hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1057

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 119/13, Urteil v. 19.09.2013, HRRS 2013 Nr. 1057


BGH 3 StR 119/13 - Urteil vom 19. September 2013 (LG Hannover)

Erpresserischer Menschenraub (Mittäterschaft bei Hinzutreten eines Beteiligten nach Entstehung der Bemächtigungslage); Vermögensnachteil bei der Erpressung.

§ 239a StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 253 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Tatvariante des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB kann nach ihrem eindeutigen Wortlaut nicht in der Weise verwirklicht werden, dass der Täter die durch einen Dritten mittels Entführung oder in sonstiger Weise begründete Bemächtigungslage des Opfers lediglich zu einer Erpressung ausnutzt.

2. Befindet sich das Opfer bereits in der Gewalt von Dritten, die dieses entführt oder sich seiner in sonstiger Weise bemächtigt haben, so kann § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB dagegen anwendbar sein, wenn ein sich erst danach an dem Geschehen beteiligender Täter eigenständig Gewalt über das Opfer erlangt. Das kommt insbesondere in Betracht, wenn der Täter durch sein Eingreifen die Situation des Opfers qualitativ ändert und über das Fortbestehen der Bemächtigungslage nunmehr maßgeblich selbst bestimmt.

3. Durch die Abgabe eines schriftlichen Anerkenntnisses einer nicht bestehenden Verbindlichkeit (Schuldschein) kann bereits ein Vermögensnachteil im Sinne des § 253 Abs. 1 StGB begründet werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 26. November 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung (nach der Urteilsformel des schriftlichen Urteils: wegen versuchter räuberischer Erpressung) unter Einbeziehung einer Vorstrafe zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Gegen das Urteil wendet sich der Nebenkläger mit der Sachbeschwerde und verfolgt das Ziel, dass der Angeklagte auch wegen - jeweils gemeinschaftlich begangenen - erpresserischen Menschenraubes (§ 239a Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit Geiselnahme (§ 239b Abs. 1 StGB) verurteilt wird. Das Rechtsmittel ist begründet.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Die anderweitig verfolgten B., N., D. und Y. Y. sowie ein unbekannt gebliebener Tatgenosse entführten den Nebenkläger am 8. Juli 2003 gegen 18:15 Uhr aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes auf Veranlassung und Anweisung des A. Y. von I. zu dem "bordellartigen Betrieb" namens "H." in der Nähe von M. Hintergrund dieser Aktion waren Vorwürfe des Nebenklägers gegen den Angeklagten und die Familie des A. Y. im Internet, die er dort unter anderem als "Kurden-Mafia" bezeichnet hatte. A. Y. hatte daher beschlossen, den Nebenkläger durch seine Brüder entführen zu lassen, um ihn einzuschüchtern und unter Ausnutzung der Einschüchterung zu veranlassen, die verunglimpfende Veröffentlichung im Internet zu löschen.

Als der später informierte Angeklagte gegen Mitternacht in der "H." hinzukam, sah er, dass der Nebenkläger blutende Verletzungen hatte; ihm war klar, dass dieser nicht freiwillig, sondern unter Gewalteinwirkung durch die gesondert Verfolgten zur "H." gebracht worden und dort nur aufgrund der fortgesetzten Bewachung geblieben war.

Als der Nebenkläger den Angeklagten darauf hinwies, dass die Polizei schon von der Entführung informiert worden sei, entschlossen sich der Angeklagte und der bereits zuvor gegen 21:00 Uhr eingetroffene A. Y., das Lokal zu verlassen und mit dem Nebenkläger in Richtung Süden zu fahren, um ihn weiter einzuschüchtern, einen möglicherweise noch zu erwartenden Widerstand zu brechen sowie auf diese Weise ihre Forderungen gegen den Nebenkläger durchzusetzen. Der Angeklagte hatte dabei insbesondere die Absicht, den Nebenkläger zur Zahlung eines Betrages zwischen 150.000 und 170.000 € als "Wiedergutmachung" zu zwingen, da er meinte, sich wegen des Verhaltens des Nebenklägers, das ihn seiner Auffassung nach in der Ausübung seiner Geschäfte beeinträchtigt und finanziell geschädigt hatte, rächen zu müssen. Dabei war ihm bewusst, dass er tatsächlich keine Forderung gegen den Nebenkläger geltend machen konnte, die von der Rechtsordnung anerkannt werden würde. Der Angeklagte und A. Y. veranlassten den Nebenkläger unter Ausnutzung seiner aufgrund der vorangegangenen Entführung bedrängten Lage, in den Pkw des Angeklagten einzusteigen. Die gesondert verfolgten B. und A. Y. setzten sich auf dem Rücksitz rechts und links neben den Nebenkläger, der Beifahrersitz blieb unbesetzt. Der Angeklagte forderte in Ausführung des zuvor gefassten Planes während der anschließenden Fahrt zur Autobahn und im Weiteren auf der BAB 7 in Richtung Süden bis zur Raststätte Hi. von dem Nebenkläger mehrfach eine notariell beglaubigte Erklärung des Inhalts, dass er die Internetveröffentlichung rückgängig machen und ihm eine finanzielle Entschädigung zahlen werde. Der Nebenkläger erklärte sich schließlich unter dem Druck der Situation bereit, die von dem Angeklagten geforderte Erklärung abzugeben. Dies sollte in F. geschehen, da der Nebenkläger angab, dort ein Büro zu haben.

