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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, StB 30/96, Beschluss v. 26.06.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH StB 30/96 - Beschluss vom 26. Juni 1997 (OLG Celle)

BGHSt 43, 112; Anrechnung von verfahrensfremder Untersuchungshaft bei funktionaler Verfahrenseinheit (Begriff; erforderlicher Tatzusammenhang; analoge Anwendung); Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung.

§ 51 Abs. 1 S. 1 StGB; § 57 Abs. 2 StGB

Leitsätze

1. Anrechnung so genannter verfahrensfremder Untersuchungshaft bei funktionaler Verfahrenseinheit. (BGHSt)

2. Der Senat kann offen lassen, ob und gegebenenfalls bei welcher Verfahrenslage es allgemein zulässig erscheint, verfahrensfremden Freiheitsentzug analog § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB anzurechnen. Einer abschließenden Entscheidung hierzu bedarf es nicht, wenn § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB infolge einer funktionalen Verfahrenseinheit anzuwenden ist. Der in § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB mit den Worten aus Anlass einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist umschriebene Grundsatz der Verfahrenseinheit ist nicht notwendigerweise mit dem Begriff einer förmlichen, nach den Regeln des Prozessrechts durchgeführten Verbindung der in Betracht kommenden Verfahren gleichzusetzen, er ist vielmehr einer Auslegung zugänglich. (Bearbeiter)

3. Nach der gesetzlichen Anrechnungsregelung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ist es allerdings erforderlich, dass zwischen den Strafverfolgungen hinsichtlich der die Untersuchungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der Verurteilung zugrunde liegt, ein Zusammenhang bestanden haben muss. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 18. September 1996, durch welchen der Antrag auf Reststrafaussetzung zur Bewährung als unzulässig verworfen worden ist, aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Beschwerde, an das Oberlandesgericht Celle zurückverwiesen.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin ist durch Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 28. Juni 1995 u.a. wegen versuchten Mordes rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Sie hat beantragt, die Vollstreckung des Restes dieser Freiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen. Diesen Antrag hat das Oberlandesgericht Celle durch Beschluß vom 18. September 1996 als unzulässig verworfen, weil noch nicht - wie in § 57 Abs. 2 StGB vorausgesetzt - die Hälfte der Strafe vollstreckt sei.

Gegen diesen Beschluß wendet sich die Verurteilte mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie vertritt die Ansicht, daß sie bereits mehr als die Hälfte der durch das Oberlandesgericht Celle verhängten Freiheitsstrafe verbüßt habe, da die von ihr in dem Verfahren 2 BJs 128/90 verbüßte Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB anzurechnen sei.

1. Dem liegen folgende Tatsachen und Verfahrensabläufe zugrunde:

Das zur Verurteilung der Beschwerdeführerin durch das Oberlandesgericht Celle führende Ermittlungsverfahren hatte einen von Mitgliedern der nordirischen Untergrundorganisation PIRA am 19. Juni 1989 verübten Sprengstoffanschlag auf eine Kaserne der britischen Rheinarmee in Osnabrück zum Gegenstand. Dieses Ermittlungsverfahren wurde vom Generalbundesanwalt am 24. Juli 1989 eingeleitet und in der Folgezeit unter dem Aktenzeichen 1 BJs 197/89 geführt. Die Beschwerdeführerin, die zunächst am 12. Juli 1989 bei ihrer Einreise nach Irland mit Sprengutensilien angetroffen, verhaftet und nach ihrem Freispruch durch ein irisches Gericht am 16. Februar 1990 wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, wurde am 16. Juni 1990 in Belgien in der Nähe eines Erddepots zusammen mit weiteren Angehörigen der PIRA erneut verhaftet und sodann an die Niederlande zur Durchführung eines dort anhängigen Strafverfahrens ausgeliefert. Sie befand sich in der Zeit vom 2. April 1991 bis zum 7. Oktober 1991 für das Verfahren 1 BJs 197/89 in Auslieferungshaft in den Niederlanden ; ab dem 7. Oktober 1991 befand sie sich für dieses Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland in Untersuchungshaft, welcher der u.a. wegen des Sprengstoffanschlages auf die britische Kaserne in Osnabrück erlassene Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 13. September 1989 zugrunde lag; den in Irland und in den Niederlanden erlittenen Freiheitsentzug hat das Oberlandesgericht Celle bereits in seinem Urteil vom 28. Juni 1995 auf die verhängte Freiheitsstrafe im Verhältnis 1:1 angerechnet.

