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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 426

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 259/24, Beschluss v. 09.01.2025, HRRS 2025 Nr. 426


BGH 2 StR 259/24 - Beschluss vom 9. Januar 2025 (LG Hanau)

Vergewaltigung (mangelnde körperliche Durchsetzungsfähigkeit des Opfers); Strafzumessung (Verneinung eines besonders schweren Falles wegen Vorliegens eines vertypten Strafmilderungsgrundes: verminderte Schuldfähigkeit; zulässiges Verteidigungsverhalten).

§ 21 StGB; § 46 StGB; § 49 StGB; § 177 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Das Vorliegen vertypter Strafmilderungsgründe (etwa § 21 StGB) kann bei der Strafrahmenwahl Anlass geben, jedenfalls im Zusammenhang mit den allgemeinen Strafmilderungsgründen (wenn diese hierfür allein nicht ausreichen) trotz Vorliegens eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall zu verneinen und die Strafe dem Regelstrafrahmen zu entnehmen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 31. Oktober 2023 im Strafausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die der Neben- und Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es Adhäsionsentscheidungen getroffen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

1. Das Landgericht hat - soweit von Relevanz - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Den Angeklagten und die Nebenklägerin verband eine langjährige Freundschaft. In der Nacht vom 20. Juni auf den 21. Juni 2021 feierten beide mit einem gemeinsamen Freund in der Wohnung der Nebenklägerin. Sie tranken Alkohol, hörten Musik und tanzten. Gegen 7:00 Uhr am 21. Juni 2021 beschlossen die Nebenklägerin und ihre Gäste, schlafen zu gehen. Die Nebenklägerin richtete im Untergeschoss ihrer Maisonettewohnung und in dem im Erdgeschoss gelegenen Wohnzimmer Schlafgelegenheiten für ihre Gäste her. Ihr Schlafzimmer befand sich im Obergeschoss der Wohnung. Der Angeklagte begleitete die erheblich alkoholisierte Nebenklägerin in das Obergeschoss. Dort angekommen, legte sich die Nebenklägerin ins Bett und schlief umgehend ein. Der Angeklagte, der zu diesem Zeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 3,2 Promille aufwies, legte sich zur Nebenklägerin und begann, diese im Vaginalbereich zu streicheln. Die Nebenklägerin, die hiervon erwachte, forderte den Angeklagten auf, dies zu unterlassen. Der Angeklagte ließ zunächst von der Nebenklägerin ab, drang aber, nachdem diese wieder eingeschlafen war, mit einem Finger in ihre Vagina ein. Die Nebenklägerin teilte dem Angeklagten erneut mit, dass er derartige Handlungen unterlassen solle, und schlief wieder ein. Der Angeklagte zog nun die von der Nebenklägerin getragenen Shorts und ihre Unterhose herunter und leckte an ihrer Klitoris. Er hörte mit seiner Handlung auf, als die hiervon erwachte Nebenklägerin ihn dazu aufforderte. Als die Nebenklägerin aufgrund ihrer Alkoholisierung und Müdigkeit erneut eingeschlafen war, drang der Angeklagte mit seinem Penis in die Vagina der auf dem Rücken liegenden Nebenklägerin ein und vollzog mit dieser den ungeschützten Geschlechtsverkehr, wobei er auf ihrem Bauch ejakulierte. Der Angeklagte war aufgrund seiner starken Alkoholisierung in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert.

Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als Vergewaltigung unter Ausnutzen einer erheblich eingeschränkten Widerstandsfähigkeit der Nebenklägerin gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet.

2. Der Verfahrensrüge ist aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.

3. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge deckt im Schuld- und im Adhäsionsausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

Zwar liegt nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen dem Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht - wie vom Landgericht angenommen - ein sexueller Missbrauch nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB zugrunde. Denn die erheblich alkoholisierte Nebenklägerin konnte sexuelle Handlungen unmissverständlich ablehnen. Sie war aber nicht in der Lage, sich körperlich gegen den Angeklagten zur Wehr zu setzen. Mangelnde Durchsetzungsfähigkeit unterfällt § 177 Abs. 1 StGB (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - 2 StR 5/20, NStZ-RR 2020, 141), dessen Voraussetzungen das Landgericht hier zweifelsfrei festgestellt hat. Damit hat der Schuldspruch des Angeklagten wegen Vergewaltigung Bestand. Das gilt ohne Rücksicht darauf, ob bei der Strafzumessung der Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB oder der des § 177 Abs. 6 Satz 1 StGB zugrunde zu legen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2024 - 2 StR 477/23, NStZ-RR 2024, 140, und vom 16. Juli 2024 - 5 StR 164/24, Rn. 6 ff.).

4. Hingegen weist der Strafausspruch Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Die Strafkammer, die rechtsfehlerfrei von einer Verwirklichung des Regelbeispiels gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB ausgegangen ist, hat den Strafrahmen des § 177 Abs. 6 Satz 1 StGB angewendet, den sie wegen der nicht auszuschließenden verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert hat. Bei der Erörterung, ob Umstände vorliegen, welche die Indizwirkung des Regelbeispiels entfallen lassen könnten, hat die Strafkammer indes den vertypten Strafmilderungsgrund des § 21 StGB unberücksichtigt gelassen. Das ist rechtsfehlerhaft, denn das Vorliegen derartiger vertypter Strafmilderungsgründe kann nach ständiger Rechtsprechung bei der Strafrahmenwahl Anlass geben, jedenfalls im Zusammenhang mit den allgemeinen Strafmilderungsgründen (wenn diese hierfür allein nicht ausreichen) trotz Vorliegens eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall zu verneinen und die Strafe dem Regelstrafrahmen zu entnehmen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 9. Juni 2016 - 2 StR 70/16, StV 2017, 680 mwN).

Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Strafkammer bei zutreffender Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts zur Anwendung des Regelstrafrahmens des § 177 Abs. 1 StGB und im Ergebnis zu einer niedrigeren Strafe gelangt wäre, zumal die Ausführungen der Strafkammer, das Teilgeständnis des Angeklagten basiere nicht „auf einem echten Reue- und Schuldgefühl“, dieser lasse „nicht im Ansatz durchblicken“, „nachvollziehen zu wollen, worum es vorliegend überhaupt geht“, der zudem besorgen lassen, dass zulässiges Verteidigungsverhalten bei der Bemessung der Freiheitsstrafe rechtsfehlerhaft zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt worden ist (BGH, Beschluss vom 20. März 2024 - 6 StR 572/23, StV 2024, 505, 506 Rn. 8).

5. Die Feststellungen sind von den Rechtsfehlern nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO); sie können um solche ergänzt werden, die den bisher getroffenen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 426

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede