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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 107/97, Beschluss v. 26.03.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 107/97 - Beschluss vom 26. März 1997 (LG Hanau)

BGHSt 43, 34; nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe, wenn das frühere Urteil auf eine Gesamtstrafe erkannt hat, aber keine Einzelstrafen enthält (Vornahme eines Härteausgleiches).

§ 55 StGB

Leitsätze

1. § 55 StGB findet keine Anwendung, wenn das frühere Urteil auf eine Gesamtstrafe erkannt hat, aber keine Einzelstrafen enthält. Der Tatrichter hat in diesem Fall einen Härteausgleich bei der Bemessung der neuen Strafe vorzunehmen. (BGHSt)

2. Der spätere Tatrichter ist nicht befugt, die vom früheren Tatrichter verabsäumte Festsetzung einer Einzelstrafe aufgrund eigener Erwägungen nachzuholen. Dafür fehlt ihm die Zuständigkeit. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 27. November 1996 im Strafausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern unter Einbeziehung einer Strafe aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten erweist sich als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO, soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Hingegen hält der Strafausspruch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht hat für die dem angefochtenen Urteil zugrundeliegende, Anfang 1995 begangene Tat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt. Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Wetzlar vom 13. September 1996 war der Angeklagte wegen Diebstahls in zwei Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtstrafe von acht Monaten verurteilt worden. Einzelstrafen waren in diesem Urteil nicht festgesetzt worden. Das Landgericht hat diese Gesamtstrafe "zugunsten des Angeklagten" als Einzelstrafe behandelt und mit ihr unter Erhöhung der Einsatzstrafe von zwei Jahren eine neue Gesamtfreiheitsstrafe gebildet.

Diese Verfahrensweise war rechtlich nicht zulässig.

Die Gesamtstrafe von acht Monaten konnte weder als Gesamtstrafe noch als Einzelstrafe in die vom Landgericht gebildete neue Gesamtstrafe einbezogen werden. Grundlage für die Bildung einer Gesamtstrafe sind die Einzelstrafen, die keine bloßen Rechnungsgrößen darstellen, sondern auch bei Wegfall der Gesamtstrafe fortbestehen. Bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung stehen sie - auch wenn sie in einer rechtskräftigen Gesamtstrafe zusammengefaßt waren - nach Auflösung dieser Gesamtstrafe zu einer neuen Gesamtstrafenbildung zur Verfügung. § 55 StGB ermächtigt und verpflichtet den Tatrichter, in rechtskräftige frühere Gesamtstrafen einzugreifen (BGHSt 35, 243, 245; 41, 374, 375). Der spätere Tatrichter ist aber nicht befugt, die vom früheren Tatrichter verabsäumte Festsetzung einer Einzelstrafe aufgrund eigener Erwägungen nachzuholen (BGHSt 41, 374, 376). Für diese richterliche Entscheidung (BGHSt 4, 345; 41, 374, 375) fehlt ihm die Zuständigkeit.

Den Grundsätzen der Gesamtstrafenbildung und der Bedeutung der Einzelstrafen für die Gesamtstrafenbildung widerspricht es aber auch - wie es teilweise vertreten wird (OLG Stuttgart NJW 1968, 1731; Vogler in LK StGB 10. Aufl. § 55 Rdn. 23) - die frühere Gesamtstrafe als solche einzubeziehen, wenn die Festsetzung von Einzelstrafen unterlassen worden war. Der Tatrichter muß in diesen Fällen die frühere Gesamtstrafe außer Betracht lassen; andernfalls würde die Vorschrift des § 55 StGB entgegen dem Gesetz bei der Verhängung ein und desselben Strafübels zweimal angewandt. Allerdings darf der Angeklagte durch die getrennte Aburteilung keine Nachteile erleiden. Nach gefestigter Rechtsprechung sind auftretende Unbilligkeiten bei der Strafzumessung auszugleichen, wenn eine Gesamtstrafenbildung nach §§ 53, 55 StGB aus Rechtsgründen ausscheidet. Der danach gebotene Härteausgleich - etwa bei der Unzulässigkeit einer Gesamtstrafenbildung einer Freiheitsstrafe des allgemeinen Strafrechts mit einer Jugendstrafe (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 6), bei einer erledigten Strafe, aber auch bei einem durch die Zufälligkeit der Zäsurwirkung übermäßigen Gesamtstrafübel (BGH StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Zäsurwirkung 10) - ist auch in Fällen der vorliegenden Art, in denen Einzelstrafen fehlerhaft nicht festgesetzt und deshalb nicht einbezogen werden können, vorzunehmen, wenn nur so ein schuldangemessenes Gesamtmaß der Strafen zu erreichen ist. Gegebenenfalls ist daher die ohne die frühere Verurteilung an sich schuldangemessene neue Strafe entsprechend herabzusetzen.

Der Angeklagte ist durch die fehlerhafte Gesamtstrafenbildung im vorliegenden Fall auch beschwert. Da die einbezogene Strafe zur Bewährung ausgesetzt war, wird der Angeklagte durch die nicht mehr aussetzungsfähige Gesamtstrafe so gestellt, als ob die Strafaussetzung widerrufen wäre, ohne daß ein Widerrufsgrund nach § 56 f StGB gegeben wäre. Auch die vom Landgericht verhängte Strafe von zwei Jahren wäre grundsätzlich noch aussetzungsfähig.

Da der neue Tatrichter - unter Berücksichtigung des Verschlechterungsverbots - zu prüfen haben wird, ob die vom Landgericht verhängte Strafe zum Ausgleich der vom Angeklagten nicht verschuldeten Unmöglichkeit der Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Wetzlar zu mildern ist, kann auch diese - an sich rechtsfehlerfrei begründete - Strafe keinen Bestand haben. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es nicht, sie sind durch den Rechtsfehler nicht betroffen. Zusätzliche Feststellungen etwa zur Frage einer noch zu prüfenden Strafaussetzung zur Bewährung können getroffen werden.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 34; NJW 1997, 1993; NStZ 1997, 486; StV 1999, 599

Bearbeiter: Rocco Beck