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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 702

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 55/16, Beschluss v. 21.04.2016, HRRS 2016 Nr. 702


BGH 3 StR 55/16 - Beschluss vom 21. April 2016 (LG Hannover)

Rechtsfehlerhafte Begründung der Annahme von - erheblich verminderter - Schuldfähigkeit (Unfähigkeit zur Handlungskontrolle in der Tatsituation).

§ 20 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 29. September 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Körperverletzung in drei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf mehrere Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen erweist sie sich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte an einem unfallbedingten kortikalen Substanzdefekt, der in Folge einer Inaktivität der betroffenen Hirnregion zu einem komplexen Störungsbild geführt hat. So nimmt der Angeklagte auf der kognitiven Ebene Vorgänge verlangsamt und teilweise falsch wahr, was eine dauernde Neigung zur Folge hat, Situationen in paranoider Färbung wahrzunehmen. Auch besteht eine affektive Labilität mit Störung der Impulskontrolle.

Am 8. Januar 2015 würgte er eine Prostituierte, nachdem diese ihn nach Erbringung der vereinbarten Leistungen zum Gehen aufgefordert hatte. Außerdem versetzte er ihr schmerzhafte Fußtritte in die Nierenregion. Einen ihr zu Hilfe eilenden Sicherheitsmann packte er ebenfalls am Hals und drückte so zu, dass dieser Atemnot bekam; außerdem schlug er ihn mehrmals mit der Faust gegen Kopf und Körper (Fall II. 2 der Urteilsgründe). Am 23. März 2015 versetzte er einem Nachbarn einen Faustschlag auf die Nase, entfernte sich dann und verschaffte sich später Zutritt zu dessen Wohnung, wobei er versuchte, ihn mit einem Messer zu verletzen. Nachdem der Nachbar ihn überwältigt hatte und auf ihm liegend das Eintreffen der Polizei abwartete, biss der Angeklagte ihn in den Oberarm (Fall II. 3 der Urteilsgründe).

2. Der Schuldspruch kann insgesamt nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat das Vorliegen von - wenn auch erheblich verminderter - Schuldfähigkeit nicht rechtsfehlerfrei begründet.

a) Nach den Darlegungen des sachverständig beratenen Landgerichts lag beim Angeklagten im Hinblick auf die oben beschriebenen hirnorganischen Veränderungen, deretwegen er auf - teilweise in paranoider Verkennung der Situation erlebte - Zurückweisungen durch sein Umfeld mit Aggression reagiert, zum Zeitpunkt der Taten eine krankhafte seelische Störung vor. Diese Erkrankung habe in beiden Fällen zu einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit geführt. Der Angeklagte habe sich jeweils ungerecht behandelt gefühlt und den dann „einschießenden Affekt“, der sich in den Gewalttaten entladen habe, nicht mehr kontrollieren können.

b) Bei dieser Sachlage hätte sich das Landgericht mit der Frage der Aufhebung der Schuldfähigkeit befassen müssen. Denn den Ausführungen der Strafkammer ist zu entnehmen, dass sie von der Unfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist, in den Tatsituationen sein Handeln zu kontrollieren. Dies spricht aber dafür, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht nur vermindert, sondern aufgehoben war und er deshalb im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) handelte.

Daher muss der Schuldspruch aufgehoben werden. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind jedoch rechtsfehlerfrei getroffen und können aufrechterhalten bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO).

Da die zu neuer Verhandlung berufene Strafkammer erneut umfassend über die Schuldfähigkeit des Angeklagten wird befinden müssen, kann auch der Maßregelausspruch keinen Bestand haben.

3. Sollte die neue Hauptverhandlung wiederum ergeben, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den Taten - eingeschränkt - gegeben war, ist darauf hinzuweisen, dass der fakultative vertypte Milderungsgrund des § 21 StGB bei der Strafrahmenwahl der Erörterung bedarf.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 702

Bearbeiter: Christian Becker