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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 434/92, Urteil v. 09.12.1992, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 434/92 - Urteil vom 9. Dezember 1992 (LG Lübeck)

BGHSt 39, 92; Absehen von Zuchtmitteln und Jugendstrafe bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt; Einbeziehungsfähigkeit eines früheren Urteils nach Jugendstrafrecht, in dem nur die Unterbringung angeordnet worden ist.

§ 5 Abs. 3 JGG; § 31 Abs. 2 S. 1 JGG; § 63 StGB; § 64 StGB

Leitsatz

Ein früheres Urteil kann gemäß § 31 Abs. 2 S. 1 JGG auch dann in eine neue Entscheidung einbezogen werden, wenn es von der Verhängung einer Jugendstrafe oder von Zuchtmitteln abgesehen hat, weil die angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt eine weitere Ahndung entbehrlich machte. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 9. Juni 1992 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels, einschließlich der der Nebenklägerin im Revisionsverfahren erwachsenen Auslagen, zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den zur Tatzeit 18 Jahre und elf Monate alten Angeklagten unter Einbeziehung eines Urteils des Jugendschöffengerichts Kiel zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet.

Die Überprüfung des Urteils hat weder zum Schuldspruch noch zum Rechtsfolgenausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Der näheren Erörterung bedarf allein die Frage, ob die Jugendkammer das Urteil des Jugendschöffengerichts Kiel vom 28. April 1989 einbeziehen durfte. Mit jenem Urteil ist der Angeklagte wegen im Alter von 16 Jahren begangener Straftaten der Vergewaltigung, der versuchten Vergewaltigung und sexuellen Nötigung jeweils in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Kindern schuldig gesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Die Vollstreckung der Maßregel wurde zur Bewährung ausgesetzt. Von der Verhängung einer Jugendstrafe hatte das Jugendschöffengericht gemäß § 5 Abs. 3 JGG abgesehen.

Das Landgericht war nicht gehindert, das Urteil des Jugendschöffengerichts Kiel in seine Entscheidung einzubeziehen. Es hat den Angeklagten nach materiellem Jugendstrafrecht verurteilt, weil dieser zur Tatzeit einem Jugendlichen gleichstand. Nach der auf diesen Fall anzuwendenden Vorschrift des § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG sind frühere, nicht erledigte Entscheidungen einzubeziehen, sofern durch sie rechtskräftig die Schuld festgestellt oder eine Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festgesetzt worden ist. Ein Teil der Literatur folgert hieraus allerdings, daß Urteile, die sich auf die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung beschränkt haben (vgl. Dallinger/Lackner, JGG 2. Aufl. § 31 Rdn. 10; Riedel, JGG (1965) § 31 Anm. 5), oder aus denen nur noch solche Nebenfolgen und Maßregeln übrig geblieben sind (vgl. Brunner, JGG 9. Aufl. § 31 Rdn. 8), nicht einbeziehungsfähig sind, weil mit ihnen keine spezifisch erzieherischen Zwecke verfolgt werden (kritisch hierzu Eisenberg, JGG 4. Aufl. § 31 Rdn. 16). Andere Stimmen in der Rechtslehre halten unter Hinweis auf § 5 Abs. 3 JGG und § 105 Abs. 2 JGG auch derartige Urteile für einbeziehungsfähig (vgl. Ostendorf, JGG 2. Aufl. § 31 Nr. 7; Schoreit in: Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 1992, § 31 Rdn. 14). Eine höchstrichterliche Entscheidung ist zu dieser Frage bisher nicht ergangen.

Der Senat ist der Ansicht, daß jedenfalls dann, wenn eine frühere Verurteilung gemäß § 5 Abs. 3 JGG lediglich deshalb von der Verhängung einer Jugendstrafe oder von Zuchtmitteln abgesehen hat, weil die zugleich angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt eine weitere Ahndung entbehrlich macht, diese gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG in die neue Entscheidung einbezogen werden kann.

Für diese Auslegung spricht zunächst der Gesetzeswortlaut. Nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG wird ein früheres Urteil einbezogen, wenn es rechtskräftig die Schuld festgestellt o d e r eine Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festgesetzt hat. Eine auf § 5 Abs. 3 JGG gestützte alleinige Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB oder § 64 StGB setzt, wie die zugleich mögliche Ahndung der Straftat durch Zuchtmittel und Jugendstrafe zeigt, einen Schuldspruch voraus (so ausdrücklich Dallinger/Lackner, aaO, § 5 Rdn. 21). Zwar ist § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG bzw. dessen Vorgängervorschrift des § 14 JGG um die Alternative, daß gegen den Jugendlichen "bereits rechtskräftig die Schuld festgestellt" worden ist, im wesentlichen mit Blick auf die mit der 1953 erfolgten Änderung des Reichsjugendgerichtsgesetzes neu geschaffene selbständige Schuldfeststellung des § 27 JGG ergänzt worden (vgl. BR-Drucks. 50/52 S. 43). Diese Ergänzung bringt jedoch zugleich den gesetzgeberischen Willen zum Ausdruck, alle schuldhaft begangenen Straftaten eines Jugendlichen in das in § 31 JGG verankerte Einheitsprinzip der jugendrechtlichen Sanktionen einzubeziehen, ohne Rücksicht darauf, ob überhaupt Rechtsfolgen verhängt werden (vgl. zu § 27 JGG BGHSt 31, 255, 256). Dieser Ansicht ist ersichtlich auch die Literaturmeinung, die sich auf den Wortlaut des Gesetzes beruft und hieraus folgert, daß frühere Urteile, die sich auf die Verhängung einer Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßregel der Besserung und Sicherung b e s c h r ä n k t haben, nicht unter § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG fallen. Danach sollen solche Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich des § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG ausgeschieden werden, die ohne Schuldspruch oder losgelöst von einem solchen, etwa in einem selbständigen Verfahren, ergangen sind. Daß die Ausführungen dieser Autoren in einem solchen - engen - Sinn zu verstehen sind, belegen die angeführten Beispiele: Freispruch wegen Verbotsirrtums, aber Anordnung der Unbrauchbarmachung nach § 41 StGB aF (= § 74 d StGB nF), Freispruch wegen Altersunreife, aber Entziehung der Fahrerlaubnis, Einziehung von Sachen in einem objektiven Verfahren (vgl. Dallinger/Lackner, aaO, § 31 Rdn. 10; Riedel, aaO, § 31 Anm. 5). Eine alleinige, auf § 5 Abs. 3 JGG gestützte und auf einem Schuldspruch beruhende Maßregelanordnung wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.

