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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 309/95, Urteil v. 28.02.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 309/95 - Urteil vom 28. Februar 1996 (LG Lübeck)

BGHSt 42, 51; Frage der Konkurrenz zwischen den Tatbeständen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern und des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen (Gesetzeskonkurrenz; Gesetzeseinheit; keine Beschränkung auf den Geschlechtsverkehr und geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen).

§ 176 StGB; § 182 Abs. 1 StGB; § 52 StGB

Leitsätze

1. Der sexuelle Mißbrauch von Jugendlichen steht auch in den Fällen des § 182 Abs. 1 StGB mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern in Gesetzeseinheit (im Anschluß an BGH, 23. Januar 1996, 1 StR 481/95, BGHSt 42, 27). (BGHSt)

2. § 182 Abs. 1 StGB ist nicht auf den "Geschlechtsverkehr" und "geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen" beschränkt. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 24. März 1995

a) in den Fällen 4 bis 6 der Urteilsgründe dahin geändert, daß die Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs einer Jugendlichen entfällt,

b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

aa) in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe,
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Jugendlichen in drei Fällen sowie wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Jugendlichen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte durch eine Anzeige, in der er "im Frühjahr - möglicherweise Mitte April - 1994" (UA S. 4) eine Schülerin für leichte Tätigkeit im Haushalt gesucht hatte, die am 16. Februar 1980 geborene J. W. kennen. Das Mädchen putzte in der Folgezeit im Haushalt des Angeklagten. "Nach einigen Wochen" (UA S. 5) bot der Angeklagte, der solches von Anfang an vorgehabt hatte, dem Mädchen für die Vornahme sexueller Handlungen einen höheren Lohn an und erreichte so, daß er das Mädchen an der nackten Brust streicheln konnte. In der Folgezeit kam es zu folgenden sexuellen Handlungen, für die der Angeklagte jeweils Geld versprach und anschließend bezahlte:

1. "Einige Zeit nach dem ersten Streicheln" (UA S. 5) cremte J. W. den Penis des Angeklagten ein und massierte ihn bis zum Samenerguß.

2. "Wiederum einige Tage später" (UA S. 5) massierte J. W. den Penis des Angeklagten. Der Angeklagte versuchte sodann, mit dem Mädchen den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Das Vorhaben gab er erst auf, als das widerstrebende Mädchen nach mehreren Versuchen des Eindringens in die Scheide starke Schmerzen vorgetäuscht hatte.

3. "Kurz vor den am 14.7.1994 beginnenden Sommerferien" (UA S. 6) übte J. W. den Mundverkehr beim Angeklagten aus.

Nachdem J. W. "im Mai oder Juni 1994" (UA S. 6) ihrer Mitschülerin, der am 2. August 1983 geborenen N. H. , von dieser Möglichkeit des Gelderwerbs erzählt hatte, kam es zu weiteren sexuellen Handlungen, für die der Angeklagte, der wußte, daß N. H. noch nicht 14 Jahre alt war, jeweils zuvor Geld versprach und anschließend bezahlte.

4. "Noch in der Schulzeit vor den am 14.7.1994 beginnenden Sommerferien" (UA S. 7) besuchten J. W. und N. H. gemeinsam den Angeklagten. Dieser faßte N. mit der Hand an die unbekleidete Scheide. N. cremte den Angeklagten sodann am ganzen Körper ein und massierte den Penis.

5. "Eine oder zwei Wochen" danach (UA S. 8) leckte der Angeklagte bei N. H. an der Scheide. Sodann massierte N. den Penis des Angeklagten bis zum Samenerguß. Der Angeklagte versuchte danach vergeblich, mit dem Mädchen den Geschlechtsverkehr auszuführen.

6. "Während der Sommerferien (14.7. bis 27.8.1994)" (UA S. 10) cremte N. H. den Angeklagten vollständig ein und massierte dessen Penis bis zum Samenerguß.

II.

Die nach der zulässigen Rücknahme von Verfahrensrügen nur noch auf sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision führt zur teilweisen Aufhebung des Urteils.

