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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 258/03, Beschluss v. 22.09.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 258/03 - Beschluss vom 22. September 2003 (LG Hannover)

Beweiswürdigung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen (Konstanz, Komplexität; Wiedergabe in den Urteilsgründen; aussagepsychologisches Gutachten; eigene Sachkunde); sexuelle Nötigung; Aufklärungspflicht.

§ 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO; § 177 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 3. März 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im übrigen wegen Vergewaltigung in sieben Fällen und wegen sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.

Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten zum Nachteil seiner Tochter bestritten. Das zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin sachverständig beratene Landgericht hat die Verurteilung im wesentlichen auf die Aussagen der Zeugin gestützt; diese seien angesichts ihres Detailreichtums, ihrer Konstanz und Komplexität glaubhaft; die Übereinstimmung der Aussagen bei Polizei, Begutachtung und Hauptverhandlung sei "insgesamt erstaunlich" gewesen (UA S. 32). Die dieser Wertung zugrundeliegende Beweiswürdigung und ihre Darstellung begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Der Senat kann die vom Landgericht zur Begründung der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin herangezogene inhaltliche Konstanz der Aussagen zum Kerngeschehen nicht nachvollziehen, weil das Urteil schon nicht mitteilt, welche Angaben die Zeugin insoweit der Sachverständigen gegenüber und im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung gemacht hat. Das bezieht sich auf die abgeurteilten Taten, aber auch auf "vage Erinnerungen" an sexuelle Übergriffe durch die Männerrunde ihres Vaters in der Zeit zwischen ihrem 4. und 13. Lebensjahr (UA S. 13) und die "vagen Erinnerungen" an eine Tatbeteiligung ihrer Mutter in Einzelfällen (UA S. 14). Mit dieser Bewertung der Aussagen der Zeugin als "vage" steht es im übrigen im Widerspruch, wenn das Landgericht die Angaben der Zeugin zu den zahllosen gravierenden Mißbrauchsfällen zwischen dem 3. und 25. Lebensjahr in der Hauptverhandlung als besonders "detailreich und konstant" einordnet (UA S. 49). Hiermit ist wiederum nicht in Einklang zu bringen, daß das Landgericht auf UA S. 32 ausführt: Die Zeugin habe "auch in der Hauptverhandlung nicht alle Einzelheiten der Vorgeschichte zu den angeklagten Taten geschildert, ist hierzu aber auch von der Kammer wegen der bereits vorhandenen ausführlichen übrigen Aussage nicht weitergehend befragt worden. Die Kammer hielt das Ausgesagte für die Feststellungen und die Prüfung der Glaubhaftigkeit für ausreichend." Der neue Tatrichter wird angesichts der außergewöhnlichen Umstände des Falles und insbesondere der Aussageentstehung auch zu prüfen haben, ob nicht die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zur Frage der Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin unverzichtbar ist (vgl. BGHSt 23, 176, 188 ff.; BGH NStZ 1997, 199).

Bearbeiter: Ulf Buermeyer