hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 477/00, Urteil v. 08.03.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 477/00 - Urteil v. 8. März 2001 (LG Düsseldorf)

Unzulässige Aufklärungsrüge (Aufnahme von Lichtbildern); Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht; Körperverletzungsvorsatz und "Schrecksekunde"; Tötungsvorsatz (Gefährliche Handlung; voluntatives Element)

§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO: § 223 StGB; § 16 StGB; § 15 StGB; § 212 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine zulässige Aufklärungsrüge setzt voraus, daß das Ergebnis konkret bezeichnet wird, das von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre.

2. Ein Erfahrungssatz, daß innerhalb einer Sekunde ein Körperverletzungsvorsatz nicht gefaßt werden kann, besteht nicht; vielmehr ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß (im Straßenverkehr) Reaktionszeiten von unter einer Sekunde in Betracht kommen.

3. Zur Vorsatzprüfung bei besonders gefährlichen Handlung (erforderliche Gesamtbetrachtung, voluntatives Element).

Entscheidungstenor

I. Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 23. Mai 2000 werden verworfen.

II. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die hierdurch dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und einem Monat verurteilt: ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist von fünf Jahren bestimmt, vor deren Ablauf dem Angeklagten keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Gegen dieses Urteil wenden sich der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend macht, insbesondere die Annahme vorsätzlich herbeigeführter Verletzung des Tatopfers. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrem auf die Sachbeschwerde gestützten Rechtsmittel die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes. Beide Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

II.

Am Nachmittag des Tattages fuhr der Angeklagte zusammen mit den gesondert Verfolgten A. und D. mit einem Kleintransporter des Typs Renault Traffic auf den in Ratingen gelegenen Betriebshof der Spedition des 71-jährigen Johann Sch., um dort gelagerte gebrauchte Gitterboxen und Paletten zu entwenden. Sie hatten bereits den Kleintransporter verlassen, als sie von dem Kraftfahrer der Firma, T., bemerkt wurden, der etwa zeitgleich mit einem Lkw auf den Betriebshof gefahren war. Nach Rücksprache mit dem Juniorchef der Firma forderte T, die drei auf, das Gelände sofort zu verlassen, woraufhin sie sich zu dem Kleintransporter begaben. Bevor sie das Fahrzeug erreicht hatten, kam ihnen Johann Sch., der Seniorchef der Firma, zusammen mit dem Kraftfahrer T. und drei weiteren Betriebsangehörigen entgegen und forderte sie auf, "zum Zwecke der Feststellung der Personalien stehen zu bleiben, er habe die Polizei verständigt." Der Angeklagte und seine Begleiter wollten sich "auf keinen Fall von der Polizei festnehmen lassen" und "entschlossen .... sich, mit dem Kleintransporter zu fliehen". Während D. und A. durch die Hofzufahrt auf die Straße rannten, gelang es dem Angeklagten trotz Eingreifens von Johann Sch., in den Kleintransporter einzusteigen. Er wendete nunmehr das Fahrzeug, um das Gelände ebenfalls zu verlassen, schaffte den Wendevorgang jedoch nicht in einem Zuge, sondern mußte vor einer Mauer kurz anhalten und zurücksetzen. Der Versuch eines der Betriebsangehörigen, ihn in diesem Augenblick aus dem Fahrzeug zu ziehen, mißlang. "Der Angeklagte legte den Vorwärtsgang ein und gab kräftig Gas". Zu diesem Zeitpunkt stand Sch. auf dem Zufahrtsweg mit Blickrichtung zur Straße. "Als er hörte, wie hinter ihm der Kleintransporter mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen anfuhr, drehte er sich nach rechts um". Weiter stellt das Landgericht fest (UA 11):

"Bevor er die Körperdrehung vollendet hatte, wurde er von der Fahrerseite des Kleintransporters, welcher nach dem Anfahren etwa eine Fahrzeuglänge zurückgelegt hatte, erfaßt, so daß er .... teils an die Motorhaube, teils an die Windschutzscheibe angeschmiegt wurde. Zugunsten des Angeklagten ist anzunehmen, daß er ... Sch. überhaupt nicht gesehen oder erst so spät bemerkt hat, daß er den Zusammenstoß nicht mehr hat verhindern können. Sicher ist jedoch, daß er jedenfalls nach dem Zusammenstoß erkannte, daß sich der Zeuge auf der Fahrzeugfront befand, bei Fortsetzung der Fahrt überfahren werden und dadurch auch tödliche Verletzungen davontragen konnte. ( ... ). Aus Angst vor einer polizeilichen Festnahme .... setzte (er) die Fahrt mit unverminderter Beschleunigung fort. Hierbei nahm er erhebliche Verletzungen des Zeugen Sch. in Kauf, er vertraute aber darauf, daß der Zeuge das Überfahren überleben werde. 1 bis 2 Sekunden nach dem Zusammenstoß war der Zeuge Sch. so weit nach unten gerutscht, daß sein rechtes Bein vom linken (fahrerseitigen) Vorderrad erfaßt und dadurch .... auf die Fahrbahndecke gezogen wurde. Sodann fuhr der Wagen mit dem linken Vorder- und dem linken Hinterrad über die rechte Wade, quer über den Rumpf und über das linke Schulterblatt und Schlüsselbein des Zeugen."

