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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1187

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 52/23, Beschluss v. 10.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1187


BGH StB 52/23 - Beschluss vom 10. August 2023 (OLG Stuttgart)

Fortdauer der Untersuchungshaft (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr unter Berücksichtigung der konkreten Straferwartung; Haftgrund der Schwerkriminalität).

§ 112 StPO; § 57 Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 149/20), seit dem 28. Juli 2021 aufgrund des an diesem Tag verkündeten Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 (5 - 2 StE 7/20). Gegenstand des aktuell vollzogenen Haftbefehls ist neben der dem Angeklagten zur Last liegenden tateinheitlichen Zuwiderhandlung gegen ein Waffenbesitzverbot der Vorwurf, er habe im Februar 2020 eine Vereinigung gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich mitgliedschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB).

Mit Beschlüssen vom 3. September 2020 (AK 26/20), vom 15. Dezember 2020 (AK 45/20) und vom 25. März 2021 (AK 19/21 u.a.) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Generalbundesanwalt hat am 4. November 2020 Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13. April 2021 an.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16. Juli 2023 hat der Angeklagte das Oberlandesgericht darum ersucht, es „möge den Haftbefehl vom 26.07.2021 nunmehr aufheben“; die Begründung des dringenden Tatverdachts sei „nach der bisherigen Beweisaufnahme … nicht mehr haltbar“. Auf Nachfrage hat der Verteidiger das Begehren in der Hauptverhandlung dahin präzisiert, es handele sich um eine Haftbeschwerde. Daraufhin hat das Oberlandesgericht die Nichtabhilfe beschlossen und die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§§ 300, 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Gegen ihn besteht weiterhin der im angefochtenen Haftbefehl bezeichnete dringende Tatverdacht. Soweit er der Auffassung ist, dass die Beweisaufnahme diesen nicht bestätigt habe, ist dem das Oberlandesgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung entgegengetreten. Darin hat es die bisher erhobenen Beweise im Einzelnen dargestellt und nachvollziehbar dahin gewürdigt, dass sie den dringenden Tatverdacht hinsichtlich aller drei angeklagten Delikte tragen. Mit dem Beschwerdevorbringen hat es sich auseinandergesetzt und erläutert, dass und warum es die darin vorgenommene Wertung nicht teilt.

Dies ist nach den rechtlichen Maßstäben, die für die im Haftbeschwerdeverfahren vorzunehmende Überprüfung des dringenden Tatverdachts während laufender Hauptverhandlung gelten (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN), nicht zu beanstanden.

2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität bestehen fort.

a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr liegt vor, weil die Würdigung sämtlicher Umstände es weiterhin wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

aa) Von der konkreten Straferwartung geht noch immer ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Das Oberlandesgericht hat hierzu in der Nichtabhilfeentscheidung ausgeführt, die etwa drei Jahre und fünf Monate andauernde Inhaftierung des Angeklagten bewege sich im Fall einer Verurteilung im Bereich von zwei Dritteln der zu erwartenden Freiheitsstrafe; es ergebe sich voraussichtlich eine weitere Haftzeit von über einem Jahr. Diese Beurteilung ist plausibel. Unter zutreffender Zugrundelegung des Strafrahmens des § 129a Abs. 1 StGB, der sich auf Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren bemisst, hat der Staatsschutzsenat dabei die Schwere der mit großer Wahrscheinlichkeit geplanten Anschläge, die in Aussicht genommenen Tatbeiträge des Angeklagten sowie seine hochwahrscheinlichen rassistischen und fremdenfeindlichen Beweggründe in den Blick genommen (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB; vgl. dazu BT-Drucks. 18/3007 S. 14 ff.; BGH, Urteile vom 20. August 2020 - 3 StR 40/20, BGHR StGB § 60 Absehen, fehlerhaft 1 Rn. 13/14 mwN; vom 9. März 2023 - 3 StR 246/22, juris Rn. 26). Nach allem hat der Angeklagte mit einer zu vollstreckenden weiteren Haftzeit von Gewicht zu rechnen.

Gegen die Wertung des Oberlandesgerichts, es sei nicht zu erwarten, dass die Vollstreckung des hypothetisch noch zu verbüßenden Strafrests zur Bewährung ausgesetzt werden könnte, ist ebenfalls nichts einzuwenden (zum insoweit bestehenden Beurteilungsspielraum des Gerichts der Hauptverhandlung vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210). Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass sich der Angeklagte von seiner rassistischen und der Reichsbürgerideologie nahestehenden Einstellung gelöst hat. Sein Vorbringen, er sei der „Mensch , Mann aus dem Hause“ und „arbeite am Thema Entnazifizierung“, ist hierfür gerade kein Beleg.

bb) Dem erheblichen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthemmenden Faktoren gegenüber. Wie das Oberlandesgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend dargelegt hat, bestand die Beziehung des Angeklagten zur Zeugin S. bereits im Tatzeitraum. Sie dürfte ihn angesichts der in der Tat hochwahrscheinlich zum Ausdruck kommenden Gesinnung nicht von einer Flucht abhalten. Hinzu kommen die hohen Steuerschulden des Angeklagten und seine mit dem Verdachtsgrad des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO bestehende (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 11) langjährige Einbindung in die rechtsextremistische Szene, die ihm ein Untertauchen ohne Weiteres ermöglichen würde.

b) Die Fortdauer der Untersuchungshaft kann bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) unverändert ebenso - mit dem Oberlandesgericht - auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte.

c) Der Zweck der Untersuchungshaft kann nach wie vor nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den hierfür nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN). Insoweit wird auf die zuletzt gegen Mitangeklagte ergangenen Senatsbeschlüsse (vom 9. Februar 2023 - StB 4/23, juris Rn. 18 ff.; vom 3. Mai 2023 - StB 26/23, juris Rn. 18 ff.; vom 29. Juni 2023 - StB 36/23, juris Rn. 17) verwiesen. Die dort dargelegten Gründe gelten auch für diesen Beschwerdeführer, dessen hypothetisch noch zu verbüßender Strafrest nach der nicht zu beanstandenden Beurteilung des Oberlandesgerichts etwa ein gutes Jahr beträgt.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1187

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede