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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 817

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 494/03, Urteil v. 01.07.2004, HRRS 2004 Nr. 817


BGH 3 StR 494/03 - Urteil vom 1. Juli 2004 (LG Kiel)

Mord; besondere Schwere der Schuld (Umfang der revisionsgerichtlichen Prüfung; verminderte Schuldfähigkeit; Fall Jennifer).

§ 211 StGB; § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ob die besondere Schwere der Schuld bei Mord zu bejahen ist, hat der Tatrichter unter Abwägung der im Einzelfall für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu entscheiden (vgl. BGHSt 40, 360, 370; 41, 57, 62; 42, 226, 227). Zwar ist dem Revisionsgericht bei der Nachprüfung der tatrichterlichen Wertung eine ins einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt; insbesondere ist es gehindert, seine eigene Wertung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen (BGH NStZ 1998, 352, 353). Es hat jedoch zu prüfen, ob der Tatrichter alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat.

2. Für die revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit der Entscheidung zur besonderen Schwere der Schuld genügt es nicht, dass der Tatrichter irgendeiner Stelle des Urteils die Umstände näher darlegt, die im Rahmen der Prüfung einer besonderen Schuldschwere Berücksichtigung finden müssen. Vielmehr muss der Tatrichter darlegen, dass er sie gerade auch in diesem Zusammenhang in die gebotene Gesamtwürdigung einbezogen hat.

3. Erheblich verminderte Schuldfähigkeit schließt die Annahme besonders schwerer Schuld, insbesondere in Fällen selbstverschuldeter Trunkenheit, nicht von vorneherein aus.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 8. September 2003 aufgehoben, soweit die besondere Schwere der Schuld verneint worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit der Sachrüge beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß das Schwurgericht die besondere Schwere der Schuld verneint hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hatte der unter anderem wegen Vergewaltigung bereits zweimal zu langjährigen Haftstrafen verurteilte Angeklagte, nachdem er sich am Tatabend heftig mit seiner Freundin gestritten und sich vergeblich um ein Treffen mit einer Prostituierten bemüht hatte, beschlossen, nunmehr irgend eine Frau dazu zu zwingen, sexuelle Handlungen an sich zu dulden. Der Angeklagte wollte sich "durch die Ausübung von Dominanz im Wege eines sexuellen Übergriffs ein Erfolgserlebnis verschaffen" (UA S. 50).

In der Tatnacht trat der Angeklagte aus seinem Versteck hinter einer Hecke hervor und packte das Tatopfer, eine ihm unbekannte und zufällig auf der Straße vorbeikommende 16jährige Schülerin, von hinten, schleppte das strampelnde und sich wehrende Opfer in ein sträucherbewachsenes Gartengelände, warf es zu Boden und wandte stumpfe Gewalt gegen Kopf, Hals und Schulter an, möglicherweise mit seinem Knie oder Ellenbogen. Dabei verfolgte er das Ziel, die Geschädigte ruhig zu stellen, um an ihr sexuelle Handlungen vornehmen zu können. Er erkannte, daß seine Gewalthandlungen den Tod des Opfers zur Folge haben könnten; dies nahm er billigend in Kauf. Obwohl die Schülerin kurz nach Beginn des Angriffs das Bewußtsein verloren hatte, wirkte der Angeklagte weiter mit stumpfer Gewalt auf sie ein, die zu schweren Verletzungen und dann zum Tod des Opfers führte.

2. Das Landgericht hat die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten verneint. Der Angeklagte habe nur ein Mordmerkmal - Befriedigung des Geschlechtstriebes - verwirklicht. Es liege keine besonders grausame, qualvolle Behandlung des Tatopfers vor. Zudem spreche die beim Angeklagten gegebene erheblich verminderte Schuldfähigkeit, auch wenn er diese selbst verschuldet habe, gegen eine besondere Schwere der Schuld.

II.

Die Ablehnung der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld im Sinne des § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Die Entscheidung der Frage, ob die besondere Schwere der Schuld zu bejahen ist, hat der Tatrichter unter Abwägung der im Einzelfall für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu treffen (vgl. BGHSt 40, 360, 370; 41, 57, 62; 42, 226, 227). Zwar ist dem Revisionsgericht bei der Nachprüfung der tatrichterlichen Wertung eine ins einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt; insbesondere ist es gehindert, seine eigene Wertung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen (BGH NStZ 1998, 352, 353). Es hat jedoch zu prüfen, ob der Tatrichter alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat. Daran fehlt es.

Das Schwurgericht hat mehrere Umstände von Gewicht (BGHSt 40, 360, 370) nicht erkennbar in seine Gesamtwürdigung einbezogen: So hat das Landgericht die beiden massiven Vorstrafen des Angeklagten wegen Vergewaltigung ebensowenig berücksichtigt wie den Umstand, daß der Angeklagte am 7. Juni 2002 aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wurde und unter Bewährung stand, als er die abgeurteilte Tat am 20. September 2002 beging. Auch fehlt ein Eingehen darauf, daß das Vorgehen des Angeklagten in besonderer Weise davon geprägt war, daß er auf offener Straße eine zufällig vorbeikommende junge Frau aus einem Versteck heraus überfallen und in ein schwer einsehbares sträucherbewachsenes Gartengelände geschleppt hat.

Das Landgericht hat zwar diese Umstände in dem 113 Seiten umfassenden Urteil erwähnt. Für die revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit genügt es aber nicht, daß der Tatrichter an anderer Stelle des Urteils Umstände näher darlegt, die im Rahmen der Prüfung einer besonderen Schuldschwere Berücksichtigung finden müssen. Denn ohne eine ausdrückliche Berücksichtigung solcher Umstände im Rahmen des § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar, ob der Tatrichter sie in die gebotene Gesamtwürdigung einbezogen hat.

Der Verpflichtung zur Erörterung und Gewichtung der genannten Umstände stand nicht entgegen, daß das Landgericht bei dem Angeklagten, der wußte, daß er unter Alkoholeinfluß schon mehrere gravierende Sexualdelikte begangen hatte, eine alkoholbedingt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bejaht, aber von der Milderungsmöglichkeit gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB keinen Gebrauch gemacht hat. Denn das Vorliegen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit schließt die Annahme besonders schwerer Schuld, insbesonders in Fällen selbstverschuldeter Trunkenheit, nicht von vorneherein aus.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 817

Externe Fundstellen: NStZ 2005, 88

Bearbeiter: Ulf Buermeyer