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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 583

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 149/18, Beschluss v. 07.06.2018, HRRS 2018 Nr. 583


BGH 3 StR 149/18 - Beschluss vom 7. Juni 2018 (OLG Stuttgart)

Schwere körperliche oder seelische Schäden als Voraussetzung der Gewährung eines kostenlosen Opferanwalts (Beeinträchtigung durch unmittelbar gegen das Opfer gerichtete Aggressionsdelikte; mittelbar verursachte posttraumatische Belastungsstörung); Fähigkeit zur Interessenwahrnehmung in der Revisionshauptverhandlung bei einem nicht der deutschen Sprache mächtigen Nebenkläger.

§ 395 Abs. 3 StPO; § 397 StPO; § 397a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zur Gewährung eines kostenlosen Opferanwalts nach § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO ist es - über die in § 395 Abs. 3 StPO genannten „schweren Folgen der Tat“ hinausgehend - erforderlich, dass schwere körperliche oder seelische Schäden eingetreten oder zu erwarten sind. Die Regelung orientiert sich vor allem am Schweregrad der in den §§ 226 und 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB genannten Folgen der Tat und hat somit primär Opfer im Blick, die sich - im Zwei-Personen-Verhältnis - gegen sie gerichteten Aggressionsdelikten ausgesetzt sahen. Eine posttraumatische Belastungsstörung, die als mittelbare Folge eines gegen eine andere Person gerichteten Aggressionsdelikts auftritt, erfüllt diese Voraussetzungen daher regelmäßig nicht.

2. Aus § 397 Abs. 3 StPO ergibt sich, dass das Nichtbeherrschen der deutschen Sprache grundsätzlich keine Unfähigkeit zur Interessenswahrnehmung begründet. Insofern gilt für die Revisionshauptverhandlung prinzipiell nichts Anderes.

Entscheidungstenor

Der Antrag des Nebenklägers H., ihm Rechtsanwalt S. aus Berlin als Beistand zu bestellen, wird zurückgewiesen.

Gründe

I. Mit Schreiben vom 16. April 2018 hat der Nebenkläger H. die „Beiordnung“ von Rechtsanwalt S. für das Revisionsverfahren beantragt. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. September 2017, mit welchem der Angeklagte A. wegen Beihilfe zu einem mit erpresserischem Menschenraub, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in drei tateinheitlichen Fällen und schwerer Freiheitsberaubung tateinheitlich zusammentreffenden Kriegsverbrechen gegen humanitäre Operationen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist. Gegen dieses Urteil wendet sich der Generalbundesanwalt, der mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision eine Verurteilung des Angeklagten als Täter der schweren Freiheitsberaubung und damit auch des Kriegsverbrechens erstrebt.

Bereits im instanzgerichtlichen Verfahren hatte der Nebenkläger die Bestellung eines Beistandes gemäß § 397a Abs. 1 StPO beantragt, was mit Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2017 abgelehnt worden war. Die dagegen vom Nebenkläger erhobene Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 27. April 2017 (StB 8/17) als unzulässig verworfen.

II. Mangels Bindungswirkung der ablehnenden Entscheidung des Oberlandesgerichts ist über den im Revisionsverfahren erneut gestellten Antrag des Nebenklägers zu entscheiden. In der Sache bleibt ihm der Erfolg jedoch versagt, weil die Voraussetzungen des § 397a Abs. 1 Nr. 3 und 5 StPO nicht gegeben sind.

1. Die vom Nebenkläger vorgetragenen Beeinträchtigungen, insbesondere die posttraumatische Belastungsstörung, stellen keine schweren seelischen Schäden im Sinne des § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO dar.

Zur Gewährung eines kostenlosen Opferanwalts nach § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO ist es - über die in § 395 Abs. 3 StPO genannten „schweren Folgen der Tat“ hinausgehend - erforderlich, dass schwere körperliche oder seelische Schäden eingetreten oder zu erwarten sind (vgl. LR/Wenske, StPO, 26. Aufl., § 397a Rn. 4). Dabei orientiert sich die Regelung vor allem am Schweregrad der in den §§ 226 und 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB genannten Folgen der Tat, d. h. es muss in körperlicher Hinsicht eine schwere bzw. erhebliche und dauerhafte Gesundheitsschädigung eingetreten oder zu erwarten sein, in psychischer Hinsicht eine erhebliche Schädigung von ebensolchem Gewicht (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 33).

