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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 241/99, Urteil v. 27.10.1999, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 241/99 - Urteil v. 27. Oktober 1999 (LG Oldenburg)

Darlegungspflicht bei nicht standardisierten Sachverständigengutachten

§§ 267, 72 StPO

Leitsatz des BGH

Zum Umfang der Darlegungspflicht bei nicht standardisierten Sachverständigengutachten in den Urteilsgründen (hier: Anthropologisches Vergleichsgutachten und sog. "Jeansfaltenvergleichsgutachten").

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 2. März 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen (richtig: schwerer) räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg. Nach den Feststellungen überfiel der mit Ausnahme des Nasenbereichs vermummte und von der Raumüberwachungskamera photographierte Angeklagte am 21. Oktober 1994 eine Sparkasse. Er bedrohte die Kassiererin mit einer Pistole - nicht ausschließbar einer Scheinwaffe - und erpreßte so die Herausgabe von 7180 DM. Die Kammer hat sich aufgrund der "gesamten Indizien" (UA S. 8) von der Täterschaft des die Tat bestreitenden Angeklagten überzeugt. Dabei hat sie ihrer Überzeugungsbildung auch die Ergebnisse eines anthropometrischen Vergleichsgutachtens, wonach der Angeklagte mit einer Sicherheit von mindestens 96,7 % der Täter ist, und eines "Jeansfaltenvergleichsgutachtens", wonach es sich bei einer beim Angeklagten beschlagnahmten Jeanshose mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Hose handelt, die vom Täter beim Überfall getragen wurde, zugrundegelegt.

Das Urteil hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe den sachlichrechtlichen Anforderungen an die Darlegung von Gutachten nicht gerecht werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muß der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und ihm Beweisbedeutung beimißt, auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen, von dessen Sachkunde er überzeugt ist, anschließt, in der Regel die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch nur gedrängten) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlußfolgerungen im Urteil wiedergeben, um dem Revisionsgericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (BGHSt 12, 311, 314 f., BGH NStZ 1991, 596; BGH NStZ 1998, 83). Der Umfang der Darlegungspflicht richtet sich danach, ob es sich um eine standardisierte Untersuchungsmethode handelt, sowie nach der jeweiligen Beweislage und der Bedeutung, die der Beweisfrage für die Entscheidung zukommt (vgl. BGHSt 39, 291, 296 f.: BGHR StPO § 261 Sachverständiger 6).

1. Diesen Anforderungen genügt die Darstellung des anthropologischen Gutachtens nicht. Die Kammer teilt zu dem Gutachten lediglich mit:

"Nach dem weiteren Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. H. , der den Angeklagten anatomisch "vermessen" und anschließend am Tatort und auf der Dienststelle der Polizeiinspektion W. "ausgemessen" hat, ist bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von theoretisch minimal 3,3 Prozent bis maximal 1,2 Prozent davon auszugehen, daß das beim Angeklagten und beim Täter festgestellte Körpermaß-Merkmals-Muster ein und derselben Person angehört. Demgemäß ergibt sich eine Sicherheit für die Täterschaft des Angeklagten von 96,7 Prozent bis 98,8 Prozent."

Eine derartige, im wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränkte Darstellung kann zwar ausreichen, wenn es sich um ein allgemein anerkanntes und weithin standardisiertes Verfahren wie das daktyloskopische Gutachten (BGHR StPO § 261 Sachverständiger 4), die Blutalkoholanalyse (BGHSt 28, 235, 237 f.: Angabe des Mittelwerts genügt) oder die Bestimmung von Blutgruppen (BGHSt 12, 311, 314), handelt (grundlegend BGHSt 39, 291, 297 ff.). Ein solches standardisiertes Verfahren ist aber ein anthropologisches Vergleichsgutachten, bei dem anhand von Lichtbildern der Raumüberwachungskamera eine bestimmbare Zahl deskriptiver morphologischer Merkmale (z.B. Nasenfurche, Nasenkrümmung etc.) oder von Körpermaßen des Täters herausgearbeitet und mit den entsprechenden Merkmalen des Tatverdächtigen verglichen werden (vgl. BGH NStZ 1991, 596; BGH, Urt. vom 26. Mai 1999 - 3 StR 110/99), nicht.