Ein weiterer Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs erging am 7. November 1991 gegen die Beschwerdeführerin in dem vom Generalbundesanwalt geführten Verfahren 2 BJs 128/90, in dem sie beschuldigt wurde, an weiteren Anschlägen einer sogenannten kämpfenden Einheit der PIRA, nämlich am 4. Mai, 2. Juni und 14. Juni 1990 auf Angehörige und Einrichtungen der britischen Rheinarmee in Hannover, Dortmund und Hameln beteiligt gewesen zu sein. Dieses Verfahren war bereits am 25. Oktober 1990 u.a. aufgrund der bei der Verhaftung der Beschwerdeführerin und weiterer PIRA-Angehöriger in Belgien am 16. Juni 1990 sichergestellten Beweismittel eingeleitet worden; der Haftbefehl hinsichtlich dieser Tatvorwürfe wurde erst am 7. November 1991 erlassen und für diesen am 5. Februar 1992 Überhaft notiert, nachdem Belgien und die Niederlande der weiteren Strafverfolgung der Beschwerdeführerin in diesem Ermittlungsverfahren zugestimmt hatten. Die Beschwerdeführerin befand sich in der Folgezeit bis zum 4. Juni 1992 in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls vom 13. September 1989 in dem Verfahren 1 BJs 197/89. Da sich die vom Generalbundesanwalt beantragte Auslieferung von Mitbeschuldigten dieses Verfahrens aus Frankreich verzögerte und in dem Verfahren 2 BJs 128/90 gegen die Beschwerdeführerin mit Datum vom 25. Mai 1992 Anklage zum Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben worden war, ordnete der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs mit Beschluß vom 3. Juni 1992 auf Antrag des Generalbundesanwalts an, daß mit sofortiger Wirkung die weitere Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls vom 7. November 1991 in dem Verfahren 2 BJs 128/90 zu vollziehen und für den Haftbefehl vom 13. September 1989 des Verfahrens 1 BJs 197/89 Überhaft zu notieren ist.

Nachdem die Beschwerdeführerin in dem Verfahren 2 BJs 128/90 am 9. Juni 1994 vom Oberlandesgericht Düsseldorf freigesprochen worden war, wurde der Haftbefehl vom 13. September 1989 des Verfahrens 1 BJs 197/89, in dem inzwischen ebenfalls Anklage, und zwar beim Oberlandesgericht Celle erhoben worden war, wieder vollzogen. Am 28. Juni 1995, dem Tag ihrer Verurteilung, wurde die Beschwerdeführerin aus der Haft entlassen.

2. Zur Begründung ihrer Auffassung, die in dem Verfahren 2 BJs 128/90 verbüßten Haftzeiten seien gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB anrechenbar, macht die Beschwerdeführerin zum einen geltend, daß die beiden Ermittlungsverfahren zeitweise miteinander förmlich verbunden gewesen seien. Zum anderen beruft sie sich auf die in der obergerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur zum Teil vertretene Auffassung, daß sog. verfahrensfremde Untersuchungs- oder Auslieferungshaft jedenfalls dann analog § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB anrechenbar sei, wenn die beiden Verfahren im Zuge des Ermittlungs- oder gerichtlichen Erkenntnisverfahrens hätten miteinander verbunden werden können.

