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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 2

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 141/09, Beschluss v. 29.10.2009, HRRS 2011 Nr. 2


BGH 3 StR 141/09 - Beschluss vom 29. Oktober 2009 (LG Osnabrück)

Verweisung einer Sache an ein Gericht höherer Ordnung durch das Berufungsgericht (implizite Aufhebung des Urteils des ersten Tatrichters); horizontale Teilrechtskraft (Wegfall bei Vorliegen eines Prozesshindernisses); Verschlechterungsverbot.

§ 328 StPO; § 331 Abs. 2 StPO; § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Verweist das Berufungsgericht in Fällen, in denen das zuerst mit der Sache befasste Gericht seine sachliche Zuständigkeit überschritten hat, die Sache an das zuständige Gericht, so führt dies zum Fortfall des mit der Berufung angefochtenen Urteils, weil in einem Verfahren nur Raum für ein Urteil erster Instanz ist. Dies gilt - über den Wortlaut des § 328 Abs. 2 StPO hinaus - auch dann, wenn sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens herausstellt, dass die Zuständigkeit des Vorderrichters nicht besteht oder bestanden hat.

2. Erwachsen aufgrund eines wirksam beschränkten Rechtsmittels einzelne Bestandteile einer Entscheidung zu einer einheitlichen Tat in Rechtskraft (sog. horizontale Teilrechtskraft), so steht dies der Berücksichtigung eines Prozesshindernisses - etwa der fehlenden sachlichen Zuständigkeit - in einer späteren Entscheidung auch hinsichtlich der bereits rechtskräftig gewordenen Entscheidungsbestandteile nicht entgegen. Hier ist die Rechtsmittelbeschränkung wegen des Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung unbeachtlich, sodass das Rechtsmittel als unbeschränkt eingelegt anzusehen ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 10. November 2008 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht Osnabrück hatte den Angeklagten wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die dagegen von dem Angeklagten eingelegte Berufung hatte die 22. kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück mit Urteil vom 1. Februar 2007 verworfen. Sie war davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur und des von ihm genossenen Alkohols im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt war. Auf die Revision des Angeklagten hatte das Oberlandesgericht Oldenburg mit Beschluss vom 4. Juni 2007 das Berufungsurteil aufgehoben, soweit darin eine Entscheidung zur Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben war, und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück zurückverwiesen; im Übrigen hatte es die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen, weil das Urteil im Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten enthalte. Die sodann zuständige siebte kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück hatte die Sache mit Urteil vom 17. Juli 2008 unter Aufhebung des angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils gemäß § 328 Abs. 2 StPO an die zuständige große Strafkammer des Landgerichts Osnabrück mit der Begründung verwiesen, das von ihr eingeholte psychiatrische Gutachten habe ergeben, dass der Angeklagte zur Tatzeit wegen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB gewesen sei. Zur Behandlung der Psychose sei die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB erforderlich; zu einer Entscheidung über deren Anordnung sei die große Strafkammer berufen.

Diese hat von der Unterbringung des Angeklagten sowohl in einer Entziehungsanstalt als auch in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen und "zur Klarstellung" festgestellt, dass er durch das Urteil des Amtsgerichts Osnabrück rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war. Dagegen wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet.

1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Zwar ist der Angeklagte durch das Unterbleiben einer Anordnung nach §§ 63 oder 64 StGB nicht beschwert und könnte daher insoweit das landgerichtliche Urteil nicht isoliert anfechten (vgl. BGH NStZ 2009, 261). Jedoch folgt die Beschwer des Angeklagten aus der in den Urteilstenor aufgenommenen Feststellung über seine rechtskräftige Verurteilung durch das Amtsgericht Osnabrück; denn diese Feststellung führt zur Vollstreckung der gegen den Angeklagten vom Amtsgericht verhängten Freiheitsstrafe.

2. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist der Angeklagte nicht rechtskräftig wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Die Strafkammer hat angenommen, dass sie zum Schuld- und Strafausspruch deswegen keine eigenen Feststellungen treffen dürfe, weil insoweit mit dem Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg das Urteil des Amtsgerichts Osnabrück rechtskräftig geworden sei. Zur Aufhebung dieses Urteils sei das Berufungsgericht danach nicht mehr berechtigt gewesen, weshalb das Verweisungsurteil der siebten kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück der eingetretenen Rechtskraft nicht entgegenstehe.

Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken; denn das Landgericht hat die Wirkungen des nicht angefochtenen und damit formell rechtskräftig gewordenen Urteils der siebten kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück nach § 328 Abs. 2 StPO verkannt und deshalb rechtsfehlerhaft keine eigenen Feststellungen zum Schuld- und Rechtsfolgenausspruch getroffen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 267 Rdn. 42 m. w. N.).

a) Verweist das Berufungsgericht in Fällen, in denen das zuerst mit der Sache befasste Gericht seine sachliche Zuständigkeit überschritten hat, die Sache an das zuständige Gericht, so führt dies zwangsläufig zum Fortfall des mit der Berufung angefochtenen Urteils, weil in ein und demselben Verfahren nur Raum für ein Urteil erster Instanz ist (BGHSt 21, 245, 247). Diese Grundsätze gelten über den Wortlaut des § 328 Abs. 2 StPO hinaus auch dann, wenn sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens herausstellt, dass die Zuständigkeit des Amtsgerichts nicht besteht oder bestanden hat; maßgeblich ist die objektive Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung (Paul in KK 6. Aufl. § 328 Rdn. 13 m. w. N.; Hegmann NStZ 2000, 574, 575).

Dies bedeutet hier: Nach den Feststellungen der siebten kleinen Strafkammer war die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten. Für eine Entscheidung über die Anordnung dieser Maßregel sind die Amtsgerichte gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG sachlich nicht zuständig. Folglich war auch das Berufungsgericht, dessen sachliche Zuständigkeit über die des ersten Richters nicht hinausgeht (BGHSt 34, 159, 160; Paul aaO Rdn. 12 m. w. N.), an einer solchen Entscheidung gehindert und musste die Sache an die zuständige große Strafkammer verweisen. Das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Osnabrück in Gestalt des die Berufung verwerfenden Urteils der 22. kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück war durch diese Verweisungsentscheidung insgesamt aufgehoben.

b) Dem steht nicht entgegen, dass die siebte kleine Strafkammer in ihrem Urteil ausgeführt hat, "die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils (seien) rechtskräftig" geworden. Abgesehen davon, dass die Feststellungen einer Entscheidung - anders als die Entscheidungsformel - ohnehin nicht in Rechtskraft erwachsen können, vielmehr insoweit allenfalls eine innerprozessuale Bindungswirkung entsteht (Ernemann in FS für Meyer-Goßner S. 619, 620; Gössel in FS für Rieß S. 113, 115 ff., jeweils m. w. N.), tritt die Aufhebung des angefochtenen Urteils bereits mit der Verweisung ein; der förmliche Ausspruch der Aufhebung dient allein der Klarstellung dieser Folge, notwendig ist er nicht (BGHSt 21, 245, 247). Angesichts dessen vermag die in der oben angegebenen Formulierung möglicherweise zum Ausdruck gebrachte Absicht des Berufungsgerichts, die amtsgerichtliche Entscheidung nur teilweise aufzuheben, nichts an der gemäß § 328 Abs. 2 StPO eintretenden Rechtsfolge der Urteilsaufhebung in vollem Umfang zu ändern.

c) Gleiches gilt für den Umstand, dass das Oberlandesgericht Oldenburg die Revision des Angeklagten gegen das erste Berufungsurteil im Schuld- und Strafausspruch gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen hatte und das Urteil des Amtsgerichts damit insoweit rechtskräftig geworden war (Kuckein in KK aaO § 349 Rdn. 35). Erwachsen aufgrund eines wirksam beschränkten Rechtsmittels einzelne Bestandteile einer Entscheidung zu einer einheitlichen Tat in Rechtskraft (sog. horizontale Teilrechtskraft), so steht dies der Berücksichtigung eines Prozesshindernisses - hier der fehlenden sachlichen Zuständigkeit - in einer späteren Entscheidung auch hinsichtlich der bereits rechtskräftig gewordenen Entscheidungsbestandteile nicht entgegen (BGHSt 8, 269; 11, 393, 394; 13, 128; 15, 203, 207; 21, 242, 243; Meyer-Goßner aaO Einl. Rdn. 151 m. w. N.). Die Rechtsmittelbeschränkung ist wegen des Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung unbeachtlich, das Rechtsmittel als unbeschränkt eingelegt anzusehen (BGHSt 34, 159, 165; BGH bei Dallinger MDR 1956, 146; OLG Hamm JMBl NW 1990, 91).

