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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, StB 13/96, Beschluss v. 28.11.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH StB 13/96 - Beschluß vom 28. November 1996 (OLG Hamburg)

BGHSt 42, 314; Straftatbestand der geheimdienstlichen Agententätigkeit (verfassungsrechtliches Verfolgungshindernis für MfS-Agenten, die nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland tätig waren; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz); Wiederaufnahme des Verfahrens analog § 79 Abs. 1 BVerfGG.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 79 Abs. 1 BVerfGG; § 359 StPO; § 99 StGB

Leitsatz

Konnte das besondere Verfolgungshindernis, welches das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 15. Mai 1995 zur Frage der Strafbarkeit früherer MfS-Agenten wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland aus der Verfassung abgeleitet hat (BVerfGE 92, 277), im Strafurteil noch nicht berücksichtigt werden, so ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 79 Abs. 1 Alt. 3 BVerfGG möglich. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 26. März 1996, durch den der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 17. Januar 1994 als unzulässig verworfen worden ist, aufgehoben, soweit er den Wiederaufnahmeantrag gegen die Verurteilung des Antragstellers wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zugunsten der ehemaligen DDR betrifft; in diesem Umfang wird die Wiederaufnahme für zulässig und begründet erklärt.

Insoweit werden die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erneuerung der Hauptverhandlung vor dem nach § 140a Abs. 6 GVG zuständigen Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg mit der Maßgabe angeordnet, daß die im Urteil vom 17. Januar 1994 getroffenen Feststellungen zum Schuldspruch der geheimdienstlichen Agententätigkeit in Tateinheit mit Bestechung, begangen zugunsten der DDR, aufrechterhalten bleiben.

2. Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.

3. Die Kosten der Beschwerde und die im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers haben je zur Hälfte die Staatskasse und der Beschwerdeführer zu tragen.

Gründe

I.

Das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg hat den Beschwerdeführer durch Urteil vom 17. Januar 1994 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Bestechung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil wurde am 29. März 1994 durch Rücknahme der von dem Angeklagten eingelegten Revision rechtskräftig.

1. Der Verurteilung liegen im wesentlichen folgende Feststellungen zugrunde:

a) Der Beschwerdeführer lebte bis zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ununterbrochen in der DDR. Von 1965 bis 1990 arbeitete er für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), und zwar ab 1. Juli 1981 in Neubrandenburg als Leiter der Abteilung XV der dortigen Bezirksverwaltung des MfS. In dieser Eigenschaft war er maßgeblich an der Führung und Entlohnung des Mitverurteilten K., einem in H. tätigen Polizeihauptmeister, beteiligt. An Treffen der Führungsoffiziere mit K. nahm er regelmäßig teil, und zwar nicht nur in der DDR, sondern auch "im neutralen Ausland", nämlich in Zagreb, Sarajevo, Dubrovnik, Wien, Luzern und Helsinki. In vergleichbarer Weise war der Beschwerdeführer aufgrund seiner Stellung innerhalb des MfS noch in Bezug auf vier weitere Bundesbürger tätig, mit denen es zu Treffen außerhalb der DDR in Belgrad, Rijeka, Split und Wien bzw. Budapest kam. Maßgeblich beteiligt war der Beschwerdeführer schließlich an der Führung einer aus der DDR stammenden Agentin, welche Bundesbürger auf dem Gebiet der DDR geheimdienstlich abschöpfen sollte. Für diese Straftat nach § 99 StGB zugunsten der DDR wurde eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt.

b) Als sich die Auflösung des MfS abzeichnete, nahm der Beschwerdeführer Anfang 1990 eine Agententätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland für den sowjetischen Geheimdienst KGB auf, belieferte diesen mit Material und vermittelte einige seiner bisherigen Mitarbeiter an den KGB. In der Folgezeit war er unter anderem noch eine Zeitlang mit der Führung und Entlohnung des Mitangeklagten K., der seine Informationen nunmehr an den KGB lieferte, befaßt. Für diese Straftat nach § 99 StGB zugunsten des sowjetischen KGB wurde eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten festgesetzt.

2. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 10. Januar 1996 hat der Beschwerdeführer beim Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg beantragt, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen das Urteil vom 17. Januar 1994 zuzulassen und ihn freizusprechen. Zur Begründung seines auf § 79 Abs. 1 BVerfGG gestützten Wiederaufnahmeantrags, der sich gegen die Verurteilung in beiden Fällen richtet, beruft er sich auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 - 2 BvL 19/91 (BVerfGE 92, 277 = NJW 1995, 1811), durch den ein unmittelbar aus der Verfassung abgeleitetes Verfolgungshindernis für die früheren Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des militärischen Nachrichtendienstes der ehemaligen DDR anerkannt worden ist, soweit sie vor dem 3. Oktober 1990 gegen die Bundesrepublik Deutschland Straftaten nach §§ 94, 99 StGB begangen und als Bürger der DDR mit dortigem Lebensmittelpunkt allein vom Boden der DDR aus oder aber vom Boden der DDR und - auch - in anderen Staaten gehandelt haben, in denen sie vor der Strafverfolgung solcher Taten aus Rechtsgründen sicher waren.

Durch den angefochtenen Beschluß hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg den Wiederaufnahmeantrag insgesamt als unzulässig verworfen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 15. Mai 1995 entwickelte "Verfolgungshindernis" rechtfertige die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens nicht; es sei weder eine "neue Tatsache" im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO noch liege ein Wiederaufnahmegrund nach § 79 Abs. 1 BVerfGG vor, weil diese Vorschrift nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur ermögliche, wenn ein rechtskräftiges Strafurteil auf einer für nichtig erklärten Norm (bzw. auf der verfassungswidrigen Auslegung einer Norm) des materiellen Strafrechts beruhe. Das im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 entwickelte spezielle Verfolgungshindernis sei uneingeschränkt dem Verfahrensrecht zuzuordnen und könne hinsichtlich der Wiederaufnahme nicht mit einer verfassungsrechtlich einschränkenden Auslegung der materiell-rechtlichen Straftatbestände der §§ 94, 99, § 5 Nr. 4 und § 9 StGB gleichgesetzt werden. Eine geheimdienstliche Agententätigkeit für den KGB werde im übrigen von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht erfaßt.

Gegen diesen Beschluß wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde, mit der er im wesentlichen geltend macht, nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sei die Strafverfolgung der in dem Beschluß vom 15. Mai 1995 bezeichneten DDR-Bürger von Anfang an unangemessen und damit unzulässig gewesen, dem sei durch Wiederaufnahme der vor dieser Entscheidung rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren Rechnung zu tragen.

II.

Das gemäß § 372 StPO statthafte und in zulässiger Weise eingelegte Rechtsmittel ist begründet, soweit es den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 StGB) zugunsten der ehemaligen DDR betrifft. Soweit der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen seine Verurteilung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zugunsten des sowjetischen Geheimdienstes KGB sowie der jeweils in Tateinheit mit den Delikten gemäß § 99 StGB begangenen Bestechungen (§ 334 StGB) begehrt, ist die Beschwerde unbegründet.

1. Das Oberlandesgericht hat zwar zutreffend einen Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 5 StPO für nicht gegeben erachtet, weil eine Änderung der Rechtslage durch Wegfall oder Änderung des angewendeten Gesetzes oder durch einen Wandel der Rechtsprechung keine neue Tatsache im Sinne dieser Vorschrift darstellt (BGHSt 39, 75, 79 m.w.Nachw.); es hat aber, soweit der Beschwerdeführer wegen der bis zur Auflösung des MfS begangenen geheimdienstlichen Agententätigkeit zugunsten der ehemaligen DDR verurteilt worden ist, die Anwendbarkeit des § 79 Abs. 1 BVerfGG, gemessen an den Besonderheiten der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 15. Mai 1995 zur Frage der Verfolgbarkeit der Spione und Agenten der ehemaligen DDR, an zu enge Voraussetzungen geknüpft.

a) Neben § 359 StPO sieht § 79 Abs. 1 BVerfGG die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens vor, wenn das rechtskräftige Strafurteil auf einer vom Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. § 79 Abs. 1 BVerfGG gilt nach § 95 Abs. 3 BVerfGG auch bei Verfassungsbeschwerdeverfahren, und zwar über den Wortlaut des § 95 Abs. 3 BVerfGG hinaus auch hinsichtlich der Alternative der verfassungskonformen Normauslegung nach § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. Angerer/Stumpf NJW 1996, 2216 m.w.Nachw.). Dieser gesetzlichen Regelung liegt vor allem der Rechtsgedanke zugrunde, daß niemand gezwungen sein soll, den Makel einer Bestrafung auf sich ruhen zu lassen, die auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruht (BVerfGE 12, 338, 340). Dabei wird § 79 Abs. 1 BVerfGG als eine aus Gründen materieller Gerechtigkeit vorgesehene Ausnahme von dem der Rechtssicherheit dienenden und in § 79 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck gekommenen Grundsatz der Bestandskraft rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen angesehen (BVerfGE 11, 263, 265; BGHSt 18, 339, 343 f.; Stuth in Umbach/Clemens, BVerfGG § 79 Rdn. 20; Leibholz/Rupprecht, BVerfGG § 79 Rdn. 3; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., § 20 V Rdn. 75; Asam, Die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG, S. 17 f.).

b) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 15. Mai 1995 (BVerfGE 92, 277) allerdings keine Norm, auf der die Verurteilungen ehemaliger DDR-Agenten beruht, für mit der Verfassung nicht vereinbar oder gar nichtig erklärt; es hat vielmehr ausdrücklich die sich auch nach Wiederherstellung der Deutschen Einheit aus den §§ 94, 99 StGB i.V.m. §§ 9, 5 Nr. 4, 3 StGB ergebende Strafbarkeit von DDR-Bürgern, auch soweit sie vom Boden der ehemaligen DDR aus gehandelt haben, als mit dem Grundgesetz vereinbar bezeichnet (BVerfGE 92, 277, 316 f.; 330). Ebensowenig hat es eine unmittelbare verfassungskonforme einschränkende Auslegung der §§ 94, 99 StGB vorgenommen, sondern die Prüfung, ob ein verfassungswidriger Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot vorliegt, auf der zwischen Strafnorm und Straferkenntnis liegenden Ebene der Entscheidung über die Strafverfolgung durchgeführt (BVerfGE aaO S. 326 ff.) und dabei aus dem Übergewicht der Gründe, die gegen eine weitere strafrechtliche Verfolgung der allein vom Boden der DDR oder aus einem sicheren "Drittland" tätigen DDR-Spione sprechen, von Verfassungs wegen ein Verfolgungshindernis abgeleitet, das ohne Rücksicht auf besondere Umstände des Einzelfalles allen Angehörigen dieser Tätergruppe zugute kommt (BVerfGE aaO S. 335 f.). Die Voraussetzungen eines Wiederaufnahmegrundes gemäß § 79 Abs. 1 3. Alt. BVerfGG sind damit jedenfalls nicht unmittelbar erfüllt. In Betracht kommt jedoch eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 1 3. Alt. BVerfGG (zur Analogiefähigkeit der "Ausnahmeregelung" des § 79 Abs. 1 BVerfGG vgl. Böckenförde NJW 1970, 870 Anm. zu LG Hannover NJW 1970, 288; Wasserburg StV 1982, 237, 243 m.w.Nachw. Fn. 92), da das für bestimmte Fallgruppen postulierte "Verfolgungshindernis" im Ergebnis die Anwendbarkeit der §§ 94, 99 StGB modifiziert und damit der Sache nach einer verfassungskonformen Auslegung dieser Strafvorschriften im Sinne einer generellen Restriktion zugunsten der bezeichneten Tätergruppe sehr nahe kommt.

2. Der Senat kann offen lassen, ob - wie das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg in Einklang mit der, zum großen Teil nicht näher begründeten herrschenden Auffassung in der Literatur meint - nach den Entscheidungen BVerfGE 11, 263 und 12, 338 Normen des Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts als Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 79 Abs. 1 BVerfGG stets ausscheiden (vgl. Ulsamer in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer/Bethge/Winter BVerfGG § 79 Rdn. 9; Leibholz/Rupprecht, BVerfGG § 79 Rdn. 3; Stuth in Umbach/Clemens, BVerfGG § 79 Rdn. 20; Gössel in Löwe/Rosenberg 24. Aufl. StPO vor § 359 Rdn. 144; Schmidt in KK 3. Aufl. StPO vor § 359 Rdn. 24) oder ob bei der Frage der Zulässigkeit eines auf § 79 Abs. 1 BVerfGG gestützten Wiederaufnahmeantrages Normen des Verfahrensrechts dann in Betracht kommen, wenn das Strafurteil auf ihnen beruht. Zu erwägen ist in diesem Zusammenhang vor allem, ob nicht nach dem Zweck des § 79 Abs. 1 BVerfGG dem Prozeßrecht zuzurechnende Normen dahin zu differenzieren sind, ob sie sich nur auf das zu dem angegriffenen strafrechtlichen Erkenntnis führenden Verfahren ausgewirkt haben - dann kein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 79 Abs. 1 BVerfGG - oder ob sie - auch - Auswirkungen auf die materielle Rechtsgrundlage des Urteils haben, d.h. die Tat selbst unmittelbar berühren, wie dies etwa bei dem Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung (vgl. BayObLG NJW 1996, 669, 671) oder dem mit dem prozessualen Tatbegriff i.S. § 264 StPO bzw. Art. 103 Abs. 3 GG eng verknüpften Grundsatz des ne bis in idem (vgl. BVerfGE 23, 191, 202 ff.) der Fall sein kann, so daß schon aus Gründen materieller Gerechtigkeit die Anwendung des § 79 Abs. 1 BVerfGG als Wiederaufnahmegrund in Betracht zu ziehen ist (vgl. hierzu Asam § 109 ff., 113 f.; Kneser AöR 89 (1964), 129, 154 ff.; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen Rdn. 353; Wasserburg StV 1982, 237, 240, 243; Zimmermann NJW 1995, 2471, 2472).

