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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 778

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 622/17, Urteil v. 17.05.2018, HRRS 2018 Nr. 778


BGH 3 StR 622/17 - Urteil vom 17. Mai 2018 (LG Wuppertal)

Ehre als notwehrfähiges Rechtsgut (Bagatellgrenze; massive wiederholte Beleidigungen; Einbeziehung der Familie; Gebotenheit); rechtsfehlerhaft unterlassene Prüfung der Voraussetzungen eines Notwehrexzesses.

§ 32 StGB; § 33 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die persönliche Ehre darf - als strafrechtlich geschütztes Rechtsgut (§§ 185 ff. StGB) - grundsätzlich auch mit den Mitteln der Notwehr verteidigt werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich nicht um nur geringfügige Behelligungen im sozialen Nahbereich, sozial tolerables Verhalten oder eine sonstige Bagatelle handelt. Diese Grenze ist bei wiederholten schwerwiegenden Beleidigungen unter Einbeziehung der Familie des Betroffenen regelmäßig überschritten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 11. August 2017 zugunsten des Angeklagten aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bestehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, soweit es das Ziel einer Verurteilung des Angeklagten auch wegen versuchten Totschlags verfolgt; es führt jedoch zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zugunsten des Angeklagten.

I.

Die Revision des Nebenklägers ist gemäß § 400 Abs. 1 StPO unzulässig, soweit sie sich gegen die Annahme eines minder schweren Falles der gefährlichen Körperverletzung richtet (vgl. KK/Senge, StPO, 7. Aufl., § 400 Rn. 1). Soweit der Beschwerdeführer die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags anstelle gefährlicher Körperverletzung anstrebt, hat die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge keinen Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten erkennen lassen; das Rechtsmittel ist insoweit unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Das Landgericht hat sich von einem (bedingten) Tötungsvorsatz des Angeklagten rechtsfehlerfrei nicht zu überzeugen vermocht. Auf der - mangels hinreichender Darstellung des Rücktrittshorizonts rechtlich bedenklichen - Hilfserwägung, dass selbst dann, wenn der Angeklagte mit Tötungsvorsatz gehandelt hätte, er jedenfalls mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten wäre, beruht die Entscheidung nicht.

II.

Die auf die Revision des Nebenklägers gemäß § 301 StPO veranlasste Überprüfung der Entscheidung zugunsten des Angeklagten (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 1995 - 2 StR 394/95, NStZ-RR 1996, 130) führt dagegen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, da diese einen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lag der Angeklagte, der an einer paranoiden Schizophrenie leidet, mit dem Nebenkläger im Streit. Aufgrund seiner Todesdrohungen gegen den Angeklagten war gegen den Nebenkläger ein Strafbefehl ergangen; in deswegen gereizter Stimmung begegnete dieser in einem Parkhaus in S. zufällig dem Angeklagten. Der Nebenkläger baute sich in aggressiver Haltung vor dem Angeklagten auf, beleidigte diesen unter anderem als "Penner" und "Hurensohn" und erklärte, dass er den Angeklagten wegen Schwarzarbeit angezeigt habe. Dadurch geriet der Angeklagte, der sich vor dem körperlich überlegenen Nebenkläger fürchtete, in eine Stresssituation, die ihn vor dem Hintergrund seiner (unbehandelten) psychischen Erkrankung überforderte und zu einer erheblichen Beeinträchtigung seines Steuerungsvermögens führte. Um der Aggressivität des Nebenklägers zu begegnen, zog er ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von etwa 7,5 cm, zeigte es diesem und steckte es aufgeklappt wieder in seine Kleidung zurück. Der Nebenkläger aktivierte daraufhin die Videofunktion seines Handys und forderte den Angeklagten wiederholt auf, das Messer noch einmal hervorzuholen; dabei provozierte er den Angeklagten "immer wieder" mit "massiven" Beleidigungen, die sich nun auch auf die Eltern des Angeklagten erstreckten. Als der Angeklagte versuchte, mit erhobenem Zeigefinger verbal zu erwidern, empfand er sich zunehmend überfordert und sprachlos; er verspürte Herzrasen und schwitzte. Schließlich zog der "mittlerweile in hohem Maße affektiv erregte Angeklagte" als Reaktion auf die fortdauernden Beleidigungen (u.a.: "Penner", "Hurensohn", "Deine Mutter ist eine Hure", "Dein Vater ist eine Hure") das Klappmesser erneut hervor, stieß dem Nebenkläger so heftig gegen den Oberkörper, dass dieser mit dem Rücken gegen ein parkendes Auto fiel, und stach sodann mit wuchtigen ungezielten Stichen in Richtung des Nebenklägers, um ihn zu verletzen und die streitige Situation zu beenden. Dadurch fügte er dem Nebenkläger mehrere nicht lebensgefährliche Stich- bzw. Schnittverletzungen am Kopf, an dem zum Schutz erhobenen linken Unterarm und in der Höhe des rechten Schulterblattes zu. Als der Nebenkläger sich entwinden und flüchten konnte, setzte der Angeklagte ihm kurz nach und versuchte, ihm in den Rücken zu stechen, bevor er sodann freiwillig die weitere Verfolgung aufgab, während der Nebenkläger in etwa 20 Meter Entfernung vom Tatort unschlüssig stehen blieb.

