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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 256

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 500/04, Beschluss v. 08.02.2005, HRRS 2005 Nr. 256


BGH 3 StR 500/04 - Beschluss vom 8. Februar 2005 (LG Hannover)

Strafmaß am Rand des Strafrahmens (Begründungsanforderungen; Urteilsgründe; Erörterungsmangel); verminderte Schuldfähigkeit (Alkohol; Trinkmengenangaben).

§ 267 Abs. 4 StPO; § 46 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Je mehr sich die im Einzelfall verhängte Strafe dem unteren oder oberen Rand des zur Verfügung stehenden tatrichterlichen Spielraums nähert, um so höher sind die Anforderungen, die an eine umfassende Abwägung und erschöpfende Würdigung der maßgeblichen straferschwerenden und strafmildernden Umstände zu stellen sind. Dazu gehören jedenfalls auch die Wirkungen, die von der Strafe für das zukünftige Leben des Täters zu erwarten sind.

2. Wird die Tatzeitalkoholisierung aufgrund von Trinkmengenangaben bestimmt, so ist, wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit geht, als Abbauwert der (dem Täter günstigste) minimale Rückrechnungswert von stündlich 0,1 ‰ zugrunde zu legen. Ein Sicherheitszuschlag kommt darüber hinaus nicht in Betracht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 9. September 2004 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt.

Die Revision des Angeklagten wendet sich mit Einzelbeanstandungen allein gegen den Rechtsfolgenausspruch. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Höhe der verhängten, für eine Tat dieser Art bemerkenswert hohen Freiheitsstrafe ist nicht tragfähig begründet. Je mehr sich die im Einzelfall verhängte Strafe dem unteren oder oberen Rand des zur Verfügung stehenden tatrichterlichen Spielraums nähert, um so höher sind die Anforderungen, die an eine umfassende Abwägung und eine erschöpfende Würdigung der maßgeblichen straferschwerenden und strafmildernden Umstände zu stellen sind (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 1 Begründung 15, Beurteilungsrahmen 7). Dem werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

Das Landgericht hat dem Angeklagten "ganz erheblich" das heutige Erscheinungsbild der Nebenklägerin als Tatfolge angelastet. Dabei hat es die Frau, die seit der Tat eine "permanente innere Unruhe verspürt" und während der Hauptverhandlung an Armen und Beinen stark gezittert hat, als "körperliches Wrack" bezeichnet, ohne zu erörtern, ob hierfür auch andere Ursachen in Betracht kommen könnten. Hierzu bestand angesichts der festgestellten Tatvorgeschichte aber Anlaß. Danach hatte die Nebenklägerin am Tatabend am Leineufer mit einer Freundin Kokain konsumiert und war sodann - "wie sie dies immer tat, wenn sie 'Koks' zu sich genommen hatte" (UA S. 6) - umhergelaufen. Dabei hatte sie den Angeklagten angesprochen und sich von diesem eine Zigarette geben lassen.

Auch die Wirkungen, die von der Strafe für das zukünftige Leben des Täters zu erwarten sind, hätten erörtert werden müssen, nachdem der zur Tatzeit 21 Jahre alte Angeklagte vor der Tat erkennbar noch keinen Strafvollzug erfahren hat.

Gleiches gilt für die alkoholische Beeinflussung des Angeklagten bei der Tat, derentwegen die Strafkammer eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen konnte. Daß das Landgericht eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB abgelehnt hat, nachdem der Angeklagte bereits zuvor Straftaten - darunter auch eine Bedrohung, eine Nötigung und eine gefährliche Körperverletzung - unter Alkoholeinfluß begangen hatte, machte eine Erörterung bei der konkreten Strafzumessung hier nicht entbehrlich.

2. Die Beurteilung des Alkoholkonsums des Angeklagten sowie seines Trunkenheitsgrades zur Tatzeit im angefochtenen Urteil gibt darüber hinaus Anlaß zu folgender Bemerkung: Der Tatrichter muß die Einlassung des Angeklagten zu seinem Alkoholgenuß vor der Tat, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine unmittelbaren Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Vielmehr hat er sich im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und ohne Bindung an Beweisregeln aufgrund der im konkreten Fall gegebenen Erkenntnismöglichkeiten eine Überzeugung davon zu verschaffen, ob der Angeklagte in solchem Umfang Alkohol zu sich genommen hat, daß eine erhebliche Verminderung oder Aufhebung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in Betracht kommt. Dabei ist es ihm unbenommen, Trinkmengenangaben des Angeklagten als unglaubhaft einzustufen, wenn er dafür durch die Beweisaufnahme gewonnene Gründe hat, welche seine Auffassung argumentativ tragen (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 12 sowie § 21 Blutalkoholkonzentration 13 und 22).

Wird die Tatzeitalkoholisierung aufgrund von Trinkmengenangaben bestimmt, so ist, wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit geht, als Abbauwert der (dem Täter günstigste) minimale Rückrechnungswert von stündlich 0,1 ‰ zugrunde zu legen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 20 Rdn. 14 m. w. N.). Ein Sicherheitszuschlag kommt nicht in Betracht.

Nach den bisherigen Feststellungen hatte der Angeklagte vor der Tat fünfeinhalb Liter Bier zu sich genommen. Er hatte sich zudem den Hooligans eines Fußballvereins sowie der rechten Szene der NPD nur deshalb angeschlossen, weil er dort "exzessiv Alkohol trinken und sich prügeln konnte". Angesichts dieser Umstände wäre zu erörtern gewesen, ob bei dem Angeklagten ein Hang besteht, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen, und ob er deshalb gefährlich ist (§ 64 StGB).

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 256

Bearbeiter: Ulf Buermeyer