In der Nähe von F. brach der Angeklagte die - inzwischen mit einem anderen Fahrzeug fortgesetzte - Fahrt schließlich ab, da er mit einem Zugriff der Polizei rechnete. Der Angeklagte einigte sich sodann mit dem Nebenkläger, dass dieser die Internetveröffentlichung rückgängig mache und eine Zahlung in Höhe von 170.000 € leiste, sodann werde man sich gegenseitig nicht mehr behelligen. Da der Nebenkläger weiter äußerte, dass man zur Erfüllung der Forderungen nicht mehr weiter fahren müsse, sondern er dies nach seiner Ankunft in Ha. erledigen werde und die Polizei die Fahrzeuginsassen zur Rückkehr aufgefordert hatte, kehrten der Angeklagte und die weiteren Beteiligten mit dem Nebenkläger nach Ha. zurück und setzten ihn vor der Polizei in L. ab. Dabei war der Angeklagte davon überzeugt, dass das massive Vorgehen der früheren Mitangeklagten bei der Entführung und die erlittenen Verletzungen ganz sicher dazu führen würden, dass der Nebenkläger den Forderungen nachkäme. Der - erheblich verletzte - Nebenkläger leistete die Zahlung an den Angeklagten indes nicht.

2. Eine Verurteilung des Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubes (§ 239a Abs. 1 StGB) oder Geiselnahme (§ 239b Abs. 1 StGB) hat das Landgericht mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte habe zwar eine Geldforderung an den Nebenkläger gestellt. Er habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch an der Entführung nicht mitgewirkt, sondern sei erst später hinzugekommen und habe dann die nicht von ihm, sondern von anderen geschaffene Lage des Nebenklägers ausgenutzt, um von diesem die Zahlung von 170.000 € zu verlangen. Nach § 239a StGB strafbar sei (aber) nur, wer die von ihm selbst geschaffene Lage ausnutzt. Habe ein Dritter diese Lage herbeigeführt oder haben vom Täter unabhängige Umstände das Opfer in seine Hand gegeben, so genüge es nicht, wenn der Täter diese Situation zu einer Erpressung nutzt. Die Entführung oder das Sich-Bemächtigen brauchten zwar nicht eigenhändig ausgeführt werden. Die Entführung, die von den früheren Mitangeklagten begangen worden sei, könne dem Angeklagten aber nicht nach den Regeln der Mittäterschaft oder mittelbaren Täterschaft zugerechnet werden, da er selbst kein Tatbestandsmerkmal verwirklicht und auch keinen entsprechenden Vorsatz gehabt habe.

Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Zwar scheidet nach den getroffenen Feststellungen eine Verurteilung des Angeklagten wegen Geiselnahme nach einer der beiden Alternativen des § 239b Abs. 1 StGB im Ergebnis jedenfalls deswegen aus, weil gegen den Nebenkläger keine qualifizierte Drohung im Sinne dieser Vorschrift gerichtet werden sollte bzw. gerichtet wurde.

Indes hat das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs (§ 239a Abs. 1 StGB) rechtsfehlerhaft verneint.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht allerdings ausgeführt, dass die Tatvariante des § 239a Abs. 1 Alt. 2 StGB nach ihrem eindeutigen Wortlaut nicht in der Weise verwirklicht werden kann, dass der Täter die durch einen Dritten mittels Entführung oder in sonstiger Weise begründete Bemächtigungslage des Opfers lediglich zu einer Erpressung ausnutzt. Allein hierauf beschränkt sich indes die tatbestandliche Einschränkung der Vorschrift. Sie mag daher einer Verwirklichung des erpresserischen Menschenraubs in der Form entgegen stehen, dass dem (gegebenenfalls nur als "Trittbrettfahrer": vgl. MüKo-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 239a Rn. 60 mwN) später durch erpresserische Handlungen in das Geschehen eingreifenden Täter die von Dritten zuvor begründete und weiter aufrecht erhaltene Bemächtigungslage über die Rechtsfigur der sukzessiven Mittäterschaft zugerechnet wird (so etwa Immel, Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), 2001, S. 325; vgl. demgegenüber bei zwar nicht eigenhändiger, aber mittäterschaftlicher Begründung der Bemächtigungslage durch den später aktiv Eingreifenden: BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2000 - 2 StR 379/00, NStZ 2001, 247 f.; bei Begründung der Bemächtigungslage in mittelbarer Täterschaft: Schönke/Schröder/Eser/Eisele, StGB, 28. Aufl., § 239a Rn. 21; Renzikowski aaO). Sie schließt es indes nicht aus, dass der später Hinzutretende § 239a Abs. 1 StGB in anderer Weise verwirklicht. Dazu gilt:

Befindet sich das Opfer bereits in der Gewalt von Dritten, die dieses entführt oder sich seiner in sonstiger Weise bemächtigt haben, so kommt durchaus in Betracht, dass ein sich erst danach an dem Geschehen beteiligender Täter eigenständig Gewalt über das Opfer erlangt. So liegt es jedenfalls dann, wenn er durch sein Eingreifen die Situation des Opfers qualitativ ändert und über das Fortbestehen der Bemächtigungslage nunmehr maßgeblich selbst bestimmt (vgl. Renzikowski aaO Rn. 34 und 60). Es gilt hier nichts anderes als in den Fällen, in denen sich das Opfer aufgrund anderer Umstände bereits in einer hilflosen Lage befindet und sich der Täter dies zunutze macht, um das Opfer in seine Gewalt zu bringen (vgl. Renzikowski aaO). Tut er dies in der Absicht, die so gewonnene Herrschaft über das Opfer zu dessen Erpressung auszunutzen, so verwirklicht er in beiden Fallgestaltungen den Tatbestand des § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB.

So lag es hier. Nach dem Eintreffen des Angeklagten in der "H." entschieden nicht mehr die ursprünglichen Entführer darüber, wie mit dem Nebenkläger verfahren werden sollte. Vielmehr bestimmten nunmehr der Angeklagte und A. Y., dass der Nebenkläger im Pkw des Angeklagten von der "H." abtransportiert wurde und beide brachten den Nebenkläger in dem Fahrzeug in ihre Gewalt; der Angeklagte bestimmte das Fahrziel F. und machte sich dorthin mit dem Nebenkläger auf den Weg. Er entschied später auch über die Freilassung des Nebenklägers. Damit hat er sich des Nebenklägers in der "H." selbst bemächtigt im Sinne des § 239a Abs. 1 Alt. 1 StGB.

b) Nach den bisherigen Feststellungen des Landgerichts scheitert eine Verurteilung des Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs auch nicht notwendig daran, dass es an dem erforderlichen funktionalen, zeitlichen Zusammenhang zwischen der Bemächtigungslage des Nebenklägers und der vom Angeklagten ins Auge gefassten Erpressung (vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 239a Rn. 4a mwN) deshalb fehlt, weil nach der Vorstellung des Angeklagten der Nebenkläger die ihm abzupressende vermögenswerte Leistung erst nach Beendigung der Bemächtigungslage erbringen sollte. Zwar trifft dies ersichtlich auf die vom Angeklagten erstrebte Zahlung von 150.000 bis 170.000 € zu. Indes wollte der Angeklagte den Nebenkläger auch zu der Abgabe eines entsprechenden, notariell beglaubigten Schuldanerkenntnisses nötigen, und die Feststellungen lassen es jedenfalls möglich erscheinen, dass der Nebenkläger diese Erklärung nach dem ursprünglichen Plan des Angeklagten noch während des Andauerns der Bemächtigungslage in F. abgeben sollte. Durch die Abgabe eines schriftlichen Anerkenntnisses einer nicht bestehenden Verbindlichkeit (Schuldschein) kann indes bereits ein Vermögensnachteil im Sinne des § 253 Abs. 1 StGB begründet werden (BGH, Urteil vom 9. Juli 1987 - 4 StR 216/87, BGHSt 34, 394 ff.; zur Notwendigkeit einer konkreten Schadensermittlung s. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215; vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., NJW 2012, 907, 915 ff.).

3. Der aufgezeigte Rechtsmangel führt auf die Sachbeschwerde des Nebenklägers zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insgesamt. Demgemäß kann auch die ausgesprochene Kompensationsentscheidung nicht bestehen bleiben.

Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revision des Nebenklägers hat demgegenüber keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 301 StPO entsprechend; vgl. Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 301 Rn. 2).

Der neue Tatrichter wird mit Blick auf die nach den bisherigen Feststellungen vom Angeklagten erlittene Freiheitsentziehung in der Schweiz (UA S. 8) gegebenenfalls eine Anrechnungsentscheidung gemäß § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1057

Bearbeiter: Christian Becker