Zwischenzeitlich war der Kraftfahrer T. mit einem Sattelschlepper der Firma an dem Kleintransporter vorbei auf die Straße gefahren, wo er dem Angeklagten den Weg abschnitt, indem er mit dem Lkw von rechts gegen den Kleintransporter stieß, der dadurch zwischen dem Lkw und zwei links geparkten Pkw eingekeilt wurde. Um sich aus dieser Situation zu befreien, gab der Angeklagte "Vollgas", so daß es ihm gelang, die Lücke zu durchstoßen und zu flüchten. An einem der Pkw und dem Lkw entstand ein Sachschaden in Höhe von zusammen mindestens 20.000 DM.

III. Revision des Angeklagten

1. Die Verfahrensbeschwerden, mit denen eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) geltend gemacht wird, sind unzulässig, da sie nicht der in § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form genügen.

Soweit der Beschwerdeführer die fehlende Inaugenscheinnahme der vom Tatfahrzeug gefertigten Lichtbilder beanstandet, hätten die betreffenden Lichtbilder in die Revisionsbegründung aufgenommen werden müssen (BGH, Urteil vom 28. November 2000 - 5 StR 299/00). Im übrigen fehlt es hier ebenso wie bei der weiteren Aufklärungsrüge, die die im Fall eines Abbremsens durch den Angeklagten drohenden Verletzungsfolgen betrifft, an der konkreten Bezeichnung des Ergebnisses, das von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 244 Rdn. 81 m.N.). Mit den weiteren beiden Aufklärungsrügen wendet sich die Revision im Ergebnis ausschließlich gegen die Beweiswürdigung, sie sind deshalb nur im Rahmen der Sachrüge zu beachten.

2. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Sachbeschwerde hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der Revision sind unbegründet. Die Annahme des - sachverständig beratenen - Landgerichts, der Angeklagte habe den Geschädigten nach dem Anstoß, durch den er ihn auf dem Fahrzeug mitnahm, wahrgenommen, beruht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage.

Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch ein Handeln mit (bedingtem) Körperverletzungsvorsatz durch den Angeklagten bejaht. Daß dem Angeklagten - wovon zu seinen Gunsten auszugehen ist - nur eine Sekunde für die Entscheidung verblieb, durch Abbremsen einer Verletzungsgefahr für den Geschädigten zu begegnen oder unter Inkaufnahme dieser Gefahr weiterzufahren, stellt den Vorsatz nicht in Frage. Der Kleintransporter fuhr - wie das Landgericht feststellt - beim Zusammenstoß mit dem Geschädigten nur "wenige Stundenkilometer", "so daß es ohne weiteres möglich gewesen wäre, das Fahrzeug durch Betätigung der Fußbremse sofort anzuhalten". Davon ausgehend stellt es einen möglichen - und deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmenden - Schluß dar, wenn sich das Landgericht unter Berücksichtigung insbesondere der Motivlage des Angeklagten die Überzeugung verschafft hat, daß er sich "bewußt für die Fortsetzung der Flucht und - damit verbunden - für die Gefahr eines Überrollens des Zeugen Sch. entschieden hat". Ein Erfahrungssatz, daß - wie die Revision mit Blick auf den Begriff der "Schrecksekunde" meint - innerhalb einer Sekunde ein solcher Verletzungsvorsatz nicht gefaßt werden kann, besteht nicht; vielmehr ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß Reaktionszeiten von unter einer Sekunde in Betracht kommen (vgl. die Nachweise bei Hentschel Straßenverkehrsrecht 36. Aufl. StVO § 1 Rdn. 29 und 30). Die Würdigung durch das Schwurgericht steht schließlich auch nicht im Widerspruch zur Verneinung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes (dazu unten IV auf die Revision der Staatsanwaltschaft).

Auch die Verurteilung, des Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und die Rechtsfolgenentscheidung sind frei von Rechtsfehlern zum Nachteil des Angeklagten. Insoweit erhebt die Revision auch keine ausdrücklichen Einwendungen.

IV. Revision der Staatsanwaltschaft

Die Begründung, mit der das Landgericht zwar einen Verletzungsvorsatz beim Angeklagten bejaht, einen (bedingten) Tötungsvorsatz aber verneint hat, hält im Ergebnis ebenfalls rechtlicher Nachprüfung stand.

Zwar liegt es bei besonders gefährlichen Verhaltensweisen, wie es das Mitschleifen eines Menschen an einem beschleunigenden Kraftfahrzeug darstellt, nahe, daß der Täter auch mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne dabei zu Tode kommen. Das hat das Landgericht auch angenommen. Der bedingte Tötungsvorsatz setzt jedoch weiter voraus, daß der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges, den er als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, auch billigt (st. Rspr.; BGH NStZ 1981, 22 f; 1984, 19 m.w.N.). Deshalb bedarf der Schluß von der Gefährlichkeit der Tathandlung auf einen bedingten Tötungsvorsatz im Hinblick auf die gegenüber der Tötung eines anderen Menschen bestehende hohe Hemmschwelle einer eingehenden Prüfung anhand aller Umstände des Einzelfalles (st. Rspr.; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter, 1, 2, 3, 5, 12, 13). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil noch gerecht.

