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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 336/93, Urteil v. 29.09.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 336/93 - Urteil vom 29. September 1993 (LG Wiesbaden)

BGHSt 39, 326; Beischlaf unter Verwandten; Verwandtschaft ist kein besonderes persönliches Merkmal i.S.d. § 28 Abs. 1 StGB; Umfang der Unterrichtungspflicht gegenüber dem Angeklagten, nach dessen Entfernung während einer Zeugenvernehmung.

§ 28 Abs. 1 StGB; § 173 StGB; § 247 S. 4 StPO

Leitsätze

1. Im Rahmen des § 173 StGB ist die Verwandtschaft kein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 Abs. 1 StGB. (BGHSt)

2. Die Unterrichtungspflicht des § 247 S. 4 StPO erstreckt sich auf den wesentlichen Inhalt dessen, was in Abwesenheit des Angeklagten ein Zeuge ausgesagt oder was sonst verhandelt worden ist. Ihm muss alles mitgeteilt werden, was er wissen muss, um sich sachgerecht verteidigen zu können. Dazu gehört aber nicht, die Verhandlung und Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit und deren erneute Zulassung während der Abwesenheit eines Angeklagten. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 2. November 1992 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger durch das Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Anstiftung zum Beischlaf zwischen Verwandten in zwei Fällen, homosexuellen Handlungen in zwei Fällen und versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Die Revision des Angeklagten, die er auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts stützt, ist unbegründet, da das Urteil keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist.

II.

Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.

1. Daß die Öffentlichkeit nach der Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal gemäß § 247 StPO ausgeschlossen wurde, ohne daß er hierzu gehört und auch nachträglich davon unterrichtet wurde, war nicht verfahrensfehlerhaft.

Die Anordnung, daß sich der Angeklagte während der Vernehmung des Zeugen aus dem Gerichtssaal zu entfernen habe, umfaßte sinngemäß alle Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung des Zeugen in enger Verbindung standen oder sich daraus entwickelten, somit auch die Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit (BGH NJW 1979, 276).

Auch gegen § 247 Satz 4 StPO ist nicht verstoßen worden. Die Unterrichtungspflicht erstreckt sich auf den wesentlichen Inhalt dessen, was in Abwesenheit des Angeklagten ein Zeuge ausgesagt oder was sonst verhandelt worden ist. Ihm muß alles mitgeteilt werden, was er wissen muß, um sich sachgerecht verteidigen zu können (BGH, Beschl. v. 26. Februar 1993 - 3 StR 23/93 m.w.N.). Die Verhandlung und Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit und deren erneute Zulassung während der Abwesenheit eines Angeklagten gehören dazu aber nicht. Die Revision trägt hierzu nichts vor, und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern der Angeklagte von diesen Vorgängen Kenntnis haben mußte, um sich sachgerecht verteidigen zu können.

2. Im übrigen sind die Verfahrensrügen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

III.

Auf die Sachrüge bedarf nur die Frage besonderer Erörterung, ob das Tatgericht bei der Strafrahmenwahl zu Recht eine Milderung nach § 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB abgelehnt hat, soweit der Angeklagte in zwei Fällen wegen Anstiftung zum Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 Abs. 1, § 26 StGB) verurteilt worden ist.

Nach den Feststellungen des Landgerichts forderte der Angeklagte in zwei Fällen seine minderbegabte Ehefrau und deren 15-jährigen begabungsschwachen Sohn, der nicht von ihm abstammt, auf, miteinander den Geschlechtsverkehr in seiner Anwesenheit auszuüben. Nach anfänglicher Weigerung kamen beide jeweils aus Angst vor möglichen körperlichen Mißhandlungen dem Verlangen des Angeklagten nach, dem es Freude machte, die beiden zu demütigen und ihnen seine Macht zu demonstrieren.

Das Landgericht hat zu Recht eine Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB abgelehnt.

1. Nach dieser Vorschrift ist die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB zu mildern, wenn bei dem Teilnehmer besondere persönliche Merkmale fehlen, welche die Strafbarkeit des Täters begründen. Täter nach § 173 StGB kann nur diejenige Person sein, die mit demjenigen, mit dem sie den Beischlaf vollzieht, blutsmäßig verwandt ist. Die blutsmäßige Verwandtschaft begründet also ihre Strafbarkeit. Die Verwandteneigenschaft ist jedoch kein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 Abs. 1 StGB.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterscheidet bei der Anwendung dieser Vorschrift zwischen täterbezogenen Merkmalen, die als besondere persönliche Merkmale behandelt werden, und tatbezogenen Merkmalen, für die die Vorschrift keine Anwendung finden kann (BGHSt 6, 260, 262; 8, 70, 72; 17, 215, 217; 22, 375, 378; 23, 39 und 103, 105; 24, 106, 108). Ob die Verwandteneigenschaft tat- oder täterbezogen ist, hat sie bislang nicht entschieden (vgl. aber BGHR StGB § 173 Anstifter 1).

