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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 621/95, Urteil v. 31.01.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 621/95 - Urteil vom 31. Januar 1996 (LG Kassel)

BGHSt 42, 39; Zuständigkeit der Jugendkammer vor dem Schwurgericht in Jugendschutzsachen (keine Zuständigkeitsverneinung nach Zulassung der Anklage mit Hinweis auf die ebenfalls bestehende Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer).

§ 209a Nr. 2 lit. a StPO; § 209a Nr. 2 lit. b StPO; § 225a Abs. 1 StPO; § 270 Abs. 1 StPO; § 26 GVG; § 74 Abs. 2 GVG; § 74b GVG; § 74e GVG

Leitsätze

1. Auch Straftaten, für die nach § 74 Abs. 2 GVG eine Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist, können, wenn es sich um Jugendschutzsachen im Sinne der §§ 74b, 26 GVG handelt, vor der Jugendkammer verhandelt werden. (BGHSt)

2. Nach Zulassung der Anklage darf auch in Jugendschutzsachen die Jugendkammer ihre Zuständigkeit nicht mehr unter Hinweis auf die ebenfalls vorliegende Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer verneinen. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 27. September 1995 aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen Kosten und Auslagen, an die 3. Strafkammer des Landgerichts Kassel als Jugendschutzkammer zurückverwiesen.

3. Kosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben.

Gründe

Dem erwachsenen Angeklagten liegt zur Last, am 30. März 1995 versucht zu haben, einen 14jährigen und einen 10jährigen Jungen zu töten. Die Staatsanwaltschaft hat wegen dieses Vorfalles Anklage zur Jugendkammer als Jugendschutzkammer erhoben. Diese hatte mit Beschluß vom 27. Juni 1995 die Eröffnung abgelehnt, weil nach § 74 Abs. 2 Nr. 5 GVG nur das Schwurgericht für dieses Verfahren zuständig sei. Eine Zuständigkeit der Jugendschutzkammer bestehe nach § 74 b GVG allenfalls neben einer allgemeinen Strafkammer. Das Schwurgericht verfüge jedoch über eine Spezialzuständigkeit, sei also keine allgemeine Strafkammer. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main diesen Beschluß aufgehoben und die Sache "zur erneuten Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens" zurückverwiesen. Die Jugendkammer hat das Hauptverfahren eröffnet, jedoch darauf hingewiesen, daß sie sich weiterhin für unzuständig halte. Im Hauptverhandlungstermin hat sie dann durch Urteil aus den bereits im Beschluß vom 27. Juni 1995 aufgeführten Gründen das Verfahren eingestellt.

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die der Generalbundesanwalt vertritt, hat Erfolg.

1. Die Jugendkammer durfte nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ihre Zuständigkeit nicht mehr verneinen. Dies folgt aus § 225 a Abs. 1 und § 270 Abs. 1 StPO. Danach ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 225 a StPO) und in der Hauptverhandlung selbst (§ 270 StPO) ein Zuständigkeitsmangel des angerufenen Gerichts nur dann zu beachten, wenn ein höherrangiges Gericht zur Entscheidung berufen ist. Nach der Zulassung der Anklage gilt aber die Jugendkammer als Jugendschutzgericht im Verhältnis zur Schwurgerichtskammer als ranggleich. Dies hat der Gesetzgeber dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er in § 225 a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 und in § 270 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 StPO nur auf § 209 a Nr. 2 a StPO, nicht aber auch auf die Nummer 2 b Bezug genommen hat. Grund dafür ist, daß die Frage der Zuständigkeit in diesen Fällen, in denen der Staatsanwaltschaft eine Wahlmöglichkeit eingeräumt ist, im Eröffnungsverfahren abschließend geklärt werden soll. Nach der Eröffnung des Verfahrens sind deshalb weder Abgabe noch Verweisung mit der Begründung, es liege keine Jugendschutzsache vor, statthaft. Das angerufene Jugendschutzgericht darf folglich das Verfahren auch nicht mehr einstellen, weil die Sache nicht in seinen Geschäftskreis falle (vgl. die ausdrückliche Regelung für das Verfahren gegen Jugendliche in § 47 a JGG; vgl. auch Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. Rdn. 32 zu § 209 a StPO; derselbe NJW 1978, 2265, 2267; Brunner JGG 9. Aufl. nach § 125 Rdn. 6; Begr. des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1979 BT-Drucks. 8/976 S. 48).