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Jugendlichen in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe hat keinen Bestand. § 182 StGB in der vom Landgericht angewendeten Fassung des 29. StrÄndG vom 31. Mai 1994 ist erst am 11. Juni 1994 in Kraft getreten (BGBl I, 1168). Den Urteilsfeststellungen ist auch im Zusammenhang nicht zweifelsfrei zu entnehmen, daß die Taten erst nach diesem Zeitpunkt begangen worden sind. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der neue Tatrichter hinsichtlich des Tatzeitpunkts präzisere, einen Schuldspruch tragende Feststellungen treffen kann. Die bisherigen Feststellungen zum Tatgeschehen erfüllen den Tatbestand des § 182 Abs. 1 StGB. Eine Beschränkung des Tatbestandes auf den "Geschlechtsverkehr" und "geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen" enthält das Gesetz nicht (vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drucks. 12/4584 S. 9; so auch LK-Laufhütte 11. Aufl. Rdn. 2, Dreher/Tröndle 47. Aufl. Rdn. 5, 8, Lackner/Kühl 21. Aufl. Rdn. 3, SK-Horn 5. Aufl. Rdn. 2 - jeweils zu § 182 StGB; a.A. Kusch/Mössle NJW 1994, 1504, 1506).

2. Auch in den Fällen 4 und 5 der Urteilsgründe fehlen die für eine Bestrafung nach § 182 StGB notwendigen Feststellungen zum Tatzeitpunkt. Dies ist indes ohne Bedeutung, weil das Urteil hier und im Fall 6, in dem die Tatzeit ausreichend festgestellt ist, rechtsfehlerfrei belegt, daß der Angeklagte auch einen sexuellen Mißbrauch eines Kindes nach § 176 Abs. 1 StGB begangen hat, und die Vorschrift des § 182 StGB wegen Gesetzeseinheit gegenüber der Vorschrift des § 176 StGB zurücktritt. Dies hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes bereits für das Verhältnis des § 182 Abs. 2 Nr. 1 zu § 176 StGB entschieden (Beschluß vom 23. Januar 1996 - 1 StR 481/95, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Das gleiche gilt aber auch für das Verhältnis des § 182 Abs. 1 StGB zu § 176 StGB (so auch Lackner/Kühl, StGB 21. Aufl. Rdn. 11, SK-Horn, StGB 5. Aufl. Rdn. 11, jeweils zu § 182 StGB; für Tateinheit: 1. Strafsenat des BGH aaO - in einer nicht tragenden Bemerkung; LK-Laufhütte 11. Aufl. Rdn. 8, Dreher/Tröndle 47. Aufl. Rdn. 14, jeweils zu § 182 StGB).

Bei sexuellem Mißbrauch von Kindern wird der Unrechtsgehalt des § 182 StGB in sämtlichen Alternativen durch die wesentlich höhere Strafen androhende Vorschrift des § 176 StGB voll abgegolten. Die Tatbestände des § 182 StGB sollen auch Jugendlichen im Alter von 14 und 15 Jahren, die aus der allgemeinen Schutzvorschrift des § 176 StGB gleichsam herausgewachsen sind, noch einen strafrechtlichen Schutz ihrer sexuellen Selbstbestimmung gewähren. Während bei sexuellen Handlungen an oder vor Kindern ein Mißbrauch generell angenommen wird, geht der Gesetzgeber bei Jugendlichen im Alter von 14 und 15 Jahren von einer strafwürdigen Ausnutzung der sexuellen Unreife nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 182 StGB aus.