Der Senat kann offen lassen, ob die selben Grundsätze auch in der hier gegebenen Konstellation gelten, dass die Teilrechtskraft nicht auf einer Rechtsmittelbeschränkung, sondern auf einer nur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils durch die Entscheidung des Revisionsgerichts beruht. Dagegen könnte grundsätzlich sprechen, dass sich die aus § 358 Abs. 1 StPO folgende Bindung des Tatrichters an die Rechtsansicht des Revisionsgerichts in der Regel auch auf Vorfragen wie das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen erstreckt. Diese könnte das Oberlandesgericht Oldenburg hier, indem es die vorangegangene Verurteilung sachlichrechtlich geprüft hatte, inzident bejaht haben (Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 358 Rdn. 4; Kuckein aaO § 358 Rdn. 7; Meyer-Goßner aaO § 358 Rdn. 4; aA Wohlers in SK-StPO § 358 Rdn. 9). Demgegenüber ist im vorliegenden Fall aber auch zu beachten, dass die 22. kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück in ihrem Urteil vom 1. Februar 2007 positiv festgestellt hatte, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei im Tatzeitpunkt aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur in Verbindung mit dem genossenen Alkohol erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB gewesen. Damit ist jedoch eine der Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB belegt, deren Anordnung nach Zurückverweisung der Sache das Verschlechterungsverbot nicht entgegensteht (§ 331 Abs. 2, § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Dies könnte es fraglich erscheinen lassen, ob das Oberlandesgericht Oldenburg (jedenfalls auch) die Prozessvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit (inzident) bindend feststellen konnte.

Selbst wenn die siebte kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück die erstinstanzliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Osnabrück aufgrund bindender Revisionsentscheidung nicht mehr hätte verneinen und die Sache nicht nach § 328 Abs. 2 StPO an die große Strafkammer hätte verweisen dürfen, hätte dieser - etwaige - Rechtsfehler indes nur zur Anfechtbarkeit des Verweisungsurteils, nicht aber zu seiner Unbeachtlichkeit geführt. Die Annahme der Nichtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung kommt nur in seltenen Ausnahmefällen dann in Betracht, wenn die Anerkennung ihrer auch nur vorläufigen Gültigkeit wegen des Ausmaßes und des Gewichts der Fehlerhaftigkeit für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung krass widerspricht, und wenn eine derart schwerwiegende Fehlerhaftigkeit offenkundig ist (BGH NStZ 2009, 579, 580 m. w. N.). Für gerichtliche Zwischenentscheidungen scheidet die Bewertung als nichtig generell aus (BGH aaO).

Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dem Verweisungsurteil - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - um eine solche Zwischenentscheidung handelt, liegen hier auch die dargelegten Voraussetzungen nicht vor, die zur Annahme seiner Nichtigkeit führen könnten. Insbesondere ist der Umstand, dass das Berufungsurteil durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils (möglicherweise) in dessen teilweise eingetretene Rechtskraft hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs eingreift, bei einer Urteilsaufhebung nach § 328 Abs. 2 StPO in Fällen der Teilrechtskraft infolge Rechtsmittelbeschränkung (vgl. hierzu BGHSt 34, 159, 165; BGH bei Dallinger MDR 1956, 146; Paul aaO Rdn. 14) oder Fallgestaltungen wie der vorliegenden die zwangsläufige Folge der Verweisung wegen Zuständigkeitsüberschreitung des erstinstanzlichen Gerichts und steht deshalb nicht im krassen Widerspruch zum Geist der Strafprozessordnung oder rechtsstaatlichen Prinzipien. Darüber hinaus führt hier der Eingriff in die Rechtskraft nicht zu der in anderen Konstellationen als maßgebend für die Annahme der Urteilsnichtigkeit angesehenen Gefahr eines Verstoßes gegen das Verbot der Doppelbestrafung (vgl. OLG Bremen JZ 1958, 546 f. m. Anm. Spendel; OLG Oldenburg NJW 1959, 1983 f.; beide im Ergebnis eine Urteilsnichtigkeit gleichwohl verneinend); die Wirksamkeit des Verweisungsurteils bewirkt die Aufhebung des erstinstanzlichen Erkenntnisses und beseitigt so den darin enthaltenen Schuld- und Strafausspruch.

War nach alldem das Urteil des Amtsgerichts Osnabrück in Gestalt des die Berufung verwerfenden Urteils der 22. kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück durch das Verweisungsurteil der siebten kleinen Strafkammer wirksam aufgehoben, musste die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer in der Sache selbst entscheiden und dabei eigene Feststellungen zum Schuld- und Rechtsfolgenausspruch treffen. Daran fehlt es.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Da nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, darf die Strafkammer - sollte sie seine Schuldfähigkeit bei Tatbegehung bejahen - wegen des Verbots der reformatio in peius nach § 331 Abs. 1, § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO keine Strafe verhängen, die über sechs Monate Freiheitsstrafe hinausgeht. Der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt - anstatt oder neben einer Strafe - steht das Verschlechterungsverbot - wie dargelegt - indessen nicht entgegen (§ 331 Abs. 2, § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 2

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2010, 284

Bearbeiter: Ulf Buermeyer