2. Die Ansicht des Landgerichts geht aber auch in der Sache selbst fehl. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß Straftaten, für die nach § 74 Abs. 2 GVG eine Strafkammer als Schwurgericht zuständig, ist, als Jugendschutzsachen vor der Jugendkammer verhandelt werden.

Nach §§ 26, 74 b GVG können auch die Jugendgerichte, also einschließlich der Jugendkammer, in Strafsachen gegen Erwachsene unter anderem dann tätig werden, wenn Kinder oder Jugendliche durch die Tat verletzt wurden (Jugendschutzsachen - § 26 Abs. 1 GVG). Eine nach dem Maßstab des § 26 Abs. 2 GVG zu beurteilende Frage des Einzelfalles ist es hierbei, ob die allgemeine Strafkammer oder die Jugendkammer zur Entscheidung berufen ist (vgl. BGHSt 13, 53, 59; 13, 297, 299); das Jugendgericht befindet hierüber nach Maßgabe der §§ 209, 209 a Abs. 2 Nr. 2 b StPO. Für die in § 74 Abs. 2 GVG aufgeführten Schwurgerichtssachen gelten keine Besonderheiten. Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 74 b GVG. Die Vorschrift begründet in Jugendschutzsachen allgemein die Zuständigkeit der Jugendkammer als Gericht des ersten Rechtszuges und erklärt in ihrem Satz 2 die Bestimmung des § 74 GVG für entsprechend anwendbar. Diese Verweisung erfaßt seit dem Inkrafttreten des 1. Strafverfahrensreformgesetzes am 1. Januar 1975 auch den geltenden § 74 Abs. 2 GVG, der die Schwurgerichtssachen im einzelnen aufführt und mit der Nummer 5 den Totschlag umfaßt.

Daß der Schwurgerichtskammer im Verhältnis zur Jugendkammer als Jugendschutzgericht keine Spezialzuständigkeit beigelegt ist, ergibt sich im übrigen aber auch aus den Vorrangregelungen, welche der Gesetzgeber mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 getroffen hat. Mit diesem Gesetz hat er unter den verschiedenen gerichtlichen Spruchkörpern eine Rangfolge festgelegt, um Zuständigkeitszweifel rasch beheben zu können. Er hat in § 74 e GVG aber der Schwurgerichtskammer keinen Vorrang vor der Jugendkammer als Jugendschutzkammer eingeräumt. Das Verhältnis der Jugendkammer zu anderen Strafkammern wird von dieser Vorschrift überhaupt nicht erfaßt (vgl. Kissel GVG 2. Aufl. Rdn. 7, 10; Katholnigg Strafgerichtsverfassungsrecht 2. Aufl. Rdn. 2, jeweils zu § 74 e GVG). Es ist auch in § 209 a StPO nicht im Sinne eines Vorrangs des Schwurgerichts geregelt. Wäre der Gesetzgeber hingegen der Auffassung gewesen, daß die Schwurgerichtskammer gegenüber der Jugendkammer einen speziellen Geschäftskreis hat, hätte er dies im Sinne einer Vorrangsregelung zum Ausdruck bringen müssen.

3. Das Einstellungsurteil ist deshalb aufzuheben. In entsprechender Anwendung von § 355 StPO ist es geboten, die Sache an die Jugendstrafkammer (3. Strafkammer) des Landgerichts zurückzuverweisen, die es rechtsfehlerhaft abgelehnt hat, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Damit wird dem Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Rechnung getragen (vgl. BGHSt 26, 191, 201; vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO Rdn. 1; KK-Pikart aaO Rdn. 1 jeweils zu § 355 StPO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GKG.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 39; NStZ 1996, 346; StV 1996, 247

Bearbeiter: Rocco Beck