2. Die Urteilsgründe leiden an einem durchgreifenden Erörterungsmangel, weil sie sich nicht mit der Frage befassen, ob der Angeklagte im Notwehrexzess (§ 33 StGB) handelte.

a) Das Landgericht ist ersichtlich davon ausgegangen, dass es bereits an einer Notwehrlage fehlte. Dabei hat es rechtsfehlerhaft nicht bedacht, dass angesichts der massiven Beleidigungen ein die Notwehrlage begründender rechtswidriger Angriff des Nebenklägers auf die Ehre des Angeklagten in Betracht zu ziehen war; vielmehr hat es die Lage allein unter dem Aspekt eines - hier nicht bevorstehenden - Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten beurteilt. Damit hat sich die Strafkammer den Blick auf die Prüfung der Voraussetzungen eines intensiven Notwehrexzesses verstellt.

b) Die getroffenen Feststellungen belegen hinreichend, dass der Angeklagte zur Abwehr eines massiven gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf seine Ehre handelte. Diese darf als strafrechtlich geschütztes Rechtsgut (§§ 185 ff. StGB) grundsätzlich auch mit den Mitteln der Notwehr verteidigt werden (vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 1952 - 5 StR 1/52, BGHSt 3, 217, 218; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 32 Rn. 8); dies gilt jedenfalls, soweit es sich - wie hier - nicht um nur geringfügige Behelligungen im sozialen Nahbereich, sozial tolerables Verhalten oder eine sonstige Bagatelle handelt (vgl. SSWStGB/ Rosenau, 3. Aufl., § 32 Rn. 7).

Zwar liegt es auf der Hand, dass die Messerattacke des Angeklagten jedenfalls die Grenzen der Gebotenheit des § 32 StGB überschritten hat. Denn zwischen der Art und dem Umfang der aus dem Angriff drohenden Verletzung und der mit der Verteidigung verbundenen Gefährdung und Beeinträchtigung des Angreifers besteht ein unerträgliches Missverhältnis (vgl. SSWStGB/ Rosenau, aaO § 32 Rn. 24 und 34 mwN). Vor dem Hintergrund der festgestellten psychischen Disposition und des affektiven Ausnahmezustands des Angeklagten bei der Tat hätte sich das Landgericht jedoch mit der Frage befassen müssen, ob der Angeklagte die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten hat. Denn nach den bisher getroffenen Feststellungen erscheinen sowohl ein Handeln des Angeklagten im Rahmen eines intensiven Notwehrexzesses, bei dem der Täter bei objektiv bestehender Notwehrlage die Grenzen der Erforderlichkeit oder Gebotenheit des § 32 StGB überschreitet, als auch ein hierfür zumindest mitursächlicher asthenischer Affekt nicht so fernliegend, als dass eine Auseinandersetzung damit entbehrlich erscheint. Die danach gebotene Prüfung des § 33 StGB hat das Landgericht versäumt.

Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen; sie können daher bestehen bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 778

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 272 ; StV 2018, 724

Bearbeiter: Christian Becker