Dies ist beim Nebenkläger nicht der Fall. Bei dieser wertenden Betrachtung ist auch zu berücksichtigen, dass der Nebenkläger als „Dritter“ im Sinne des § 239a Abs. 1 StGB zwar Verletzter im Sinne des § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist (KK/Senge, StPO, 7. Aufl., § 395 Rn. 3). Er ist aber nicht unmittelbares Opfer der aggressiven Komponente der Tat. Diese richtete sich vielmehr gegen das Entführungsopfer. Aus den vom Gesetzgeber als Leitbild in Bezug genommenen §§ 226 und 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB (s. hierzu: BT-Drucks. 16/12098, S. 9 und 33) ergibt sich indes, dass das Gesetz primär Opfer im Blick hat, die sich - im Zwei-Personen-Verhältnis - gegen sie gerichteten Aggressionsdelikten ausgesetzt sahen. Die posttraumatische Belastungsstörung des Nebenklägers stellt sich allerdings als lediglich mittelbare Folge eines gegen eine andere Person gerichteten Aggressionsdelikts dar.

Unmittelbar aus dem Gesetz ergibt sich des Weiteren, dass nicht jede „geistige Krankheit“ im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch einen „schweren seelischen Schaden“ im Sinne des § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO darstellt, denn sonst hätte der Gesetzgeber auf die Aufnahme dieser zusätzlichen Voraussetzung verzichtet. Dafür, dass die vom Nebenkläger behauptete posttraumatische Belastungsstörung eine solche - über den Schweregrad von § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB und § 395 Abs. 3 StPO hinausgehende - Dimension erreicht hätte, reichen die vom Nebenkläger dargelegten Symptome und Beeinträchtigungen, wie etwa Schlafstörungen, Albträume, Motivationsschwierigkeiten etc. nicht aus.

Schließlich ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Nebenkläger aufgrund seiner Teilnahme am Vietnam-Krieg bereits vor der gegenständlichen Tat - seit 40 Jahren - an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, fraglich, ob die durch die Tat gegebenenfalls eingetretene Verschlechterung seines Zustands als „schwerer seelischer Schaden“ quantifiziert werden kann.

2. Auch eine Unfähigkeit zur ausreichenden Wahrnehmung der eigenen Interessen, wie sie § 397 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlangt (s. dazu Meyer-Goßner, StPO, 61. Aufl., § 397a Rn. 3 und 9) liegt nicht vor.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es der Zweck der Nebenklage ist, dem Nebenkläger Gelegenheit zu geben, im Verfahren seine persönlichen Interessen auf Genugtuung zu verfolgen, insbesondere durch aktive Beteiligung das Verfahrensergebnis zu beeinflussen und sich gegen die Leugnung oder Verharmlosung seiner Verletzungen zu wehren (Meyer-Goßner aaO, Vor § 295 Rn. 1). Der Nebenkläger trägt hierzu im Wesentlichen vor, dass es ihm seine fehlenden Sprachkenntnisse aufgrund der Besonderheiten einer Revisionshauptverhandlung unmöglich machten, seine Interessen ausreichend wahrzunehmen. In der Revisionsverhandlung gehe es nur um Rechtsfragen, die er selbst nicht ausreichend interessensgerecht wahrnehmen könne.

Diese Argumentation verfängt nicht. Wie sich auch aus § 397 Abs. 3 StPO ergibt, begründet die Tatsache, dass der Nebenkläger der deutschen Sprache nicht mächtig ist, grundsätzlich keine Unfähigkeit zur Interessenswahrnehmung. Warum dies in der Revisionshauptverhandlung anders sein soll, erschließt sich nicht, zumal es sich hier um eine Revision des Generalbundesanwalts handelt, der mit seiner allgemeinen Sachrüge eine Verurteilung des Angeklagten als Täter der (schweren) Freiheitsberaubung erstrebt. Die Freiheitsberaubung berechtigt den Nebenkläger allerdings nicht zur Nebenklage; deren alleiniges Opfer ist der Geschädigte C. Eine Wahrnehmung der Interessen des Nebenklägers in der (weiteren) Verhandlung ist daher nicht mehr erforderlich, weswegen die Bestellung eines Beistands auch aus teleologischen Gründen nicht in Betracht kommt (vgl. LR/Wenske aaO, § 397a Rn. 19).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 583

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 256

Bearbeiter: Christian Becker