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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1081

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 154/20, Beschluss v. 08.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1081


BGH 3 StR 154/20 - Beschluss vom 8. Juli 2020 (LG Trier)

Schuldfähigkeit (Auswirkung einer festgestellten Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit; Darstellung in den Urteilsgründen); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (dauerhafte Grunderkrankung; Aktualisierung der die Schuldfähigkeit betreffenden Störung).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anordnung nach § 63 StGB setzt nicht voraus, dass der auf einer festgestellten Störung beruhende Zustand eingeschränkter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit durchgängig und dauerhaft bestehen muss. Es reicht vielmehr aus, dass der Zustand der Grunderkrankung dauerhaft besteht und dazu führt, dass schon alltägliche Ereignisse oder ein Suchtmittelkonsum zu einer Aktualisierung und Aufwallung der die Schuldfähigkeit aufhebenden oder erheblich vermindernden Störung führen können.

2. Zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bedarf es einer konkretisierenden Darstellung in den Urteilsgründen, in welcher Weise sich eine festgestellte Beeinträchtigung bei Begehung der Tat auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 3. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen hiervon sind die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die bestehen bleiben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit Körperverletzung in sieben tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Überdies hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Strafkammer hat ferner bestimmt, dass die Unterbringung in der Entziehungsanstalt vor der Strafe und diese vor der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu vollstrecken sind. Von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat sie abgesehen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen das Urteil. Sein Rechtsmittel ist weitgehend erfolgreich. Lediglich die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben bestehen; insoweit ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der mehrfach - vorwiegend wegen Körperverletzungsdelikten - vorbestrafte Angeklagte verbüßte zuletzt bis zum 16. Januar 2019 eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Unmittelbar nach seiner Haftentlassung begann er erneut, vermehrt Alkohol und Amphetamin zu konsumieren, weil er mit der Lebenssituation in Freiheit nicht zurechtkam, sich insbesondere in seiner Wohnung nicht wohl fühlte. In Kenntnis dessen, dass er unter der Wirkung von Amphetamin bereits in der Vergangenheit das Gefühl entwickelt hatte, andere sprächen über ihn oder wären hinter ihm her, konsumierte er am 4. Februar 2019 ein Gramm Amphetamin. Um die Wirkungen des Amphetamins zu egalisieren, trank der Angeklagte am 5. Februar 2019 in seiner Wohnung zwei Gläser Wodka. Er befand sich drogenbedingt in dem Wahn, ein Nachbar namens „Frank“ warte gemeinsam mit sechs oder sieben anderen Personen vor seiner Wohnung auf ihn, um ihm „auf die Fresse zu hauen“. Der Angeklagte stellte sich vor, diese Personen würden gegen die Türe klopfen und von außen versuchen, die Rollläden hochzuheben; dabei würden sie auch über ihn reden. Tatsächlich hielt sich niemand vor seiner Wohnung auf. Da der Angeklagte nicht im Besitz eines Telefons war, um Hilfe herbeizurufen, wollte er die Angreifer mittels eines Brandes vertreiben. Zu diesem Zweck zündete er ein Kopfkissen an und legte das brennende Kopfkissen auf die Matratze seines Bettes. Als die Matratze seinem Plan entsprechend Feuer fing, verließ er die Wohnung.

Durch die Hitzeeinwirkung zerbarst das hinter dem Bett liegende Fenster, die Fassadendämmung der außenliegenden Wand wurde zum Schmelzen gebracht, die komplette Einrichtung des Apartments durch den Brand zerstört; die Wohnung des Angeklagten war einige Zeit nicht bewohnbar. Insgesamt entstand durch den Brand an dem Wohnanwesen ein Sachschaden in Höhe von mindestens 120.000 €. Sieben Bewohner erlitten eine Rauchgasintoxikation.

Die Schuldfähigkeit des Angeklagten war zur Tatzeit nicht ausschließbar erheblich vermindert. Der Angeklagte leidet an einem Abhängigkeitssyndrom in Bezug auf Alkohol und Stimulanzien sowie an einer Persönlichkeitsstörung mit teilweise paranoiden Wesenszügen, die mit Blick auf die damit durchgängig verbundenen Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere in der Handhabung von Beziehungen und Partnerschaften, so schwerwiegend ist, dass sie das Störungsbild einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB erreicht. Treten weitere, das Hemmungsvermögen beeinträchtigende Faktoren, wie etwa der Konsum von Alkohol oder Drogen, hinzu, kann die Störung eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bewirken. Angesichts dessen, dass der Angeklagte zur Tatzeit unter der Einwirkung von Amphetamin stand, hat das Landgericht „zumindest“ nicht ausschließen können, dass seine Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit erheblich eingeschränkt war.