Demgegenüber legt der Generalbundesanwalt dar, daß die beiden Ermittlungsverfahren zu keinem Zeitpunkt förmlich miteinander verbunden waren und ist mit der Mehrheit in der obergerichtlichen Rechtsprechung der Ansicht, daß der Wortlaut des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB eindeutig sei, so daß für eine analoge Anwendung kein Raum sei und eine Anrechnung der somit verfahrensfremden Untersuchungs- und Auslieferungshaft nicht in Betracht komme. Dieser Auffassung ist das Oberlandesgericht in dem angefochtenen Beschluß gefolgt und hat den Antrag auf Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 2 StGB als unzulässig verworfen, weil durch die in dem der Verurteilung zugrundeliegenden Verfahren 1 BJs 197/89 erlittene Untersuchungshaft und anrechenbare ausländische Haft die Hälfte der erkannten Freiheitsstrafe noch nicht verbüßt sei.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Freiheitsentziehungen, die die Beschwerdeführerin für das Verfahren 2 BJs 128/90 erlitten hat, sind gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die in dem Verfahren 1 BJs 197/89 verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen, so daß sie bereits mehr als die Hälfte der Strafe verbüßt hat. Damit ist der Antrag nach § 57 Abs. 2 StGB zulässig.

1. Dies ergibt sich allerdings nicht schon daraus, daß die beiden Ermittlungsverfahren nach den Vorschriften der StPO miteinander verbunden gewesen wären. Eine solche - förmliche - Verbindung bestand, wie bereits der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, zu keinem Zeitpunkt.

2. Die Frage der Anrechenbarkeit verfahrensfremder Untersuchungshaft in den Fällen, in denen der Beschuldigte vorläufige Freiheitsentziehungen ohne Rechtfertigung durch ein Urteil erlitten hat, ist in Rechtsprechung und Literatur seit langem umstritten. Sie betrifft die Fälle, in denen das Verfahren nach § 170 Abs. 2, § 153 oder § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde oder der Beschuldigte freigesprochen worden ist, ohne daß dieses Verfahren mit einem anderen zu einer Verurteilung führenden Verfahren wenigstens zeitweise verbunden war.

Nach § 51 Abs. 1 StGB wird diejenige Freiheitsentziehung, die ein Verurteilter aus Anlaß einer Tat erlitten hat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, auf zeitige Freiheitsstrafe oder Geldstrafe angerechnet (Grundsatz der Verfahrenseinheit). Die überwiegende Ansicht in der obergerichtlichen Rechtsprechung stützt sich auf den Wortlaut des Gesetzes und hält, insbesondere aus Praktikabilitätsgründen, eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in Fällen möglicher Verfahrensverbindung bzw. potentieller Gesamtstrafenlage für unzulässig (vgl. OLG Hamm NStZ 1981, 480 und NStZ-RR 1996, 377; OLG Stuttgart NJW 1982, 2083; OLG Oldenburg MDR 1984, 772; OLG Celle NStZ 1985, 168 m. abl. Anm. Maatz; OLG Düsseldorf (2. StrS.) NJW 1986, 268 mit abl. Anm. Puppe StV 1986, 394; OLG Düsseldorf (1. StrS.) StV 1991, 266 m. abl. Anm. Maatz; OLG Düsseldorf (1. StrS.) StV 1997, 85; KG NStE Nr. 13 zu § 51 StGB; OLG Karlsruhe MDR 1993, 66 - offen gelassen für die Fälle des § 154 Abs. 2 StPO; OLG Hamburg NStZ 1993, 204; Gribbohm LK 11. Aufl. § 51 Rdn. 11 ff.; Horn in SK - StGB § 51 Rdn. 8; Stree in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 51 Rdn. 10). Die Gegenmeinung vertritt die Auffassung, daß der Gesetzgeber eine möglichst weitgehende Anrechnung freiheitsentziehender Maßnahmen gewollt habe und der Beschuldigte durch den Umstand, daß eine förmliche Verfahrenseinheit nicht hergestellt worden ist, nicht benachteiligt werden dürfe. Diese Auffassung hält deshalb eine analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB für zulässig und geboten (vgl. OLG Schleswig MDR 1980, 70; OLG Frankfurt MDR 1981, 69 und StV 1989, 489; OLG Nürnberg NStZ 1990, 406; OLG Düsseldorf (3. StrS) StV 1994, 549; OLG Saarbrücken wistra 1996, 70; OLG Naumburg NStZ 1997, 129; Karl NStZ 1988, 170; Maatz MDR 1984, 712; derselbe NStZ 1985, 168 und StV 1991, 267; Puppe StV 1986, 394; Tröndle StGB 48. Aufl. § 51 Rdn. 5; Lackner StGB 22. Aufl. § 51 Rdn. 3).