Um dem Senat die Überprüfung der Schlüssigkeit des Gutachtens und seines Beweiswertes zu ermöglichen, hätte zunächst dargelegt werden müssen, auf welche und wie viele übereinstimmende metrische Körpermerkmale der Sachverständige sich bei seiner Bewertung gestützt und auf welche Art und Weise er diese Übereinstimmungen ermittelt hat. Auch fehlen Ausführungen im Urteil, aufgrund welcher Berechnungen der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt ist, daß der Angeklagte mit einer Sicherheit von 96,7 - 98,8 % der Täter ist. Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, auf welches biostatistische Vergleichsmaterial sich die Wahrscheinlichkeitsberechnung stützt (vgl. zu dem Problem der Merkmalshäufigkeit und zur Berechnung Knußmann, NStZ 1991, 175, 176; zum gleichgelagerten Problem bei der DNA-Analyse BGHSt 38, 320; BGHR StPO § 261 Identifizierung 11), d.h. ob dieses Vergleichsmaterial im Hinblick auf die Bevölkerungsabgrenzung, die Größe des Probandenkreises und das wegen der Akzeleration der Bevölkerung bedeutsame Alter der Untersuchung repräsentativ ist, also das Vorkommen des einzelnen Merkmals in der männlichen Bevölkerung zur Tatzeit zutreffend widerspiegelt, oder ob es sich nur um mehr oder weniger genaue, den Beweiswert der Wahrscheinlichkeitsaussage relativierende Anhaltswerte handelt (vgl. BGH, Urt. vom 26. Mai 1999 - 3 StR 110/99; Standards für die anthropologische ldentifikation lebender Personen auf Grund von Bilddokumenten NStZ 1999, 230, Knußmann aa0 177).

2. Auch die Ausführungen zum "Jeansfaltenvergleichsgutachten" begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht war zwar nicht gehindert, eine solche, bislang nicht in größerem Umfang erprobte kriminaltechnische Erkenntnisquelle (vgl. hierzu Senatsentscheidung NStZ 1998, 528, 529; hierzu auch Kohlhoff, Kriminalistik 1997, 421 ff.) im Rahmen der Beweiserhebung zu berücksichtigen. Die Aufklärungspflicht kann gebieten, sich auch über Methoden und Verfahren zu unterrichten, die noch nicht allgemein anerkannt sind. Bei der Beweiswürdigung hat das Gericht dann aber diesen Umstand einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, die sich sowohl auf die allgemeinen Grundsätze der neuen Methode selbst als auch auf ihre konkrete Anwendung beziehen muß (BGHSt 41, 206, 215; BGH NStZ 1994, 250). Insbesondere ist der Tatrichter zu einer kritischen Würdigung des Beweiswerts verpflichtet.

Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht. Die Kammer hat ausgeführt:

"Nach dem Gutachten des kriminaltechnischen Sachverständigen ist eine der bei dem Angeklagten beschlagnahmten Hosen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Jeanshose, die bei dem Überfall auf die Sparkasse durch die Raumüberwachungskamera abgelichtet wurde. Der Sachverständige hat in der Hauptverhandlung überzeugend dargelegt, daß Jeanskleidung in doppelter Hinsicht Besonderheiten aufweist. Zum einen weist die Kleidung eine Oberflächenstruktur auf, die keinen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und nicht reproduzierbar ist. Zum anderen entstehen - und dies ist das Entscheidende - beim Tragen von Jeanshosen individuelle Gebrauchsfalten, die nicht mehr zu beseitigen sind. Diese charakteristischen Merkmale spiegeln sich dabei in den Lichtbildern wider und sind damit hervorragend geeignet, für vergleichende Untersuchungen im Hinblick auf Identifizierungen herangezogen zu werden. Im vorliegenden Fall ließen sich bei einer der Hosen des Angeklagten auf der rechten Seite drei und auf der linken Seite zwei Falten feststellen, die sich auf den Lichtbildern wiederfinden, die von der Raumüberwachungskamera gemacht wurden."

Die Kammer teilt nicht mit, worauf die Erkenntnis beruht, daß beim Tragen von Jeans individuelle Gebrauchsfalten entstehen, die nicht zu beseitigen sind. Hinsichtlich des Faltenbildes beschränkt sich die Kammer auf den Hinweis, daß auf der rechten Seite der Jeans des Angeklagten drei und auf der linken Seite zwei Falten festzustellen seien, die sich auch auf den Lichtbildern der Raumüberwachungskamera wiederfänden. Mangels Beschreibung der Lichtbilder - bezüglich der Einzelheiten kann von § 267 Abs. 1 S. 3 StPO Gebrauch gemacht werden - ist es dem Senat nicht möglich, zu überprüfen, ob und in welchem Umfang die Lichtbilder zu Vergleichszwecken geeignet sind. Auch ist zu beachten, daß die Begutachtung eineinhalb Jahre nach der Tat stattfand, so daß sich die Kammer mit der Frage hätte auseinandersetzen müssen, ob durch den weiteren Gebrauch der Hose weitere Falten entstanden sein könnten, die das Faltenbild insgesamt verändert haben.

Externe Fundstellen: NJW 2000, 1350; NStZ 2000, 106; StV 2000, 125

Bearbeiter: Rocco Beck