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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 935

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 171/12, Urteil v. 06.09.2012, HRRS 2012 Nr. 935


BGH 3 StR 171/12 - Urteil vom 6. September 2012 (LG Düsseldorf)

Mord; Heimtücke (kein automatischer Ausschluss der Arglosigkeit bei vorherigen verbalen Auseinandersetzungen; Maßgeblichkeit der Arglosigkeit bei Versuchsbeginn)

§ 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Das Opfer muss weiter gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein. Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Tatopfer aber nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet. Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist zudem, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.).

2. Verbale Streitigkeiten stehen, selbst wenn sie der Tötungshandlung unmittelbar vorausgehen, der Heimtücke nicht entgegen. Es kommt auch in einem solchen Fall auf die Arglosigkeit des Opfers gegenüber einem Angriff auf Leben oder körperliche Unversehrtheit an. Eine tatsächlich vorhandene Arglosigkeit in diesem Sinne wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Opfer nach den Umständen mit einem tätlichen Angriff hätte rechnen müssen. Erkennt der im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer von ihm ausgehenden bloß verbalen Attacke zur Tötung seines Opfers ansetzende Täter dessen dennoch erhalten gebliebene Arglosigkeit gegenüber der Möglichkeit eines tätlichen Angriffs und nutzt er diese bewusst zur Tat aus, so handelt er heimtückisch (vgl. BGHSt 33, 363, 365; BGH HRRS 2007 Nr. 274).

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22. August 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die mit dem Ziel einer Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes eingelegte und mit sachlich-rechtlichen Beanstandungen begründete Revision der Nebenklägerin. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war die Ehe des Angeklagten mit der Nebenklägerin seit Jahren von regelmäßigen, häufig lautstarken und auch gewalttätigen Streitigkeiten geprägt. Die Eheleute versöhnten sich aber stets wieder miteinander. Ende November 2010 wohnte der Angeklagte nach einem neuerlichen Streit für mehrere Tage bei einem Freund. Als er am 27. November 2010 in die Ehewohnung zurückkam, zog die Nebenklägerin zu ihren Eltern. Nach ihrer Rückkehr am 30. November 2010 entwickelte sich sofort wieder Streit zwischen den Eheleuten. Am Tag darauf kam es spätestens gegen 10.40 Uhr im Schlafzimmer zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Angeklagte ein im Rückenbereich seines Hosenbundes befindliches Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 13 cm ergriff, die Nebenklägerin in den Schwitzkasten nahm, mit dem Messer wahllos auf sie einstach und ihr Stichverletzungen im Brust-, Thorax- und Bauchbereich sowie am Hals beibrachte. Dabei erkannte der Angeklagte, dass die Verletzungen lebensgefährlich waren und nahm billigend in Kauf, dass das Opfer an ihnen versterben könnte. Nachdem die Frau zusammengesackt war und regungslos am Boden lag, ließ der Angeklagte in der Überzeugung von ihr ab, sie werde umgehend versterben. Inzwischen war der neunjährige Sohn hilfesuchend zu den Nachbarn gelaufen, die um 10.42 Uhr die Polizei alarmierten. Die Nebenklägerin konnte durch den Einsatz eines Notarztes und eine sofortige Operation gerettet werden.

Das Landgericht hat sich rechtsfehlerfrei vom bedingten Tötungsvorsatz sowie davon überzeugt, dass der Angeklagte nach den Messerstichen vom alsbaldigen Versterben der Nebenklägerin ausging, der Tötungsversuch deshalb beendet war. Es hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewürdigt. Zum Vorliegen von Mordmerkmalen hat die Strafkammer lediglich ausgeführt, solche seien "nicht erkennbar". Insbesondere könne "aufgrund des bereits seit dem Vorabend der Tat andauernden Streits der Eheleute eine heimtückische Tatbegehung ausgeschlossen werden".