3. Der Senat kann offen lassen, ob und gegebenenfalls bei welcher Verfahrenslage es allgemein zulässig erscheint, verfahrensfremden Freiheitsentzug analog § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB anzurechnen. Einer abschließenden Entscheidung hierzu bedarf es nicht, weil zwischen den vom Generalbundesanwalt gegen die Beschwerdeführerin durchgeführten Verfahren 1 BJs 197/89 und 2 BJs 128/90 eine die Anrechnung nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ermöglichende funktionale Verfahrenseinheit bestanden hat. Der in § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB mit den Worten aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist umschriebene Grundsatz der Verfahrenseinheit ist nicht notwendigerweise mit dem Begriff einer förmlichen, nach den Regeln des Prozeßrechts durchgeführten Verbindung der in Betracht kommenden Verfahren gleichzusetzen, er ist vielmehr einer Auslegung zugänglich (vgl. Gribbohm LK 11. Aufl. § 51 Rdn. 11 und 15; Maatz MDR 1984, 712, 714, so wohl auch OLG Naumburg NStZ 1997, 129; a.A. Karl NStZ 1988, 170, 171).

a) Die Regelung des mit dem Zweiten Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StRG) eingeführten § 51 StGB ersetzt § 60 i.d.F. des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StRG) und stimmt mit diesem in den Absätzen 1 bis 3 wörtlich überein. Sie ist an die Stelle der auf § 60 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) zurückgehenden Regelung getreten, die die Entscheidung über die Anrechenbarkeit erlittener vorläufiger Freiheitsentziehung dem Bereich der Strafzumessung im weiteren Sinne zuordnete und sie in das Ermessen des Tatgerichts stellte. § 60 RStGB bestimmte, daß eine erlittene Untersuchungshaft bei Fällung des Urteils auf die erkannte Strafe ganz oder teilweise angerechnet werden konnte. Obwohl dieser Gesetzeswortlaut die Annahme von Tatidentität zwischen demjenigen Delikt, das die Untersuchungshaft ausgelöst hatte, und demjenigen, das der Verurteilung zugrundelag, als Voraussetzung der Anrechnung vorläufiger Freiheitsentziehung nahe legte, war es nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts für die Anrechnung nach § 60 RStGB gleichgültig, wegen welcher von mehreren Taten Untersuchungshaft angeordnet worden war; der erforderliche Zusammenhang zwischen der erlittenen Untersuchungshaft und der abgeurteilten Tat war, trotz des engeren Wortlauts des Gesetzes, nach der Rechtsprechung schon dann gewahrt, wenn die mehreren Taten Gegenstand derselben Untersuchung, desselben Verfahrens gewesen waren bzw. die Untersuchungen hinsichtlich der mehreren Taten in Beziehung zueinander standen (vgl. RGSt 3, 264, 265; 30, 182, 185; 31, 244, 245; vgl. auch v. Olshausen StGB 11. Aufl. § 60 Anm. 2) oder eine Tat nachträglich durch Verfahrensverbindung oder Nachtragsanklage in das Verfahren einbezogen worden war (RGSt 71, 140, 142; RG DR 1939, 362). Die Anrechnung war jedoch unzulässig, wenn die Untersuchungshaft beendet war, bevor die später abgeurteilte Tat begangen wurde (vgl. RGSt 58, 95, 97; 71, 140, 143); auch reichte die Bildung einer Gesamtstrafe mit einer in einem anderen Verfahren verhängten Strafe als für die Anrechnungsvoraussetzungen erforderliche Verfahrensverbindung nicht aus (RGSt 31, 244, 245; 41, 318, 319). Obwohl der Grundsatz der Verfahrenseinheit danach rein formal verstanden wurde, engte diese Auslegung des § 60 RStGB das Gesetz und das Ermessen des Tatgerichts zugunsten des Angeklagten dadurch ein, daß die Anrechnung der Untersuchungshaft in den Fällen formaler Verfahrenseinheit zur Regel wurde. Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts hat der Bundesgerichtshof zu § 60 StGB a.F. übernommen und fortgeführt (vgl. BGHSt 4, 325, 326; BGH GA 1966, 210 f.).