a) Für die letztere Ansicht spricht zunächst der Wortlaut des § 79 Abs. 1 BVerfGG, der keine Anhaltspunkte dafür bietet, daß der Gesetzgeber den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf materiell-rechtliche Normen beschränken wollte. Diese Ansicht kann sich ferner auf die Entstehungsgeschichte der durch die verfassungskonforme Auslegung des prozessualen Tatbegriffs des § 264 StPO in BVerfGE 23, 191 veranlaßte Änderung des § 79 Abs. 1 BVerfGG durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BT-Drucks. VI/388 - stützen. Die durch Mehrfachverurteilungen insbesondere von Zeugen Jehovas erforderlich gewordene verfassungsrechtliche Interpretation des § 264 StPO durch das Bundesverfassungsgericht hatte zu divergierenden Entscheidungen der Instanzgerichte hinsichtlich einer Wiederaufnahmemöglichkeit rechtskräftig gewordener Zweitverurteilungen von Ersatzdienstverweigerern geführt. Teils wurde eine Wiederaufnahme analog § 79 Abs. 1 BVerfGG bejaht (LG Bochum MDR 1970, 259), teils die Anwendbarkeit des § 79 Abs. 1 BVerfGG deshalb verneint, weil die Entscheidung BVerfGE 23, 191 lediglich die von § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht erfaßte verfassungskonforme Auslegung einer Norm beinhalte, die zudem verfahrensrechtlicher Natur sei, für die nach BVerfGE 11, 263, 265 eine Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG ohnehin nicht in Betracht komme (vgl. LG Hannover NJW 1970, 288; OLG Celle NJW 1970, 1652; sowie hierzu Böckenförde NJW 1970, 870; Wagner JuS 1970, 380). Diese Instanzrechtsprechung hat den Gesetzgeber bewogen, durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 die Wiederaufnahmegründe des § 79 Abs. 1 BVerfGG erheblich zu erweitern und die vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärte Normauslegung als dritte Alternative in den § 79 Abs. 1 BVerfGG aufzunehmen (vgl. hierzu den Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages in BT-Drucks. VI/1471 S. 6 zu Art. 1 Nr. 15 a). Der Umstand, daß der Gesetzgeber gerade die verfassungskonforme Auslegung eines verfahrensrechtlichen Begriffs durch das Bundesverfassungsgericht zum Anlaß genommen hat, verfassungswidrige Auslegung und Anwendung einer Norm der Nichtigkeitserklärung als Wiederaufnahmegrund gleichzustellen, ist deutliches Indiz dafür, daß jedenfalls nach dem gesetzgeberischen Willen allein die verfahrensrechtliche Natur einer Norm nicht ausreicht, die Anwendbarkeit des § 79 Abs. 1 BVerfGG als Wiederaufnahmegrund abzulehnen.