Soweit über die genannte Meinung hinausgehend die Auffassung vertreten wird, auch solche Urteile kämen nicht für eine Einbeziehung nach § 31 Abs. 2 JGG in Betracht, aus denen - unerledigt - nur noch Nebenfolgen und Maßregeln "übrig geblieben sind" (vgl. Brunner, aaO, § 31 Rdn. 8), vermag der Senat dem jedenfalls für den Fall nicht zu folgen, daß hierdurch auch Urteile ausgeschieden werden sollen, deren Rechtsfolgenausspruch auf § 5 Abs. 3 JGG beruht.

Eine solche Auslegung entspricht der Bedeutung des hier maßgeblichen § 5 Abs. 3 JGG und dem Sinn des § 31 JGG. § 5 JGG regelt allgemein die Rechtsfolgen einer Jugendstraftat. Als solche kommen nach § 5 Abs. 3, § 7 JGG auch eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt in Betracht, wenngleich nach allgemeiner Meinung in Rechtsprechung und -lehre dem das Jugendstrafverfahren beherrschenden Erziehungsgedanken Rechnung getragen werden muß und deshalb besonders sorgfältig und eingehend zu prüfen ist, ob die Maßregel geboten ist oder ob weniger einschneidende Maßnahmen ausreichen. Liegen aber die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Maßregel nach § 63 StGB oder § 64 StGB vor, so sieht das Gesetz deren Anwendung, wie im Erwachsenenstrafrecht, zwingend vor (BGHSt 37, 373, 374; vgl. auch BGHSt 26, 67, 68). Bei schuldhaft begangenen Straftaten eröffnet § 5 Abs. 3 JGG die Möglichkeit, von der an sich erforderlichen Verhängung von Zuchtmitteln oder Jugendstrafe abzusehen, wenn diese durch die Unterbringung als zusätzliche erzieherische Maßnahmen entbehrlich werden. Im Erwachsenenstrafrecht ist die Anordnung der Unterbringung eines vermindert Schuldfähigen in der Regel nur neben einer zu verhängenden Strafe möglich (vgl. Hanack in LK, 10. Aufl. § 63 Rdn. 90 ff.). Die Regelung des § 5 Abs. 3 JGG schafft somit eine Voraussetzung, die Kumulation oder Zweispurigkeit von Sanktionen, wie sie im allgemeinen Strafrecht vorgesehen sind, zu vermeiden, und ermöglicht es, dem Gedanken der Einspurigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen im Jugendstrafrecht Rechnung zu tragen. Gerade diese Ausgestaltung weist § 5 Abs. 3 JGG als eine spezifisch jugendstrafrechtliche Vorschrift aus (vgl. Brunner JGG, § 5 Rdn. 2; derselbe in JR 1990, 210 Anm. zu BayObLGSt 1989, 48; Eisenberg, JGG, § 5 Rdn. 28). Würde ein früheres Urteil, das gemäß § 5 Abs. 3 JGG nur eine Unterbringung nach § 64 StGB oder § 63 StGB angeordnet hat, allein deshalb von der Einbeziehung nach § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG ausgeschlossen, weil nicht zugleich auch auf ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe erkannt worden ist, würde dies dem Grundgedanken des Jugendgerichtsgesetzes zuwiderlaufen, mehrere Strafen oder Maßnahmen nicht nebeneinander bestehen zu lassen und zu vollstrecken. Zudem wäre es bei fehlender Einbeziehungsmöglichkeit ausgeschlossen, daß der Jugendrichter des späteren Verfahrens - der die Straftaten der einzubeziehenden Verurteilung in ihrer Gesamtheit neu zu bewerten, ihre Rechtsfolgen neu zu bemessen, insbesondere die gesetzlichen Voraussetzungen der Unterbringung erneut zu prüfen hat - eine auf § 5 Abs. 3 JGG gestützte Maßregelanordnung überprüft und neu entscheidet, ob eine Maßregel allein oder neben Zuchtmitteln oder Jugendstrafe erforderlich ist oder ob sie entfallen kann.

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 92; NJW 1993, 1404; NStZ 1993, 187; StV 1993, 533

Bearbeiter: Rocco Beck