b) Der Reformgesetzgeber hat die Entwicklung der Rechtsprechung aufgegriffen und schließlich durch § 60 StGB i.d.F. des 1. StRG die grundsätzliche Anrechnung der Untersuchungshaft, die aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, gesetzlich verankert und in Abkehr vom Erfordernis der Tatidentität den Grundsatz der Verfahrenseinheit gesetzlich festgeschrieben (vgl. zum ganzen Dreher MDR 1970, 965, 968 f.; Weber/Römer NJW 1965, 854 f.; Maatz MDR 1984, 712, 714). Anhaltspunkte dafür, unter welchen konkreten Voraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers von einer Verfahrenseinheit im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgegangen werden kann, bieten die Gesetzesmaterialien hingegen nicht (vgl. Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses, BT-Drucks. V/ 4094 S. 24 f.), da das Hauptaugenmerk der Reformbestrebungen ersichtlich der Begründung der allgemeinen Anrechnungspflicht und dem Zurückdrängen der Versagungsgründe galt (vgl. Dreher MDR 1970, 965; Horstkotte JZ 1970, 122).

c) Der Grundsatz der Verfahrenseinheit, der von der Rechtsprechung als Sekundärbegriff (vgl. Tröndle LK 10. Aufl. § 51 Rdn. 31) entwickelt worden ist mit dem Ziel, das Gesetz zugunsten des Verurteilten weit auszulegen, ist nicht zwingend mit einer formalen, gegebenenfalls durch förmliche Verbindung hergestellten Verfahrenseinheit gleichzusetzen. Dies belegt schon die Vorschrift des § 51 StGB selbst durch die Regelung in ihrem Absatz 2, wonach auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung die Anrechung früherer Untersuchungshaft erfolgt, ohne daß zuvor eine formal-prozessuale Verfahrenseinheit vorgelegen hat. Entsprechend der in den Regelungen des § 60 StGB a.F., § 51 StGB n.F. zum Ausdruck gekommenen Tendenz des Gesetzgebers, Untersuchungshaft, soweit sie überhaupt in einem Zusammenhang mit einer verhängten Strafe steht, möglichst umfassend anzurechnen, hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Vorschrift des § 51 StGB stets weit ausgelegt.