b) Hinzu kommt, daß die von der gegenteiligen Meinung als Grundlage herangezogene Entscheidung BVerfGE 11, 263 die durch BVerfGE 10, 200 geschaffene besondere gerichtsverfassungsrechtliche Situation der württembergisch-badischen Friedensgerichte betraf, durch die zehn Jahre lang materiell-rechtlich nicht zu beanstandende Verurteilungen erfolgt waren, bevor sich ihre Konstituierung durch das württemberg-badische Gesetz Nr. 241 über die Friedensgerichtsbarkeit vom 29. März 1949 als verfassungswidrig herausgestellt hatte (vgl. hierzu Röhl NJW 1960, 179; Kern JZ 1960, 244, 246; Reiff NJW 1960, 1559; zusammenfassend Wasserburg StV 1982, 237, 238). Die Urteile der Friedensgerichte wurden denn auch nicht als nichtig angesehen (vgl. BverfGE 11, 61 m. Anm. Jauernig NJW 1960, 1885), so daß die von den Friedensgerichten Verurteilten zwar im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen konnten, ihr Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei verletzt, nicht aber, sie seien aufgrund einer nichtigen strafrechtlichen Norm verurteilt worden (vgl. BVerfGE 11, 263, 265). In diesem Kontext ist der Rechtssatz, § 79 Abs. 1 BVerfGG räume nur dann einen Wiederaufnahmegrund ein, wenn ein rechtskräftiges Strafurteil auf einer für nichtig erklärten Strafnorm des materiellen Strafrechts beruht (BVerfGE aaO, in BVerfGE 12, 338, 340 ohne tragende Bedeutung für den zur Entscheidung anstehenden Fall lediglich zustimmend zitiert) aufgestellt worden. Daraus herzuleiten, das Bundesverfassungsgericht habe auch in die materielle Rechtsgrundlage eines Strafurteils hineinwirkende Verfahrensnormen generell als Grundlage einer auf § 79 Abs. 1 BVerfGG gestützten Wiederaufnahme ausschließen wollen, liegt danach nicht nahe.

3. Das mit der Entscheidung vom 15. Mai 1995 in BVerfGE 92, 277 für die Gruppen der DDR-Spione, die allein vom Boden der DDR aus oder zusätzlich nur in für sie sicheren Drittländern tätig geworden sind, aus der Verfassung abgeleitete besondere Verfolgungshindernis ist nicht, wie das Oberlandesgericht in dem angefochtenen Beschluß ausführt, nur dem Verfahrensrecht zuzuordnen. Ein solches Verständnis würde den Besonderheiten dieses Rechtsinstituts, das sich nach Struktur und Begründung von den prozessualen Verfahrenshindernissen im herkömmlichen und eigentlichen Sinne unterscheidet (vgl. hierzu Classen NStZ 1995, 371, 373 f.; Schroeder JR 1995, 443 f.; Volk NStZ 1995, 367, 369 ff.; Schlüchter/Duttge NStZ 1996, 457, 458; BayObLG NJW 1996, 669 = JR 1996, 427 m. Anm. Schmidt), nicht gerecht. Denn mit diesem Rechtsinstitut verfolgt das Bundesverfassungsgericht der Sache nach das materiell-rechtliche Ziel der Straflosigkeit bestimmter Gruppen von DDR-Spionen (vgl. BayObLG NJW 1996, 669, 671). Da die durch die Entscheidung BVerfGE 92, 277 eingeschränkte Anwendbarkeit der §§ 94, 99 StGB auf DDR-Spione, die Staatsbürger der DDR waren und dort zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung ihren Lebensmittelpunkt hatten, sich nicht auf Verfahrensregeln gründet, die allgemein der Strafbarkeit oder Verfolgbarkeit aus jeder Strafvorschrift entgegengehalten werden könnten, ähnelt dieses besondere verfassungsrechtliche Verfolgungshindernis seiner Wirkung nach eher einem materiell-rechtlichen Strafausschließungsgrund (vgl. Volk NStZ 1995, 367, 370), der zudem bei veränderten Rahmenbedingungen, nämlich dann, wenn von DDR-Bürgern auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik gegen diese Spionagehandlungen vorgenommen worden sind, zu einem bloßen, allerdings verfassungsrechtlich begründeten besonderen Strafmilderungsgrund (vgl. BVerfGE 92, 277, 337) herabsinken kann, dann also nur noch materiell-rechtliche Auswirkungen hat. Auch der gewählte dogmatische Weg, das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung der Bestrafung von DDR-Spionen aus den Tatbeständen der §§ 94, 99 StGB nicht schon auf der Norm-, sondern erst auf der Ebene der Strafverfolgung wirken zu lassen, ändert nichts daran, daß es der Sache nach um die Beseitigung der verfassungswidrigen Auswirkungen der bis dahin gehandhabten Auslegung und Anwendung der materiell-rechtlichen Strafnormen der §§ 94, 99 StGB durch die Fachgerichte geht, und es sich damit um eine Fallgestaltung handelt, wie sie von § 79 Abs. 1 3. Alt. BVerfGG erfaßt werden soll.

III.