Aus dem von § 176 StGB erfaßten Kreis denkbarer Tatmodalitäten greift § 182 StGB in Absatz 1 lediglich die Ausnutzung einer Zwangslage und die Zahlung eines Entgelts sowie in Absatz 2 die Ausnutzung der fehlenden Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung heraus und pönalisiert - von den Sonderfällen der §§ 173 ff., 177 ff. StGB abgesehen - nur unter diesen Voraussetzungen sexuelle Handlungen mit Jugendlichen im Alter von 14 und 15 Jahren. Die in § 182 StGB genannten Tatmodalitäten sind beim sexuellen Mißbrauch von Kindern - anders als beim sexuellen Mißbrauch von Jugendlichen - weder strafbarkeitsbegründend noch auch nur generell geeignet, sexuelle Handlungen an Kindern gegenüber anderen Formen der Tatbestimmung als spezifisches Tatunrecht zu charakterisieren. So sollen Jugendliche durch § 182 Abs. 1 StGB gegen das Ansinnen geschützt werden, sich dem Täter gegen Entgelt hinzugeben und sexuelle Handlungen als käuflich zu erfahren; außerdem soll die Freiheit der Jugendlichen, über die Aufnahme sexueller Beziehungen selbst und ohne Zwangslage zu entscheiden, geschützt werden. Diese Schutzzwecke des § 182 StGB bedürfen bei Kindern keiner eigenständigen Hervorhebung. Für den Unrechtsgehalt des sexuellen Mißbrauchs von Kindern kommt es weniger darauf an, ob das Kind durch die Gewährung eines Vermögensvorteils im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB - etwa die Zahlung von 5 DM - oder durch Gewährung eines nicht unter diese Vorschrift fallenden immateriellen Vorteils - etwa Mitnahme zu Veranstaltungen und Spielen - zur Vornahme von sexuellen Handlungen bestimmt wird. Auch kommt es weniger darauf an, ob der Täter eine Zwangslage im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 2 StGB oder ein nicht unter diese Vorschrift fallendes kindliches Abhängigkeitsverhältnis ausnutzt. Anders als bei Jugendlichen ist bei Kindern für die Erfassung des Unrechtsgehalts der Sexualtat nicht die Qualifizierung bestimmter vom Täter gewählter Tatmittel, sondern unabhängig hiervon die Intensität seiner Einflußnahme auf das Kind und das Gewicht der an oder vor ihm begangenen sexuellen Handlungen maßgebend. Dem Tatbestand des § 182 StGB kommt daher gegenüber dem ihn mit erfassenden Tatbestand des § 176 StGB auch keine das Unrecht klarstellende Funktion zu. Er tritt im Wege der Gesetzeseinheit zurück.

Dieses - auch verfahrensökonomischen Belangen entsprechende - Ergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte des § 182 StGB n.F. bestätigt. Im Gesetzgebungsverfahren zum 29. StrÄndG hat der Schutz der Opfer unter 14 Jahren durch den neuen § 182 StGB keine Rolle gespielt. Auf Kinder ist nur im Zusammenhang mit der Erweiterung des Strafanwendungsrechts durch § 5 Nr. 8 StGB abgehoben worden (BT-Drucks. 12/4584 S. 1, 7). Auch aus den Ausführungen im Rechtsausschuß und bei der abschließenden Beratung des Gesetzes im Bundestag ergibt sich, daß nur an Opfer im Alter von 14 und 15 Jahren gedacht worden ist (Plenarprotokoll 12/216 S. 18700, 18702, 18705). Allerdings erfaßt der neue Tatbestand nicht nur Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren, sondern alle Personen unter 16 Jahren. Dies hat Bedeutung für den Fall, daß der Täter das kindliche Opfer für einen Jugendlichen unter 16 Jahren hält, so daß er zwar wegen fehlenden Vorsatzes nicht nach § 176 StGB, sondern unter den Voraussetzungen des § 182 StGB nach dieser Vorschrift bestraft werden kann.

Der Senat ändert in den Fällen 4 bis 6 der Urteilsgründe den Schuldspruch dahin, daß die Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs einer Jugendlichen entfällt. Die Einzelstrafen von einem Jahr und neun Monaten, zwei Jahren und sechs Monaten sowie einem Jahr Freiheitsstrafe können entgegen der Ansicht der Revision bestehenbleiben. Das Landgericht hat sie rechtsfehlerfrei dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 176 Abs. 1 StGB entnommen. Sie sind erkennbar nicht strafschärfend von der Erwägung beeinflußt, daß der Angeklagte jeweils zwei Straftatbestände verwirklicht hat.

3. Ohne Rechtsfehler ist auch der Schuldspruch im Fall 3 der Urteilsgründe. Die hierfür verhängte Einzelstrafe von einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe kann entgegen der Ansicht der Revision bestehenbleiben. Der Senat schließt aus, daß die Einzelstrafe für den wegen Sexualdelikten vorbestraften und zur Tatzeit deswegen unter Bewährung stehenden Angeklagten von den beiden aufgehobenen Einzelstrafen beeinflußt worden ist.

4. Die Aufhebung der Schuld- und Strafaussprüche in den Fällen 1 und 2 der Urteilsgründe führt zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 51; NJW 1996, 1762; StV 1997, 129

Bearbeiter: Rocco Beck