d) So hat sie bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung die im zweiten Verfahren verbüßte Untersuchungshaft als auf die Gesamtstrafe in voller Höhe anrechenbar erklärt, auch wenn sie die Summe der in dem zweiten Verfahren verhängten Einzelstrafen übersteigt (vgl. BGHSt 23, 297), und damit - entgegen der reichsgerichtlichen Rechtsprechung - Untersuchungshaftzeiten angerechnet, bei denen feststand, daß sie nicht allein aus Anlaß der Tat erlitten wurden, die später die Anrechnung überhaupt ermöglichte (vgl. Tröndle LK 10. Aufl. § 51 Rdn. 32); schließlich ist auch das Erfordernis eines inhaltlichen Bezuges im Sinne einer denkbaren Mitursächlichkeit zwischen der Untersuchungshaft und der Tat, deretwegen die Bestrafung erfolgt, aufgegeben (BGHSt 28, 29 mit im Ergebnis zustimmender Anmerkung Tröndle JR 1979, 73) und ferner entschieden worden, daß über den Wortlaut des § 51 Abs. 3 StGB hinaus die Anrechnung einer im Ausland vollstreckten Strafhaft auch dann zu erfolgen hat, wenn die ausländische Strafvollstreckung eine selbständige prozessuale Tat betrifft, die im inländischen Straferkenntnis nicht abgeurteilt wird, die aber im Sinne von § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB Gegenstand des inländischen Strafverfahrens gewesen ist (BGHSt 35, 172, 177 f.; BGH NStZ 1997, 337; auch die Bedeutung des Kriteriums der formalen Verfahrenseinheit ist in jüngster Zeit von der Rechtsprechung dahin modifiziert worden, daß schon die allein in den Akten vermerkte Entscheidung der Staatsanwaltschaft, gemäß § 153 c Abs. 1 Nr. 1 StGB von der Verfolgung einer im Ausland begangenen Straftat abzusehen, ausreicht, um die Auslandstat zum Gegenstand des inländischen Ermittlungsverfahrens zu machen (BGH NJW 1990, 1428 = BGHR StGB § 51 Abs. 3 Anrechnung 2; Gribbohm LK 11. Aufl. § 51 Rdn. 15; Maatz StV 1991, 267, 269).

4. Nach der gesetzlichen Anrechnungsregelung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ist es allerdings erforderlich, daß zwischen den Strafverfolgungen hinsichtlich der die Untersuchungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der Verurteilung zugrunde liegt, ein Zusammenhang bestanden haben muß (vgl. Stree in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 51 Rdn. 8) oder zwischen ihnen ein irgendwie gearteter sachlicher Bezug (vgl. OLG Karlsruhe MDR 1993, 66) vorhanden ist oder war. Damit soll eine uferlose Anrechnung, die nicht mehr praktikabel wäre und nach der ratio der Norm auch nicht gerechtfertigt erschiene, ausgeschlossen werden. Deshalb sowie auf dem Hintergrund der dieser Vorschrift zugrunde liegenden Entwicklung der Rechtsprechung erscheint es geboten, die Anrechnungsvoraussetzungen auch dann anzunehmen, wenn das die vorläufige Freiheitsentziehung betreffende Verfahren zwar stets formal von dem anderen zur Verurteilung führenden Verfahren getrennt geführt wurde, die vorläufige Freiheitsentziehung in dem einen Verfahren sich aber auf den Gang oder den Abschluß des anderen Verfahrens konkret ausgewirkt hat.

a) Es liegt nahe, die Voraussetzungen einer solchen (funktionalen) Verfahrenseinheit in den Fällen anzunehmen, in denen eine Einstellung des Verfahrens, für das Untersuchungshaft verbüßt wurde, nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das mit einer Verurteilung endende Verfahren erfolgt ist (vgl. OLG Schleswig MDR 1980, 70 ; OLG Frankfurt MDR 1981, 69 und StV 1989, 489; OLG Düsseldorf (3. StrS) StV 1994, 549; von OLG Karlsruhe MDR 1993, 66 noch offen gelassen; vgl. auch BVerfG NStZ 1994, 607; Maatz StV 1991, 267, 269), oder bei denen sich eine formal verfahrensfremde vorläufige Freiheitsentziehung auf ein anderes Verfahren in sonstiger Weise verfahrensnützlich ausgewirkt hat (vgl. OLG Karlsruhe MDR 1994, 1032 zu § 81 StPO; insoweit nicht ablehnend OLG Hamm NStZ-RR 1996, 377, 378).