Die Beschwerdeführerin weist allerdings zu Recht darauf hin, daß sich der vorliegende Fall wesentlich von jenen Sachverhalten unterscheidet, in denen der Täter zwar mit einem Kraftfahrzeug auf eine Person zufährt, aber - wie namentlich in den Fällen der Polizeiflucht - darauf vertraut, der andere werde unter dem Eindruck des sich nähernden Fahrzeugs noch rechtzeitig die Fahrspur freigeben (vgl. BGH StV 1992, 420; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 28 und 43). Bei der hier gegebenen Situation, bei der der Angeklagte den Geschädigten nach dem Anstoß mit dem Fahrzeug mitschleifte, konnte sich jener kaum ohne Schaden außer Gefahr bringen. Dies vermag zwar den von dem Schwurgericht zutreffend bejahten Körperverletzungsvorsatz zu begründen, belegt für sich jedoch noch nicht auch einen bedingten Tötungsvorsatz (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 1993 - 4 StR 624/92). Daß der Angeklagte die Lebensgefährlichkeit der Verletzungshandlung erkannt, sich dennoch aber nicht bewußt mit dem Tod des Geschädigten abgefunden hat, entspricht der Unterscheidung des Gesetzes zwischen vorsätzlicher Tötungshandlung und vorsätzlicher Körperverletzung "mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung" (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 10, 41) und läßt deshalb in bezug auf einen möglichen Tötungserfolg nur den Vorwurf der (bewußten) Fahrlässigkeit zu (std. Rspr.; BGH NJW 1999, 2533, 2534). Davon ist das Landgericht hier im Ergebnis ohne einen den Angeklagten begünstigenden Rechtsfehler ausgegangen.

Was die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, erschöpft sich letztlich in dem im Revisionsverfahren unbeachtlichen Versuch, die dem Tatrichter vorbehaltene Würdigung der zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen durch eine eigene zu ersetzen. Dabei verfehlt die Beschwerdeführerin schon insoweit den revisionsrechtlich zutreffenden Ansatz, als sie davon ausgeht, daß der Angeklagte "vorsätzlich auf den Zeugen zugefahren ist" (RB S. 4); denn hiermit wendet sie sich gegen die vom Landgericht getroffenen Feststellungen, das sich gerade nicht die Überzeugung zu verschaffen vermocht hat, "daß der Angeklagte den Zeugen Sch. so rechtzeitig bemerkt hat, daß er den Zusammenstoß noch durch Abbremsen oder Ausweichen hätte verhindern können". Die nach den Umständen mögliche und deshalb rechtsfehlerfrei gezogene Schlußfolgerung, dem Angeklagten sei ein gezieltes Zufahren auf den Geschädigten nicht nachzuweisen, bindet das Revisionsgericht (Kuckein in KK-StPO 4. Aufl. § 337 Rdn. 3 m.N.). Hiernach verblieb dem Angeklagten nach dem Anstoß bis zum Überrollen des Geschädigten nach dem Zweifelsgrundsatz nur eine Sekunde für die Entschließung, entweder anzuhalten oder unter Inkaufnahme der für den Geschädigten bestehenden Gefahr die Fahrt zur Flucht fortzusetzen. Wenn sich das Landgericht angesichts dieser Kürze und Schnelligkeit des Geschehensablaufs, der Spontaneität des Tatentschlusses und des auf Flucht und - wie es ausdrücklich erörtert - nicht auf "Einsatz von körperlicher Gewalt" ausgerichteten Bestrebens des Angeklagten nicht mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit davon überzeugen konnte, daß der Angeklagte "auch die erhöhte Hemmschwelle, welche vor der Billigung eines tödlichen Ausgangs liegt, überwunden hat", so ist dies von Rechts wegen nicht zu beanstanden (vgl. Senatsurteil vom 30. Mai 2000 - 4 StR 90/00, StraFo 2000, 417).

Die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes durch das Schwurgericht steht auch nicht in unauflösbarem Widerspruch zu Erwägungen im Rahmen der Strafzumessung. Zwar lastet das Landgericht dem Angeklagten straferschwerend an, es sei "einzig dem Zufall zu verdanken", daß der Unfall nicht tödlich ausgegangen sei. Damit umschreibt das Urteil aber - wie der Zusammenhang erkennen läßt - nur die objektive "besondere Gefährlichkeit der Tathandlung". Dies belegt aber - wie ausgeführt - nicht schon für sich das voluntative Element des (bedingten) Tötungsvorsatzes.

Externe Fundstellen: StV 2001, 572; StV 2004, 304

Bearbeiter: Karsten Gaede