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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 892

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 243/16, Beschluss v. 12.07.2016, HRRS 2016 Nr. 892


BGH 3 StR 243/16 - Beschluss vom 12. Juli 2016 (LG Duisburg)

Rechtsfehlerhafte Unterlassung der Prüfung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen des Hangs; chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit; intensive Neigung zum übermäßigen Konsum; Beeinträchtigung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit; Grenze der physischen Abhängigkeit).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ausreichend für die Annahme eines Hanges zum übermäßigen Genuss von Rauschmitteln i.S.v. § 64 StGB ist, dass der Betroffene aufgrund seiner Konsumgewohnheiten sozial gefährdet oder gefährlich erscheint, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss. Insoweit kann auch dem Umstand, dass durch den Rauschmittelgenuss bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind, indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen; das Fehlen dieser Beeinträchtigungen schließt indes nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 16. März 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vierzehn Fällen sowie wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Während Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweisen, kann das Urteil nicht bestehen bleiben, soweit das Landgericht eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat. Es hat dies damit begründet, dass bei dem Angeklagten keine „Rauschmittelabhängigkeit im Sinne eines Hanges, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“, festgestellt werden könne und hierbei auf die im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellten Angaben des Sachverständigen Bezug genommen. Danach leide der Angeklagte nicht an einer Abhängigkeitserkrankung, die als krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu qualifizieren wäre.

Diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer die Voraussetzungen eines Hanges gemäß § 64 Satz 1 StGB verkannt hat. Ein solcher liegt nicht nur im Falle einer chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit vor; vielmehr genügt bereits eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss (BGH, Beschlüsse vom 4. April 1995 - 4 StR 95/95, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 5; vom 13. Januar 2011 - 3 StR 429/10, juris Rn. 4). Ausreichend für die Annahme eines Hanges zum übermäßigen Genuss von Rauschmitteln ist, dass der Betroffene aufgrund seiner Konsumgewohnheiten sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Insoweit kann auch dem Umstand, dass durch den Rauschmittelgenuss bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind, indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen; das Fehlen dieser Beeinträchtigungen schließt indes nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13, juris Rn. 10).

Diese Voraussetzungen liegen angesichts der Feststellungen nahe, wonach der Angeklagte im überwiegenden Tatzeitraum täglich 1 g Marihuana sowie alle zwei Tage zusätzlich 1 g Kokain konsumierte, die Taten durch seinen Betäubungsmittelkonsum mitmotiviert waren (UA S. 23) und er seit seiner Haftverschonung im Dezember 2015 eine ambulante Drogentherapie absolviert. Soweit der Angeklagte demgegenüber nach den Angaben des Sachverständigen seinen regelmäßigen Konsum ohne ausgeprägte Toleranzentwicklung kontrolliert und in der Untersuchungshaft keine schwerwiegenden Entzugssymptome entwickelt hatte, steht dies zwar der Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms im Sinne von ICD 10, F 12.2 entgegen, schließt aber einen Hang im Sinne von § 64 Satz 1 StGB nicht aus.

Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen - auch im Hinblick auf die erforderliche Gefahrenprognose - nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO, vgl. BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5); er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362).

Der Senat schließt aus, dass die rechtsfehlerhafte Unterlassung der Prüfung einer Unterbringung nach § 64 StGB Einfluss auf den Strafausspruch gehabt hat. Dieser kann daher bestehen bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 892

Bearbeiter: Christian Becker