b) Eine Verfahrenseinheit in dem dargelegten Sinne liegt jedenfalls dann vor, wenn in dem Verfahren, das später zu einer Verurteilung führt, zwar ein Haftbefehl erlassen, dieser aber nicht - dauerhaft - vollzogen, sondern hierfür - zeitweilig - Überhaft notiert wird, weil in einem anderen Verfahren gegen denselben Beschuldigten bereits ein Haftbefehl existiert und auch vollstreckt wird (vgl. OLG Nürnberg NStZ 1990, 406 ; OLG Saarbrücken wistra 1996, 70, 71; Gribbohm LK 11. Aufl. § 51 Rdn. 15; a.A. OLG Hamburg NStZ 1993, 204). Denn durch die Anordnung der Überhaft wirkt die Vollziehung des einen Haftbefehls zugleich als Maßnahme zur Sicherung des anderen Verfahrens, zumal der Haftbefehl, für den Überhaft notiert ist, jederzeit an die Stelle des vollstreckten Haftbefehls des anderen Verfahrens treten kann. Die Überhaftnotierung setzt die Haftbefehle verschiedener Verfahren und damit auch die Verfahren selbst zueinander in eine enge sachliche Beziehung. Die vom Beschuldigten erlittene Untersuchungshaft ersetzt zugleich den Vollzug des Haftbefehls für das andere Verfahren, so daß die erlittene Untersuchungshaft gleichsam doppelt verfahrensrelevant erscheint; der Beschuldigte hat sie sowohl aus Anlaß des einen als auch des anderen Verfahrens bzw. der diesen Verfahren zugrundeliegenden Taten erlitten. Für die Dauer der Überhaftnotierung besteht deshalb eine funktionale Verfahrenseinheit, die die Anrechnung der in dem einen Verfahren erlittenen Untersuchungshaft auf die in dem anderen Verfahren verhängte Strafe gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB rechtfertigt.

c) Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. In den beiden gegen die Beschwerdeführerin geführten Verfahren 1 BJs 197/89 und 2 BJs 128/90 waren Haftbefehle ergangen, für die zeitweilig jeweils mit Rücksicht auf den im anderen Verfahren vollstreckten Haftbefehl Überhaft notiert worden war. Die wechselseitige Sicherungsfunktion der beiden Haftbefehle zeigt sich vorliegend augenfällig darin, daß sie je nach dem Stand des Verfahrens, wenn auch aus sachlichen Erwägungen heraus, ohne Schwierigkeiten ausgetauscht werden konnten und auch ausgetauscht worden sind und damit wechselnd und wechselseitig als Grundlage der von der Beschwerdeführerin durchgehend vom 7. Oktober 1991 bis zum 28. Juni 1995 in der Bundesrepublik Deutschland erlittenen Untersuchungshaft dienten. Die für das Verfahren 2 BJs 128/90 in der Zeit vom 4. Juni 1992 bis zum 9. Juni 1994 erlittene Untersuchungshaft sowie die weiteren diesem Verfahren gemäß § 51 Abs. 3 StGB zurechenbaren ausländischen Freiheitsentziehungen sind deshalb auf die durch Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 28. Juni 1995 in dem Verfahren 1 BJs 197/89 verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen.

III.

Ausgehend von der auch der angefochtenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle zugrunde gelegten Strafzeitberechnung des Generalbundesanwalts, nach der noch 607 Tage Haft bis zum Erreichen der Halbstrafe aus dem Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 18. Juni 1995 zu verbüßen sind, gilt infolge der Anrechnung der in dem Verfahren 2 BJs 128/90 erlittenen vorläufigen Freiheitsentziehungen bereits mehr als die Hälfte der von dem Oberlandesgericht Celle gegen die Beschwerdeführerin verhängten Freiheitsstrafe als verbüßt, so daß die formellen Voraussetzungen der von der Beschwerdeführerin beantragten bedingten Haftentlassung nach § 57 Abs. 2 StGB vorliegen. Da das Oberlandesgericht Celle den Antrag der Beschwerdeführerin als verfrüht und deshalb unzulässig behandelt hat, verweist der Senat die Sache zur Entscheidung über die weiteren Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB an das Oberlandesgericht Celle zurück.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 112; NJW 1997, 2392; NStZ 1998, 134; StV 1997, 474

Bearbeiter: Rocco Beck