1. Soweit der Beschwerdeführer seine Verurteilung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 StGB) zugunsten des MfS der DDR angreift, ist sein Vorbringen schlüssig und der Wiederaufnahmeantrag deshalb zulässig (§ 368 Abs. 1 StPO). Insbesondere macht er geltend, daß für ihn die Voraussetzungen eines Strafverfolgungshindernisses im Sinne der Entscheidung BVerfGE 92, 277 vorliegen, weil er außer in der DDR nur in solchen Drittländern tätig geworden sei, in denen ihm wegen der Spionagehandlungen weder Bestrafung noch Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland gedroht habe (vgl. Bl. 283 f. d.A.).

Wie die Gründe des mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochtenen Urteils des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 17. Januar 1994 ausweisen, entspricht diese Behauptung auch den Feststellungen des mit der Sache damals befaßten Tatrichters. Damit hat der zulässig geltend gemachte Wiederaufnahmegrund des § 79 Abs. 1 BVerfGG auch seine hinreichende Bestätigung i.S.d. § 370 StPO gefunden, weil es nach den bisherigen Erkenntnissen und der bisherigen Praxis der Strafverfolgungsbehörden (vgl. BGHSt 41, 292, 295; Schmidt JR 1996, 430) eher unwahrscheinlich ist, daß eine neue Hauptverhandlung den Nachweis erbringt, daß eines der politisch neutralen oder dem ehemaligen Warschauer Pakt zugehörigen Länder, in denen der Beschwerdeführer Auslandstreffs wahrgenommen hat, diesen selbst strafrechtlich verfolgt oder zu diesem Zweck an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert hätte. Damit ist der Wiederaufnahmeantrag insoweit auch als begründet zu erklären, weil hierfür im Probationsverfahren nur erforderlich ist, daß das Wiederaufnahmevorbringen genügende Bestätigung gefunden hat, d.h. seine Richtigkeit hinreichend wahrscheinlich ist; ein voller Beweis ist nicht erforderlich (vgl. BVerfG NStZ 1990, 499; BGHSt 37, 356, 360; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 42. Aufl. StPO § 370 Rdn. 4).

2. Die weitergehende Beschwerde ist unbegründet.

a) Das Bundesverfassungsgericht hat andere, aus Anlaß oder im Zusammenhang mit der Spionagetätigkeit verwirklichten eigenständigen Straftatbestände von dem für die §§ 94, 99 StGB geltenden besonderen Verfolgungshindernis ausgenommen (BVerfGE 92, 277, 330), so daß die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Bestechung gemäß § 334 StGB, auch soweit sie zugleich mit der geheimdienstlichen Agententätigkeit zugunsten der ehemaligen DDR begangen worden ist, von der Wiederaufnahme nur mittelbar - als tateinheitlich begangenes Delikt - berührt wird. Die Verurteilung wegen Bestechung und die sie tragenden Feststellungen können daher schon deswegen bestehen bleiben. Aufrechtzuerhalten sind aber auch die zum Schuldspruch der geheimdienstlichen Agententätigkeit getroffenen Feststellungen, weil sie von dem Wiederaufnahmegrund des besonderen verfassungsrechtlichen Verfolgungsverbots nicht betroffen werden (vgl. BGHSt 18, 339, 344 ff.). Hierdurch wird jedoch die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung nicht entbehrlich, weil für die im Zusammenhang mit Spionagehandlungen zugunsten der ehemaligen DDR begangenen Bestechungen nach § 334 StGB neue Einzelstrafen und sodann insgesamt eine neue Gesamtstrafe festzusetzen sind (vgl. BGHSt 41, 292, 301 ff.).

b) Soweit der Beschwerdeführer auch seine Verurteilung wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zugunsten des sowjetischen Geheimdienstes KGB angreift, hat das Oberlandesgericht den Antrag zu Recht als unzulässig verworfen. Ein Wiederaufnahmegrund gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG liegt insoweit nicht vor. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 befaßt sich nach Wortlaut und Sinn nur mit Spionagetaten zugunsten der DDR. Schon die in diesem Zusammenhang maßgebliche Erwägung, daß sich ein ehemaliger DDR-Spion nunmehr der Strafverfolgung durch den Rechtsnachfolger des Staates, für welchen er tätig war, ausgesetzt sieht, trifft auf solche Spione, die für den KGB tätig geworden sind, nicht zu.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 314; NJW 1997, 670; NStZ 1997, 140; StV 1997, 65

Bearbeiter: Rocco Beck