlandesgerichts vom 2. Februar 1998 - Ausl. 2/97 (= StV 1999, 265), des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. August 1998 - 4 Ausl(A) 201/98 - 259 -250/98 III - (= StV 1999, 270) und des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 28. August 1998 - 1 AK 14/98 - (= StV 1999, 268) gehindert. Diese Gerichte vertreten die Auffassung, daß Art. 175 CPP die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zureichend sichere.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat deshalb die Sache zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

"Genügt im Falle eines in Italien ergangenen Abwesenheitsurteils allein der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP (Italienische Strafprozeßordnung), um eine Auslieferung zur Vollstreckung der Strafe aus dem Abwesenheitsurteil für zulässig erklären zu können, oder bedarf es dafür zusätzlich einer Erklärung der italienischen Behörden gemäß Art. 3 Abs. 1 S. 2 u. 3 des 2. Zusatzprotokolls vom 17.03.1978 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957"?

3. Der Generalbundesanwalt hat eine Entscheidung im Sinne des Senatsbeschlusses beantragt.

II.

1. Die Vorlegung ist zulässig (§ 42 Abs. 1 IRG).

a) Das Oberlandesgericht Frankfurt kann nicht wie beabsichtigt entscheiden, ohne von der in den Beschlüssen des Thüringer Oberlandesgerichts und der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Karlsruhe vertretenen Rechtsansicht abzuweichen (§ 42 Abs. 1 2. Alt. IRG). Die aufgeworfene Rechtsfrage ist auch von grundsätzlicher Bedeutung (§ 42 Abs. 1 1. Alt. IRG); denn sie kann sich im deutsch-italienischen Auslieferungsverkehr über den vorgelegten Einzelfall hinaus jederzeit wieder stellen (vgl. BGHSt 34, 256, 258 f.; 42, 243, 247). -

b) Die Rechtsfrage ist auch für das anhängige Auslieferungsverfahren von Bedeutung (vgl. BGHSt 34, 256, 259), da von ihrer Beantwortung die vom Oberlandesgericht zu treffende Entscheidung abhängt.

2. Die Vorlegungsfrage ist jedoch zu weit gefaßt, weil sie auch die regelmäßig unproblematischen Fälle mit umfaßt, in denen der Verfolgte von dem Verfahren, dem Hauptverhandlungstermin oder gar zudem von dem Urteil Kenntnis hatte (vgl. hierzu BVerfG NJW 1987, 830; 1991, 1411 f.; zu den "Fluchtfällen" siehe ferner BVerfG in Eser/Lagodny/Wilkitzki (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 2. Aufl. [1993] U 167, S. 573; OLG Hamm NStZ-RR 2001, 62; Lagodny in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 3. Aufl. § 73 IRG Rdn. 78 ff. m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor.

Die Vorlegungsfrage ist daher wie folgt zu fassen:

Ist in Fällen, in, denen der Verfolgte von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis hatte, die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils nur dann zulässig, wenn die italienischen Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung gemäß Art, 3 Abs. 1 Satz 2 des 2. Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 abgeben?

III.

Der Senat beantwortet die Frage wie aus der Beschlußformel ersichtlich.

1. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. nur BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 337 ff.; 75, 1, 19 f.; BVerfG NJW 1987, 830; 1991, 1411; BGHSt 20, 198, 201 f.; 30, 55, 61; 32, 314, 319, 324 ff.; OLG Düsseldorf StV 1999, 270, 271; OLG Hamm StV 1997, 364, 365; OLG Karlsruhe StV 1999, 268, 269; Thür. OLG StV 1999, 265, 266) haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht gehindert - und bei Abwesenheitsurteilen regelmäßig dazu verpflichtet (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2001, 62; KG StV 1993, 207, 208) - zu prüfen, ob die Auslieferung und ihr zugrunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar sind (BVerfGE 59, 280, 282 f.; BVerfG NJW 1991, 1411).

Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden haben, daß niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (BVerfG NJW 1991, 1411 m.w.N.). Daraus ergibt sich für das Strafverfahren das zwingende Gebot, daß der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich nutzen können muß, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (BVerfGE 63, 332, 337).

Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 338).

Danach ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des ihn betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm die Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (BVerfG NJW 1991, 1411).

2. Bei Anlegung dieser Maßstäbe wäre die Auslieferung des Verfolgten nur dann zulässig, wenn er sich, nachdem er Kenntnis von dem gegen ihn ergangenen Abwesenheitsurteil erlangt hat, rechtliches Gehör verschaffen und wirksam verteidigen könnte (vgl. Vogler in Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 2. Aufl. IRG § 73 Rdn. 16 m.w.N. und die dem entsprechende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK: EuGRZ 1985, 631, 635; 1992, 539 f. und 541 f.; NJW 2001, 2387, 2390 f.).

a) Die italienische -Strafprozeßordnung vom 22. September 1988 sieht im Falle eines Abwesenheitsurteils (sentenza contumaciale nach Art. 487 CPP) in n Art. 175 Abs. 2 CPP die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Art. 175 CPP lautet auszugsweise wie folgt (italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bozen 1991):

2. Wurde ein Säumnisurteil (487) ... erlassen, kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung eines Rechtsmittels [hier: appello (Art. 593 ff. CPP); ricorso (Art.569, 606 ff. CPP)] ... auch vom Angeklagten beantragt werden, wenn er nachweist, daß er von der Verfügung tatsächlich keine Kenntnis erlangt hat, sofern das Rechtsmittel nicht bereits vom Verteidiger erhoben worden und der Umstand nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen ist oder sich der Angeklagte nicht bewußt der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen entzogen hat, wenn das Säumnisurteil in den in den Artikeln 159 [wie hier] ... vorgesehenen Fällen durch Aushändigung an den Verteidiger zugestellt worden ist.

3. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bei sonstigem Ausschluß innerhalb von zehn Tagen ab jenem Tag einzubringen, an dem der den Zufall oder die höhere Gewalt begründende Umstand aufgehört hat, oder in den in Absatz 2 vorgesehenen Fällen ab jenem Tag, an dem der Angeklagte von der Verfahrenshandlung tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Die Wiedereinsetzung kann für jede Partei nur einmal in jeder Instanz des Verfahrens gewährt werden.

4. Über den Antrag entscheidet das im Zeitpunkt der Antragstellung mit dem Verfahren befaßte Gericht mit Beschluß. Vor der Erhebung der Anklage verfügt der Richter für die Vorerhebungen. Wurde ein Urteil oder ein Strafbefehl erlassen, entscheidet das Gericht, das für das Rechtsmittel oder den Widerspruch zuständig wäre.

b) Die Oberlandesgerichte, die Art. 175 CPP als nicht ausreichend zur Wahrung der Rechte des Verfolgten ansehen (vgl. etwa auch KG StV 1993, 207, 208; OLG Nürnberg StV 1997, 648, 649; SchlHOLG StV 1996, 102, 103), begründen ihre Auffassung damit, daß dem Rechtsbehelf wegen der Beweislastregeln und der kurzen Frist von zehn Tagen ab Erlangung der Kenntnis von dem Urteil, innerhalb derer der Verfolgte den Antrag auf Wiedereinsetzung bei dem italienischen Rechtsmittelgericht stellen muß (Art. 175 Abs. 3, Abs. 4 Satz 3 CPP), keine "mängelheilende Wirkung" im Sinne einer hinreichenden Gewährung nachträglichen rechtlichen Gehörs zuerkannt werden könne.

c) Diese Auffassung ist zutreffend, sofern Art. 175 CPP eng ausgelegt wird: So wird es einem in Auslieferungshaft befindlichen Verfolgten nur in Ausnahmefällen möglich sein, innerhalb von zehn Tagen seit seiner Kenntnis, daß ein vollstreckbares italienisches (Abwesenheits-)Urteil vorliegt, einen Wiedereinsetzungsantrag bei dem zuständigen Gericht in Italien zu stellen. Er wird auch kaum seine "Nichtkenntnis" vom Urteil, das "Nichtverschulden" seiner Unkenntnis und seine "Nichtentziehung" von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen - also Negativtatsachen - beweisen können.

d) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Hinblick auf Art. 6 EMRK jedoch von Italien gefordert, daß das dem in Abwesenheit Verurteilten zur Verfügung stehende Rechtsmittel "Wirksam" sein müsse und dem Verurteilten nicht die Beweislast dafür auferlegt werden dürfe, "daß er sich der Gerechtigkeit nicht entziehen wollte oder daß seine Abwesenheit die Folge höherer Gewalt war" (Urteil vom 12. Februar 1985 - Nr. 7A/1983/63197 - Colozza gegen Italien [betreffend das frühere italienische Strafprozeßrecht] =, EuGRZ 1985, 631, 632, 635 mit Besprechung Fahrenhorst EuGRZ 1985, 629; vgl. auch EGMR NJW 2001, 2387, 2390 f. [Krombach gegen Frankreich]). Die italienische Regierung hat daraufhin erklärt, daß im Hinblick auf die Neufassung der italienischen Strafprozeßordnung (in Kraft seit dem 24. Oktober 1989) und den "zunehmenden Willen der italienischen Gerichte, den Erfordernissen der Konvention Rechnung zu tragen", die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Grundsätze beachtet würden (vgl. die Entschließungen des Ministerkomitees des Europarates vom 14. Dezember 1993 [504. Sitzung] - DH 93 [64] und [65]). Diese Zusage wird jedoch - worauf das vorlegende Oberlandesgericht selbst hinweist - in der italienischen Rechtspraxis nur unzureichend beachtet (vgl. OLG Karlsruhe StV 1999, 268, 270; von Bubnoff ZEuS 1999, 393, 400 f.). Bei einer Art. 6 EMRK entsprechenden, "verfolgtenfreundlichen" Auslegung des Art. 175 CPP bestünden keine Bedenken, daß dem Verfolgten nachträglich ausreichend rechtliches Gehör gewährt wird. Das wäre etwa der Fall, wenn die italienischen Behörden es dem in Auslieferungshaft einsitzenden Verfolgten ermöglichen, die 10-Tagesfrist (Art. 175 Abs. 3 CPP) einzuhalten, und es als ausreichend angesehen wird, daß sich die Nichtkenntnis des Urteils aus den Akten ergibt - was in der Regel der Fall sein dürfte, wenn der Pflichtverteidiger, an den die Zustellungen erfolgt sind, keinen Kontakt zu dem (unauffindbaren) Verurteilten hatte.

e) Einer solchen Auslegung steht der Wortlaut des Art. 175 CPP nicht von vornherein entgegen. Zwar steht es deutschen Behörden nicht zu, italienischen Gerichten vorzugeben, wie italienische Gesetze auszulegen sind; nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 des 2. ZP-EuAlÜbk, das für Italien seit dem 23. April 1985 und für die Bundesrepublik Deutschland seit dem 6. Juni 1991 in Kraft ist (BGBl. II. 1991, 874), kann jedoch für die Auslieferung bei einem Abwesenheitsurteil die Zusicherung des ersuchenden Staates verlangt werden, daß dem Verfolgten das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet wird, in dem seine Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Zur Durchsetzung einer dem entsprechenden Auslegung des Art. 175 CPP ist - derzeit - eine solche Zusicherung regelmäßig - abhängig von den Umständen des Einzelfalles (vgl. Vogler a.a.O. Rdn. 14) - zu fordern, wenn der Verfolgte, dessen Auslieferung aufgrund eines Abwesenheitsurteils begehrt wird, von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis hatte.

Externe Fundstellen: BGHSt 47, 120; NJW 2002, 228; NStZ 2002, 166; StV 2002, 85; StV 2003, 94

Bearbeiter: Karsten Gaede