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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 483/99, Urteil v. 25.10.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 483/99 - Urteil v. 25. Oktober 2000 (LG Verden)

Sachaufklärungspflicht des Gerichts bezüglich "Alibibeweisantrag"

§ 244 Abs. 2 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 31. Mai 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in fünf Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern, begangen in der Zeit von Ende 1992 bis November 1995 zum Nachteil seiner am 1. September 1980 geborenen Stieftochter Tanja S. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, im übrigen hat es ihn freigesprochen.

Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Sachrüge erhebt. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

Das Landgericht hat im Fall II 2 der Urteilsgründe festgestellt, daß der Angeklagte und Tanja am späten Abend des 30. April 1995 gemeinsam auf einer Decke auf dem Fußboden des Wohnzimmers lagen und Fernsehen sahen. Der Angeklagte zog sich plötzlich seine Hose aus, kniete sich über Tanja, steckte dieser gegen ihren Willen sein erigiertes Glied in den Mund und bewegte es dort hin und her, bis er zum Samenerguß kam. Das Ejakulat schluckte Tanja anschließend herunter. Die Überzeugung des Landgerichts von dieser Tat sowie der übrigen Taten beruhen auf den Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung, die das Landgericht den Feststellungen zugrunde gelegt und insoweit Bezug genommen hat auf UA S. 4 bis 6 (vgl. UA S. 14 f.). Auf diese Angaben gestützt hat es den sämtliche ihm zur Last gelegten Taten bestreitenden Angeklagten für überführt gehalten, seine Stieftochter Tanja in der Zeit von Ende 1992/Anfang 1993 bis November 1995 in sechs Fällen sexuell mißbraucht zu haben (vgl. UA S. 12). Die Revision beanstandet jedenfalls mit der zulässigen Aufklärungsrüge im Ergebnis zu Recht, daß das Landgericht einen im Rahmen des letzten Wortes gestellten "Alibibeweisantrag" weder in der Hauptverhandlung noch in den Urteilsgründen beschieden hat.

Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls wurde dem Angeklagten nach den Schlußanträgen der Staatsanwaltschaft, der Nebenklage und der Verteidigung das letzte Wort gewährt und er befragt, ob er selbst noch etwas zur Verteidigung anzuführen habe. Der Angeklagte erklärte, ich bin nicht schuldig in allen Fällen der Anklage. Er machte ergänzende Ausführungen zu den Anträgen der Vertreterin der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägervertreterin. Die Sitzung wurde daraufhin kurz unterbrochen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls machte der Angeklagte ergänzende Ausführungen und erklärte, daß er am 30. April 1995 beim Angeln war, die Zeugen Ralf R., Sch., Andreas M., Sch., und Andreas W. könnten das bestätigen; danach wurde das Urteil verkündet.

Der Senat hat im Freibeweisverfahren dienstliche Äußerungen der damals beteiligten Berufsrichter, der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft sowie der Protokollführerin zu den von der Revision behaupteten Umständen und den näheren Inhalt der Erklärung des Angeklagten eingeholt. Danach ist jedenfalls erwiesen, daß der Angeklagte in seinem letzten Wort angegeben hat, er sei am 30. April 1995, wie alljährlich wegen der am 1. Mai beginnenden Raubfischsaison, mit namentlich genannten Bekannten zum Angeln gewesen.

Es kann offenbleiben, ob diese Äußerung einen förmlichen Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 3 StPO darstellt, oder ob es sich nur um eine Beweisanregung handelt. Jedenfalls hätte sich das Landgericht entweder in der Hauptverhandlung oder zumindest in den Urteilsgründen dazu äußern bzw. damit auseinandersetzen müssen. Zwar muß über Ermittlungsanträge oder Beweisanregungen nicht stets ausdrücklich befunden werden (vgl. BGHSt 6, 128, 129; BGH NStZ 1982, 296, 297). Hier handelt es sich jedoch um eine für die zweite Tat wesentliche Alibibehauptung, der das Landgericht entweder aufgrund seiner Aufklärungspflicht nachzugehen hatte oder aber verpflichtet war, in den Urteilsgründen darzulegen, warum es sich nicht gedrängt gesehen hatte, die Alibibehauptung des Angeklagten zu überprüfen. Daran fehlt es.

Dieser Fehler veranlaßt den Senat, das Urteil insgesamt aufzuheben. Nach den Urteilsgründen beruht die Feststellung zur Tatzeit im Fall II 2 auf den Angaben der Geschädigten. Hätte die Alibibehauptung des Angeklagten ergeben, daß die festgestellte Tatzeit, nämlich der 30. April 1995, nicht richtig ist, träfen die Angaben der Geschädigten insoweit nicht zu. Dies kann die Glaubwürdigkeit der Geschädigten insgesamt in Frage stellen. Der Senat kann den Urteilsgründen keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte dazu entnehmen, daß die Überzeugung des Landgerichts von der Glaubwürdigkeit der Geschädigten und der Richtigkeit ihrer Angaben in den übrigen Fällen (II 1, sowie 3 bis 6 der Urteilsgründe) hiervon nicht berührt würde.

Externe Fundstellen: NStZ 2001, 160

Bearbeiter: Rocco Beck