2. Im Schrifttum wird die Frage, ob die Verwandteneigenschaft nach § 173 StGB ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 Abs. 1 StGB darstellt, nicht einheitlich beantwortet (bejahend: Dreher/Tröndle, 46. Aufl. Rdn. 5 zu § 28; Lackner 20. Aufl. Rdn. 6 zu § 173 StGB; verneinend: Lenckner in Schönke/Schröder 24. Aufl. Rdn. 8 zu § 173; Roxin in LK 10. Aufl. Rdn. 41 zu § 28; Dippel in LK 10. Aufl. Rdn. 17 zu § 173; Horn in SK Rdn. 8 zu § 173; Herzberg GA 1991, 145; differenzierend zwischen § 173 Abs. 1 und Abs. 2 StGB: Gerl, Die besonderen persönlichen Merkmale im Sinne des § 28 StGB, 1975, S. 131 ff). Diejenigen, die die Anwendung von § 28 Abs. 1 StGB auf den Teilnehmer einer Straftat nach § 173 StGB befürworten, begründen ihre Ansicht überwiegend damit, daß den Verwandten die sozial-ethische und daher "spezifisch personale Pflicht" treffe, die engste Familie von sexuellen Beziehungen freizuhalten.

3. Ob ein Merkmal tat- oder täterbezogen ist, hängt davon ab, ob es im Schwergewicht die Tat oder die Persönlichkeit des Täters kennzeichnet. Umstände, welche eine besondere Gefährlichkeit des Täterverhaltens anzeigen (BGHSt 8, 70, 72) oder die Ausführungsart des Delikts beschreiben (BGHSt 23, 103, 105), sind in der Regel tatbezogen. Nicht immer entscheidend ist hierbei, ob diese Umstände in der Person des Täters angesiedelt sind oder nicht. Absichten, welche auf eine hohe Gefährlichkeit des kriminellen Tuns schließen lassen (BGHSt 17, 215, 218) oder an Stelle eines äußeren Merkmals stehen (BGHSt 22, 375, 380), können als tatbezogen einzuordnen sein. Die Einordnung muß in wertender Betrachtung unter Beachtung des Charakters und der Schutzrichtung des jeweiligen Straftatbestandes geschehen. Sie ergibt, daß das Merkmal der Verwandtschaft in § 173 StGB tatbezogen ist.

a) Die Eigenschaft des Täters als Verwandter des anderen Beteiligten kennzeichnet zum einen weder dessen Persönlichkeit noch besondere Rechte oder Pflichten. Sie wird durch eine jeder Einwirkung entzogene und unabänderliche blutsmäßige Verbindung begründet. Verwandtschaft ist kein Merkmal, das allein in der Person des Täters liegt. Zutreffend erfassen läßt es sich nur als eine Beziehung zwischen ihm und einer anderen Person.

b) Schutzgüter des § 173 StGB sind zum anderen in erster Linie Ehe und Familie. Das war zwar bei den Beratungen des 4. Strafrechtsreformgesetzes nicht völlig eindeutig; seinerzeit wurden auch genetische Gründe und der Zweck der Vermeidung von Inzestkindern als Strafgrund genannt (Reg. Entwurf des 4. StrRG, BT-Drucks. IV/1552 S. 14; Schriftl. Bericht des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages BT-Drucks. IV/3521 S. 17). Aber der Standort der Vorschrift im 12. Abschnitt - Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie - ergibt, daß Ehe und Familie in § 173 StGB jedenfalls die überragenden Rechtsgüter sind und geschützt werden sollen. Ihren Schutz verwirklicht das Strafgesetzbuch unabhängig von der persönlichen Einstellung des Täters zu ihnen. Der Täter macht sich auch dann ohne Einschränkung strafbar, wenn aus seiner Sicht die persönlichen Bindungen völlig zerstört sind und eine Familie lediglich noch als wirtschaftliche Gemeinschaft oder gar nicht mehr existiert oder wenn das Verwandtschaftsverhältnis dem rechtlichen Bande nach aufgehoben ist (§ 173 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbs. StGB). Strafgrund ist daher nicht die Verletzung einer besonderen, den Täter treffenden Pflicht zur Bewahrung eines ihm anvertrauten Rechtsgutes, sondern der objektive Eingriff in einen Bereich, der mit Rücksicht auf die berührten hohen, durch Art. 6 GG hervorgehobenen Werte von geschlechtlichen Beziehungen absolut und ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls freigehalten werden soll. Das kennzeichnet nicht den Täter, sondern die Tat.

c) Dem Verbot des § 173 StGB unterliegt schließlich jeder Mensch in seinem familiären Bereich.

Der Unrechts- und Schuldgehalt seiner Mitwirkung an einer Zuwiderhandlung gegen § 173 StGB verringert sich dadurch, daß nicht die eigene, sondern eine fremde Familie betroffen ist, nicht oder nicht so erheblich, daß aus Gründen der Gerechtigkeit eine Strafrahmenmilderung nach §§ 28, 49 Abs. 1 StGB geboten wäre.

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 326; NJW 1994, 271; NStZ 1994, 181; NStZ 1994, 182; StV 1995, 250

Bearbeiter: Rocco Beck