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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1078

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 216/22, Beschluss v. 25.08.2022, HRRS 2022 Nr. 1078


BGH 3 StR 216/22 - Beschluss vom 25. August 2022 (LG Koblenz)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: standardisierte Prognoseinstrumente; Widerspruch zwischen Gefährlichkeitsprognose und Verhältnismäßigkeitsprüfung); Schlechterstellungsverbot (Aufhebung des Freispruchs).

§ 62 StGB; 63 StGB; § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters:

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Bei der insoweit vom Gericht anzustellenden Gefährlichkeitsbeurteilung können standardisierte Prognoseinstrumente des psychiatrischen Sachverständigen niemals für sich allein, sondern immer nur im Zusammenhang mit einer Erforschung und Bewertung der individuellen Täterpersönlichkeit eine Gefährlichkeitsbeurteilung tragfähig begründen.

2. Das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen. § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ermöglicht es, in einer neuen Hauptverhandlung anstelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen. Daraus folgt, dass auf die Revision des Angeklagten ein mit der Maßregelanordnung ergangenes freisprechendes Erkenntnis ebenfalls aufgehoben werden kann.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 11. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen des Diebstahls mit Waffen, des Diebstahls in zwei Fällen, des Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen sowie der sexuellen Belästigung in zwei Fällen wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet er sich mit seiner auf die nicht ausgeführte allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt.

Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 26. September 2019 - 4 StR 24/19, NStZ-RR 2020, 9, 10; vom 10. November 2015 - 3 StR 407/15, NStZ 2016, 144 f., jeweils mwN).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

aa) Den vorstehend wiedergegebenen Darstellungsanforderungen genügen die Urteilsgründe bereits deshalb nicht, weil sie an einem unaufgelösten Widerspruch leiden. Einerseits wird als Ergebnis der anzustellenden Prognose lediglich bezeichnet, der Angeklagte werde mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, die den Anlasstaten gleichartig seien (UA S. 19, 21 f.). Andererseits wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (§ 62 StGB) ausgeführt, „dass in dem Verhalten des Angeklagten im Laufe der Zeit eine Steigerung festzustellen“ sei und „eine weitergehende Entwicklung auch mit schwerwiegenderen Rechtsgutsverletzungen […] sehr wahrscheinlich“ erscheine (UA S. 22). Umstände, die zu einer Auflösung dieses Widerspruchs herangezogen werden könnten, lassen sich dem Urteil auch in seinem Gesamtzusammenhang nicht entnehmen.

bb) Weiterhin ist die Herleitung der Gefährlichkeitsprognose durch den psychiatrischen Sachverständigen, dem sich die Strafkammer in ihrer Beurteilung angeschlossen hat, in methodischer Hinsicht zu beanstanden. Denn der Sachverständige hat jedenfalls ausweislich der Urteilsgründe ausschließlich die „Kriterien zur Legalprognose nach Dittmann“ sowie den „sog. HCR-20-V3 als Prognose-Checkliste“ zur Anwendung gebracht. Standardisierte Prognoseinstrumente können indessen niemals für sich allein, sondern immer nur im Zusammenhang mit einer Erforschung und Bewertung der individuellen Täterpersönlichkeit eine Gefährlichkeitsbeurteilung tragfähig begründen. Das empirische Wissen über das generelle Rückfallrisiko führt für sich allein noch nicht zur Entscheidung im Einzelfall, sondern erlaubt nur dessen erste Verortung im kriminologischen Erfahrungsraum (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008 - 3 StR 350/08, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 8 Rn. 5; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 13. November 2007 - 3 StR 341/07, StV 2008, 301, 302; vom 6. Dezember 2007 - 3 StR 355/07, StV 2008, 300, 301). Eine in diesem Sinne fundierte individuelle Analyse (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, NStZ-RR 2010, 203, 204) enthält das Urteil nicht.

2. Der Senat hebt das angefochtene Urteil insgesamt mit den Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), damit das zukünftig zur Entscheidung berufene Tatgericht in die Lage versetzt wird, stimmige Entscheidungen zu den Taten und den daran anknüpfenden Rechtsfolgen zu treffen; präzisere, widerspruchsfreie Feststellungen könnten sich insbesondere mit Blick auf die bislang äußerst knappen Angaben zu Fall II. B 7. und den nicht anklagegegenständlichen Fall II. B 8. der Urteilsgründe als erforderlich erweisen.

3. Über den Freispruch des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit und seine Unterbringung muss somit - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 StPO) - neu entschieden werden. Das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen. § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ermöglicht es, in einer neuen Hauptverhandlung anstelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen. Daraus folgt, dass auf die Revision des Angeklagten ein mit der Maßregelanordnung ergangenes freisprechendes Erkenntnis ebenfalls aufgehoben werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 2021 - 3 StR 408/20, juris Rn. 17; Beschlüsse vom 5. August 2014 - 3 StR 271/14, BGHR StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1 Rn. 9; vom 18. September 2019 - 3 StR 337/19, NStZ-RR 2020, 8, 9).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1078

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede