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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1270

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 288/20, Beschluss v. 15.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1270


BGH 3 StR 288/20 - Beschluss vom 15. September 2020 (LG Düsseldorf)

Prüfung des minder schweren Falles bei der sexuellen Nötigung (Gesamtbetrachtung; Abwägung aller ent- und belastenden Umstände).

§ 177 Abs. 9 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall (hier: der sexuellen Nötigung) gegeben ist, erfordert eine Gesamtbetrachtung, bei der alle Umstände zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen. Dabei sind alle wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände gegeneinander abzuwägen. Erst nach dem Gesamteindruck kann entschieden werden, ob der Sonderstrafrahmen anzuwenden ist

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 2. April 2020 im Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern sowie versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von Kindern und mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen suchte der Angeklagte im Zeitraum vom 25. Januar bis zum 21. Mai 2019 in drei Fällen ein ihm unbekanntes neun-, zehn- bzw. elfjähriges Mädchen in dessen Wohnhaus auf und wandte Gewalt gegen sein jeweiliges Opfer an, um die Duldung von ihm vorgenommener sexueller Handlungen zu erzwingen. In einem Fall gelang dem Angeklagten dies, indem er dem von ihm festgehaltenen Mädchen an die nackte Scheide fasste (Tat II. 2. der Urteilsgründe; fortan: Fall 1). In den zwei anderen Fällen scheiterte das Vorhaben an der Gegenwehr der Kinder; aufgrund der angewendeten Gewalt erlitt die Geschädigte in einem dieser Fälle Schmerzen sowie eine Schürfwunde, in dem anderen Schmerzen und kurzzeitige Luftnot (Taten II. 3. und 4. der Urteilsgründe; nachfolgend: Fälle 2 und 3).

2. Während die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils im Schuldspruch keinen dem Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben hat, kann der Strafausspruch nicht bestehen bleiben. Denn die Strafrahmenwahl begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Als Ausgangspunkt für die Bemessung der Einzelstrafen auf jeweils drei Jahre Freiheitsstrafe hat die Strafkammer nach § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB auf den Regelstrafrahmen für die sexuelle Nötigung gemäß § 177 Abs. 5 StGB abgestellt. Im Fall der Deliktsvollendung (Fall 1) hat sie diesen Strafrahmen, der Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr vorsieht, unverändert angewendet; in den Fällen der Versuchsstrafbarkeit (Fälle 2 und 3) hat sie ihn nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB auf „Geldstrafe ... oder Freiheitsstrafe von bis zu elf Jahren und drei Monaten“ gemildert. Minder schwere Fälle gemäß § 177 Abs. 9 StGB hat sie abgelehnt. Dies hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

aa) Im Fall 1 hat das Landgericht die Anwendung des in § 177 Abs. 9 StGB geregelten Sonderstrafrahmens mit der rechtsfehlerhaften Begründung verneint, ein minder schwerer Fall komme schon deshalb nicht in Betracht, weil sich der Angeklagte tateinheitlich wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB strafbar gemacht habe.

Die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall gegeben ist, erfordert eine Gesamtbetrachtung, bei der alle Umstände zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen. Dabei sind alle wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände gegeneinander abzuwägen. Erst nach dem Gesamteindruck kann entschieden werden, ob der Sonderstrafrahmen anzuwenden ist (s. BGH, Beschluss vom 7. Mai 2019 - 1 StR 80/19, NStZ-RR 2019, 253; ferner BGH, Beschluss vom 14. Mai 2019 - 3 StR 503/18, NStZ-RR 2019, 344, 345, jeweils mwN).

Die Notwendigkeit einer solchen Gesamtbetrachtung hat das Landgericht nicht bedacht. Vielmehr hat es die Ablehnung eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung mit einem einzigen strafschärfenden Umstand begründet. Dem Angeklagten günstige Strafzumessungsgesichtspunkte hat es erst im Rahmen der konkreten Strafbemessung geprüft.

Die betreffenden Ausführungen lassen zudem besorgen, dass sich die Strafkammer an der Gesamtbetrachtung gehindert gesehen hat, weil sie die Rechtsansicht vertreten hat, der Sonderstrafrahmen des § 177 Abs. 9 StGB sei von vorneherein unanwendbar, wenn sich die Tat gegen ein Kind richtet. Ein derartiger Rechtssatz existiert indes nicht.

bb) In den Fällen 2 und 3 hat das Landgericht angenommen, ohne Berücksichtigung des in § 23 Abs. 2 StGB vertypten Milderungsgrundes stehe der Anwendung des § 177 Abs. 9 StGB entgegen, dass der Angeklagte jeweils tateinheitlich einen versuchten sexuellen Missbrauch von Kindern und eine Körperverletzung begangen habe. Auch wenn der genannte Milderungsgrund in die Prüfung einbezogen werde, sei die Annahme eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung in Anbetracht des bei den Taten aufgewendeten ganz erheblichen kriminellen Willens nicht gerechtfertigt, der dadurch belegt werde, dass der Angeklagte in einem Fall die Geschädigte in den Keller verbracht (Fall 2) und in dem anderen Fall sie in deren Wohnung angegangen habe (Fall 3).

Zwar ist die Strafkammer im rechtlichen Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass der minder schwere Fall nach § 177 Abs. 9 StGB vorrangig vor dem vertypten Strafmilderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB zu prüfen ist und das Tatgericht seiner konkreten Strafzumessung den wegen dieses Milderungsgrundes herabgesetzten Regelstrafrahmen erst zugrunde legen darf, wenn es die Anwendung des milderen Sonderstrafrahmens unter Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes nicht für gerechtfertigt hält. Sie hat jedoch auch insoweit nicht die gebotene Gesamtbetrachtung vorgenommen. Die dem Angeklagten günstigen Strafzumessungsgesichtspunkte hat sie wiederum, anders als gefordert (s. oben aa)), nicht bei der Strafrahmenwahl, vielmehr erst im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne gewürdigt. Bei Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes des § 23 Abs. 2 StGB hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht, dass dieser nicht isoliert den minder schweren Fall nach § 177 Abs. 9 StGB zu begründen braucht, sondern im Rahmen der die wesentlichen Umstände umfassenden Abwägung die Anwendung des Sonderstrafrahmens auch dann rechtfertigen kann, wenn er zu den - hier nicht gewürdigten - allgemeinen Milderungsgründen hinzutritt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2017 - 3 StR 423/17, NStZ-RR 2018, 104 mwN).

Dass die Strafkammer in den Fällen 2 und 3 die Untergrenze des nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB reduzierten Strafrahmens des § 177 Abs. 5 StGB unzutreffend mit „Geldstrafe“ anstelle Freiheitsstrafe von drei Monaten bestimmt hat, beschwert jedenfalls den Angeklagten nicht. Deshalb kann dahinstehen, ob es sich bei dieser Angabe nur um eine missverständliche Formulierung handelt. Denn wegen der Bezugnahme auf § 47 Abs. 2 StGB könnte sie auch dahin zu verstehen sein, dass der Strafrahmen bei einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen beginnt, falls das Tatgericht unter den dort normierten Voraussetzungen anstelle der an sich vorgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten eine entsprechende Geldstrafe verhängt.

b) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (s. § 337 Abs. 1 StPO). Für keinen der drei Fälle kann ausgeschlossen werden, dass die Strafkammer einen minder schweren Fall der sexuellen Nötigung angenommen und deshalb auf eine mildere Einzelstrafe erkannt hätte, wenn sie eine rechtsfehlerfreie Gesamtbetrachtung vorgenommen hätte. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie in den Fällen 2 und 3 mildere Einzelstrafen festgesetzt hätte, wenn sie der konkreten Strafbemessung den Sonderstrafrahmen des § 177 Abs. 9 StGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren) anstelle des - unzutreffend angegebenen - nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB herabgesetzten Regelstrafrahmens des § 177 Abs. 5 StGB („Geldstrafe ... oder Freiheitsstrafe bis zu elf Jahren und drei Monaten“) zugrunde gelegt hätte. Denn es ist nicht vollends auszuschließen, dass die Strafkammer die beiden Strafrahmenmilderungen kumulativ vorgenommen und somit die Strafuntergrenze auf einen Monat Freiheitsstrafe, die Strafobergrenze auf sieben Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe bestimmt hätte.

c) Die Einzelstrafen unterliegen infolgedessen der Aufhebung, was der Gesamtstrafe die Grundlage entzieht. Die zugehörigen Feststellungen bleiben hingegen von den Wertungsfehlern unberührt, so dass sie bestehen bleiben können (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Weitergehende Feststellungen, die den bislang getroffenen nicht widersprechen, sind möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1270

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 12; StV 2021, 302

Bearbeiter: Christian Becker