2. Die Strafkammer hat den Sachverhalt rechtlich als schwere Brandstiftung in Tateinheit mit sieben Fällen der Körperverletzung gewertet (§ 306a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, §§ 223, 52 StGB) und eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten festgesetzt. Sie hat darüber hinaus die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Von der Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat das - sachverständig beratene - Landgericht abgesehen, weil bei dem Angeklagten eine Persönlichkeitsstörung vorliege, die „nicht zu einer dauerhaften Schuldunfähigkeit führt, sondern diese Wirkung nur im Zusammenhang mit dem Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum entfaltet“.

II.

Das Urteil hat mit Ausnahme der Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen keinen Bestand.

1. Die Ausführungen des Landgerichts zur Schuldfähigkeit des Angeklagten halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bedarf es einer konkretisierenden Darstellung, in welcher Weise sich die festgestellte Beeinträchtigung bei Begehung der Tat auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146). Eine solche lässt das angefochtene Urteil vermissen. Denn die Strafkammer hat nicht näher dargelegt, warum die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten in Kombination mit dem Konsum von Amphetamin zur Tatzeit lediglich zu einer nicht ausschließbar erheblichen Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit führte. Angesichts dessen, dass der Angeklagte nach den Feststellungen unter einer Persönlichkeitsstörung mit teilweise paranoiden Wesenszügen leidet, sich zur Tatzeit in einem Wahn befand und sich deshalb eine tatsächlich nicht bestehende Notwehrsituation vorstellte, hätte das Landgericht auch die Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit in Erwägung ziehen und prüfen müssen, ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht sicher aufgehoben oder erheblich vermindert war.

Weil nicht auszuschließen ist, dass das neue Tatgericht zu dem Ergebnis kommen wird, dass der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig war, hat der Schuldspruch keinen Bestand. Hiervon unberührt bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen. Da diese rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, können sie bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich.

2. Die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht hat - ungeachtet der Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit - die Voraussetzungen der Maßregel nach § 63 StGB nicht zutreffend bestimmt und deren Anordnung daher mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt.

Zwar hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei bei der Beurteilung des Eingangsmerkmals der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ (§§ 20, 21 StGB) nicht isoliert auf die bei dem Angeklagten vorliegende Persönlichkeitsstörung abgestellt, sondern ist in einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und ihrer Entwicklung davon ausgegangen, die bei dem Angeklagten vorliegende Persönlichkeitsstörung beeinträchtige sein Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen wie eine krankhafte seelische Störung (vgl. zum Maßstab BGH, Beschluss vom 26. Juli 2005 - 5 StR 230/05, NStZ 2006, 154). In der Folge hat das Landgericht jedoch nicht bedacht, dass die Anordnung nach § 63 StGB nicht voraussetzt, dass der auf der festgestellten Störung beruhende Zustand eingeschränkter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit durchgängig und dauerhaft bestehen muss. Denn es reicht aus, dass der Zustand der Grunderkrankung - wie hier - dauerhaft besteht und dazu führt, dass schon alltägliche Ereignisse oder ein Suchtmittelkonsum zu einer Aktualisierung und Aufwallung der die Schuldfähigkeit aufhebenden oder erheblich vermindernden Störung führen können (BGH, Beschlüsse vom 14. Januar 2009 - 2 StR 565/08, NStZ-RR 2009, 136; vom 19. Januar 2017 - 4 StR 595/16, NStZ-RR 2017, 203, 204 f.; vom 18. September 2019 - 3 StR 337/19, NStZ-RR 2020, 8 f.). Hiermit hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt. Angesichts des ebenfalls festgestellten Abhängigkeitssyndroms hätte sich dies jedoch aufgedrängt.

Im Hinblick auf die rechtliche Verbindung und Wechselwirkung (§ 72 StGB) der Maßregeln nach §§ 63, 64 und 66 StGB bedingt die Aufhebung der unterbliebenen Anordnung nach § 63 StGB auch die Aufhebung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und in der Sicherungsverwahrung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. August 1997 - 2 StR 199/97, NStZ 1998, 35; vom 12. September 2007 - 5 StR 347/07, StV 2007, 633, 634; Urteil vom 16. Januar 2014 - 4 StR 496/13, NStZ 2014, 203 Rn. 27).

3. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung der neuen Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird die Beauftragung eines anderen Sachverständigen zu erwägen haben. Auch mit Blick darauf, dass ausschließlich der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht das Verbot der Schlechterstellung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das neue Tatgericht nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; MüKo StPO/Knauer/Kudlich, § 358 Rn. 34).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1081

Externe Fundstellen: StV 2021, 358

Bearbeiter: Christian Becker