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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 757/94, Urteil v. 15.03.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 757/94 - Urteil vom 15. März 1995 (LG Frankfurt/Main)

BGHSt 41, 97; Sicherungsverwahrung; Vorverurteilung i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist auch ein Urteil, das eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr für eine Fortsetzungstat verhängt.

§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB

Leitsatz des BGH

Soweit die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB Vorverurteilungen des Täters zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr voraussetzt, genügt die Verurteilung zu einer solchen Strafe auch dann, wenn sie wegen einer Fortsetzungstat verhängt worden ist, die nach dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 3. Mai 1994, GSSt 2/93 (BGHSt 40, 138) nicht mehr angenommen werden dürfte. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 30. August 1994 mit den Feststellungen aufgehoben

1. im gesamten Strafausspruch,

2. soweit das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten des Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung und Mißbrauch von Titeln in zwei Fällen sowie des versuchten Betruges in Tateinheit mit Mißbrauch von Titeln in drei Fällen, darunter in einem Fall in Tateinheit mit Urkundenfälschung, schuldig gesprochen; es hat ihn deshalb zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Mit ihrer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und mit der Sachbeschwerde begründeten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die vom Landgericht verhängte Gesamtfreiheitsstrafe setzt sich aus Einzelstrafen zusammen, von denen zwei höher sind als zwei Jahre (Einsatzstrafe von drei Jahren für eine am 22. Januar 1991 begangene Tat, Einzelstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten für eine im November/Dezember 1990 verübte Tat).

Vor Begehung der zugrundeliegenden Taten war der Angeklagte zweimal rechtskräftig wegen Betruges zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, von denen über zwei Jahre durch Anrechnung der in diesen Verfahren erlittenen Untersuchungshaft als verbüßt gelten:

Am 11. November 1983 hatte ihn das Landgericht Frankfurt am Main zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und dabei für einen fortgesetzten Betrug mit "weit über 100" Einzelakten eine Einsatzstrafe von einem Jahr und neun Monaten verhängt.

Am 14. März 1990 war der Angeklagte, der sich vom 7. April 1988 bis zur Verkündung dieses Urteils in Untersuchungshaft befunden hatte, sodann wegen eines aus neunzehn Einzelakten bestehenden Fortsetzungsbetruges (Tatzeit: August 1982 bis Oktober 1987) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden.

Nach Auffassung des Landgerichts erfüllen die rechtskräftigen Vorverurteilungen wegen fortgesetzten Betrugs nicht die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Aus dem Beschluß des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994 (BGHSt 40, 138), wonach bei dem Tatbestand des Betrugs die Annahme von Fortsetzungstaten ausscheidet, sei zu folgern, daß Vorverurteilungen wegen fortgesetzten Betrugs nur dann zu berücksichtigen seien, wenn feststehe, daß der frühere Tatrichter zumindest für einen der in die Fortsetzungstat einbezogenen Teilakte, wäre dieser als selbständige Tat gewertet worden, eine Einzelstrafe von mindestens einem Jahr verhängt hätte. Dies aber könne im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden. Von einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB hat das Landgericht abgesehen und dies des näheren begründet.

2. Die Begründung, mit der es das Landgericht abgelehnt hat, gegen den Angeklagten die Sicherungsverwahrung anzuordnen, hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB verlangt, daß der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Diese Voraussetzungen erfüllt auch eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, die das frühere Tatgericht wegen einer Fortsetzungstat verhängt hat.

Diese Auffassung lag mittelbar bereits der Entscheidung des Senats zugrunde, in der er betont hat, daß die fehlerhafte - nach damaligem Rechtsverständnis aber noch grundsätzlich mögliche - Annahme einer Fortsetzungstat den Angeklagten deshalb beschweren könne, weil sie in einem späteren Verfahren möglicherweise als Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu einer Bejahung der formellen Erfordernisse für die Anordnung der Sicherungsverwahrung führe (BGH GA 1974, 307 unter Hinweis auf BGH, Beschl. v. 30. März 1972 - 4 StR 100/72). Der 4. Strafsenat hat die Frage ausdrücklich offen gelassen (BGHSt 34, 321, 324). Sie ist im bereits genannten Sinne zu beantworten.

Der neue Tatrichter ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB an Schuldspruch und Strafausspruch der rechtskräftigen Vorverurteilung gebunden; deren materielle Rechtskraft schließt eine abweichende rechtliche Würdigung des ihr zugrundeliegenden Sachverhalts aus. Das bezieht sich auch auf die vom früheren Tatrichter getroffene Entscheidung, das abgeurteilte Geschehen als eine Tat im materiellen Sinne zu werten und demzufolge mit einer Strafe zu ahnden. Die Frage, ob diese Wertung zutreffend war, stellt sich dem neuen Richter, der bei der Entscheidung über die Sicherungsverwahrung frühere Urteile zu berücksichtigen hat, nicht mehr. Es ist ihm verwehrt, in eine Prüfung darüber einzutreten, ob der frühere Richter insoweit richtig entschieden oder - etwa infolge irriger Bejahung von Tateinheit, Bewertungseinheit oder natürlicher Handlungseinheit - zu Unrecht eine Tat statt mehrerer Taten angenommen hatte. Für die Annahme einer Fortsetzungstat durch den früheren Tatrichter kann nichts anderes gelten. Auch eine solche Entscheidung ist für den neuen Tatrichter bindend; ob die Bewertung des Handlungsgeschehens als Fortsetzungstat rechtlich zutreffend war oder stattdessen eine Mehrheit von Einzeltaten anzunehmen gewesen wäre, unterliegt nicht seiner Prüfung. Es widerspräche der Funktion der Rechtskraft, Rechtssicherheit zu gewährleisten, wenn er bei der Entscheidung über die Anordnung von Sicherungsverwahrung die rechtliche Richtigkeit von Vorverurteilungen prüfen dürfte.

Demgemäß genügt als Vorverurteilung im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch ein Urteil, das eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr für eine Fortsetzungstat verhängt hat. Ob bei Annahme von Tatmehrheit zwischen den als Einzelakten der Fortsetzungstat gewerteten Vorfällen einer von ihnen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug geahndet worden wäre, ist unerheblich. Der neue Tatrichter braucht und hat dies nicht zu untersuchen.

Dieser Auffassung steht nicht entgegen, daß im Jugendstrafrecht der neu entscheidende Tatrichter bei der nach § 31 Abs. 2 JGG vorgeschriebenen Einbeziehung eines früheren rechtskräftigen Urteils nicht an dessen Rechtsfolgenausspruch und die dazu getroffenen Feststellungen gebunden ist (vgl. dazu: Eisenberg, JGG 6. Aufl. § 31 Rdn. 38 m.w.N.). Für die hier zu entscheidende Frage lassen sich daraus Folgerungen nicht ableiten, weil es sich dabei um eine dem Jugendstrafrecht eigentümliche Besonderheit handelt, die darauf beruht, daß für mehrere Taten nur eine einzige Strafe verhängt wird (Prinzip der Einheitsjugendstrafe). Die Einbeziehung eines früheren Urteils mit der Folge einer neuen, die frühere und die jetzt abzuurteilende Tat umfassenden Rechtsfolgenbestimmung ist mit der Berücksichtigung einer rechtskräftigen Vorverurteilung im Rahmen der Entscheidung über die Sicherungsverwahrung nicht vergleichbar.

Ähnlich verhält es sich mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Frage, ob das Verbot der Mehrfachverfolgung (Art. 103 Abs. 3 GG) den neuen Tatrichter daran hinderte, rechtskräftig abgeurteilte Handlungen, die der frühere Tatrichter als selbständige Taten bewertet hatte, in die Aburteilung weiterer, noch nicht abgeurteilter Delikte einzubeziehen, wenn sich erwies, daß diese und jene - nach damaligem Rechtsverständnis - in Wahrheit Teilakte derselben Fortsetzungstat darstellten (BGHSt 33, 122; zu dieser Entscheidung und weiterer Rechtsprechung sowie zu den einzelnen Fallgruppen: Niemöller, Anm. zu BGH LM Nr. 20 zu Art. 103 Abs. 3 GG). Wie immer die Antwort hierauf auch ausfallen mochte: stets stand der neue Tatrichter hierbei vor der Notwendigkeit einer zusammenfassenden Bewertung, die sowohl das bereits früher rechtskräftig abgeurteilte Verhalten des Täters als auch dessen weiteres, noch nicht abgeurteiltes Handeln umschloß; damit aber galt seine Beurteilung einem im Vergleich zum früheren Urteil erweiterten Sachverhalt und einem insoweit anderen Gegenstand. Für die Zulässigkeit einer - im Rahmen der Maßregelentscheidung vorzunehmenden - "Korrektur" eines früheren, rechtskräftigen Richterspruchs bei unverändertem Urteilsgegenstand läßt sich daraus nichts herleiten.

An der hiernach bestehenden Rechtslage hat sich auch durch den Beschluß des Großen Senats für Strafsachen vom 3. Mai 1994 (BGHSt 40, 138) nichts geändert. Zwar ist danach die Annahme von Fortsetzungstaten auch für den hier in Rede stehenden Tatbestand des Betrugs ausgeschlossen. Doch läßt diese Entscheidung die der Rechtskraft innewohnende Bindungswirkung früherer Urteile unberührt. Wohl gilt sie für die damals noch anhängigen wie auch die künftigen Verfahren; Rückwirkung für bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren kommt ihr indessen nicht zu, ganz abgesehen davon, daß sie sich selbst keine Rückwirkung beilegt. Sie bietet mithin auch keine Handhabe dafür, frühere rechtskräftige Urteile darauf zu prüfen, welche Einzelstrafen bei Annahme von Tatmehrheit verhängt worden wären und ob diese dann die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllen würden.

Für eine Ermessensentscheidung nach § 66 Abs. 2 StGB war kein Raum, da diese Vorschrift nur eingreift, wenn die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB nicht vorliegen (BGH bei Mösl NStZ 1981, 427).

Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben, soweit die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt worden ist. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs, weil sich nicht ausschließen läßt, daß die Strafen, hätte das Gericht zugleich auf Sicherungsverwahrung erkannt, niedriger ausgefallen wären (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 5 m.w.N.).

3. Für die neue Hauptverhandlung gibt der Senat folgende Hinweise:

Für die Entscheidung der Frage, ob der Täter gefährlich ist (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB), ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Aburteilung maßgebend (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 3 m.w.N.); nur wenn mit Sicherheit angenommen werden kann, daß die Gefährlichkeit bei Ende des Vollzugs der Strafe nicht mehr bestehen wird, darf und muß sie verneint werden (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 6).

Im neuen Urteil werden im übrigen die den Vorverurteilungen zugrunde liegenden Sachverhalte wiederzugeben sein (vgl. BGH bei Detter NStZ 1989, 472; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Vorverurteilungen 5).

Externe Fundstellen: BGHSt 41, 97; NJW 1995, 2798; NStZ 1995, 439; StV 1995, 521

Bearbeiter: Karsten Gaede