2. Die Verneinung des Mordmerkmals Heimtücke hält, wie auch der Generalbundesanwalt ausgeführt hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Hierzu im Einzelnen:

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Das Opfer muss weiter gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein. Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Tatopfer aber nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet. Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist zudem, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 20. Januar 2005 - 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691, 692 und 29. November 2007 - 4 StR 425/07, NStZ 2008, 273; Beschluss vom 29. November 2011 - 3 StR 326/11, NStZ 2012, 270 jeweils mwN).

Verbale Streitigkeiten stehen, selbst wenn sie der Tötungshandlung unmittelbar vorausgehen, der Heimtücke nicht entgegen. Es kommt auch in einem solchen Fall auf die Arglosigkeit des Opfers gegenüber einem Angriff auf Leben oder körperliche Unversehrtheit an. Eine tatsächlich vorhandene Arglosigkeit in diesem Sinne wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Opfer nach den Umständen mit einem tätlichen Angriff hätte rechnen müssen. Erkennt der im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer von ihm ausgehenden bloß verbalen Attacke zur Tötung seines Opfers ansetzende Täter dessen dennoch erhalten gebliebene Arglosigkeit gegenüber der Möglichkeit eines tätlichen Angriffs und nutzt er diese bewusst zur Tat aus, so handelt er heimtückisch (BGH, Urteile vom 13. November 1985 - 3 StR 273/85, BGHSt 33, 363, 365; vom 9. Januar 1991 - 3 StR 205/90, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13; vom 30. Mai 1996 - 4 StR 150/96, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 21 und vom 15. Februar 2007 - 4 StR 467/06, NStZ-RR 2007, 174 nur LS).

Nach diesen Maßstäben greift die Begründung, mit der das Landgericht die Heimtücke abgelehnt hat, zu kurz. Das angefochtene Urteil enthält keine Darlegungen zu den Vorstellungen der Geschädigten und des Angeklagten, als dieser das Opfer in den Schwitzkasten nahm, obwohl die festgestellten Umstände dazu drängten. Der Angeklagte trug das Küchenmesser vor der Tat im Rückenbereich seines Hosenbundes verborgen. Damit liegt, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, nicht fern, dass das Opfer sich keines erheblichen Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versah. Zudem kommt in Betracht, dass der Angeklagte das Messer verdeckt trug, um seine Ehefrau nicht misstrauisch werden zu lassen. Die Erörterungspflicht des Landgerichts entfiel auch nicht dadurch, dass die Beziehung des Angeklagten und der Nebenklägerin nach den Feststellungen "seit Jahren von regelmäßigen, häufig lautstarken und auch gewalttätigen Streitigkeiten geprägt" war. Auch wenn es früher einmal zu körperlichen Übergriffen des Angeklagten gekommen wäre - das Urteil teilt hierzu nichts Weiteres mit -, stünde dies einer Arglosigkeit im entscheidenden Zeitpunkt nicht ohne Weiteres entgegen.

Das angefochtene Urteil hätte sich deshalb dazu verhalten müssen, wie die Nebenklägerin die Situation eingeschätzt hatte, ehe der Angeklagte sie in den Schwitzkasten nahm und mit bedingtem Tötungsvorsatz auf sie einstach. Ebenso wären Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt erforderlich gewesen. Auf dieser tatsächlichen Grundlage wäre nach den dargestellten Grundsätzen zu beurteilen gewesen, ob die Voraussetzungen der Heimtücke erfüllt sind.

3. Die Sache muss deshalb erneut verhandelt und entschieden werden. Obwohl die bisherigen Feststellungen nur unvollständig und in den vorhandenen Teilen (Annahme eines Tötungsvorsatzes und Ausschluss des Rücktritts) ohne Rechtsfehler sind, hebt der Senat das Urteil insgesamt auf, um dem neuen Tatrichter einheitliche Feststellungen zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 935

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2012, 371

Bearbeiter: Christian Becker