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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 452

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 7/23, Beschluss v. 22.02.2023, HRRS 2023 Nr. 452


BGH AK 6-9/23 - Beschluss vom 22. Februar 2023 (OLG Koblenz)

Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate (Fluchtgefahr; Haftgrund der Schwerkriminalität; besondere Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen); Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat; mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung; Verstöße gegen das KrWaffKG und WaffG.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 89a StGB; § 129a StGB, § 22a KrWaffKG, § 52 WaffG

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Koblenz übertragen.

Gründe

I.

1. Die Angeschuldigten sind am 13. April 2022 vorläufig festgenommen worden und befinden sich seit dem Folgetag ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund von Haftbefehlen des Amtsgerichts Koblenz vom 14. April 2022 und nunmehr aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 23. Mai 2022 (3 BGs 384/22 [B. ]), vom 24. Mai 2022 (3 BGs 383/22 [O. ]), vom 1. Juni 2022 (3 BGs 397/22 [H. ]) sowie vom 2. Juni 2022 (3 BGs 411/22 [K. ]). Die Haftbefehle gegen die Angeschuldigten B. und H. hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Anschluss an mündliche Haftprüfungstermine durch Beschlüsse vom 5. September 2022 (3 BGs 651/22 [B. ]) und vom 5. August 2022 (3 BGs 619/22 [H. ]) aufrechterhalten und zugleich in rechtlicher Hinsicht erweitert.

2. Der Senat hat mit Beschluss vom 3. November 2022 (AK 40-43/22) hinsichtlich aller Angeschuldigten die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet.

3. Der Generalbundesanwalt hat mit Anklageschrift vom 11. Januar 2023 gegen die vier vorgenannten Angeschuldigten (und eine weitere Person) wegen der den Haftbefehlen zugrundeliegenden Tatvorwürfe Anklage zum Oberlandesgericht Koblenz erhoben. Der Generalbundesanwalt erachtet die mutmaßlich der „Reichsbürger“-Szene zugehörigen Angeschuldigten im Wesentlichen als verdächtig, eine von ihm als „Kaiserreichsgruppe“ bezeichnete terroristische Vereinigung gegründet beziehungsweise sich an dieser als Mitglied beteiligt zu haben, deren Ziel es gewesen sei, einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland herbeizuführen und eine neue Regierung auf der Basis der Verfassung des deutschen Kaiserreichs von 1871 zu errichten. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens hat das Oberlandesgericht noch nicht befunden.

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hält die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich; die Vorsitzende hat die Akten daher mit Verfügung vom 30. Januar 2023 dem Bundesgerichtshof zur erneuten besonderen Haftprüfung vorgelegt.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus liegen vor.

1. Die Angeschuldigten sind der ihnen mit den vorgenannten Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zur Last gelegten Taten weiterhin dringend verdächtig. Hinsichtlich der Einzelheiten der insofern erhobenen Tatvorwürfe und der den dringenden Tatverdacht begründenden Umstände nimmt der Senat Bezug auf seine Haftfortdauerentscheidung vom 3. November 2022, deren Gründe unverändert fortgelten. Die seither geführten Ermittlungen haben die Beweislage verdichtet, jedenfalls aber den dringenden Tatverdacht nicht entfallen lassen; der Senat verweist insofern auf die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 11. Januar 2023.

2. In rechtlicher Hinsicht ist weiterhin davon auszugehen, dass sich die Angeschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit wie folgt strafbar gemacht haben:

a) Der Angeschuldigte O. ist jedenfalls dringend verdächtig, sich wegen Gründung und mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer sowie wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, mit Erwerb der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen ohne Genehmigung sowie mit unerlaubtem Erwerb halbautomatischer Kurzwaffen zum Verschießen von Patronenmunition gemäß § 89a Abs. 1 und 2 Nr. 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 2 KrWaffKG, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG, §§ 52, 53 StGB strafbar gemacht zu haben.

b) Hinsichtlich des Angeschuldigten B. ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts jedenfalls auszugehen von einer Strafbarkeit wegen Gründung und mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer sowie wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer in Tateinheit mit Terrorismusfinanzierung und Beihilfe zu den vom Angeschuldigten O. hochwahrscheinlich begangenen Taten des Erwerbs der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen ohne Genehmigung sowie des unerlaubten Erwerbs halbautomatischer Kurzwaffen zum Verschießen von Patronenmunition, mithin von einer Strafbarkeit gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 und 5, Abs. 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 2 KrWaffKG, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 27 Abs. 1, §§ 52, 53 StGB.

c) Der Angeschuldigte H. ist jedenfalls dringend verdächtig, sich wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StGB strafbar gemacht zu haben.

d) Hinsichtlich des Angeschuldigten K. ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts auszugehen von einer Strafbarkeit jedenfalls wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen, davon in einem Fall - soweit es die Verwahrung in seinen Wohnräumen sichergestellter Waffen anbelangt, die er für die Zwecke der Vereinigung verwenden wollte - in Tateinheit mit der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat sowie mit unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Langwaffe und mit unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe in drei tateinheitlichen Fällen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist mithin eine Strafbarkeit des Angeschuldigten K. gemäß § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 StGB, § 52 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 WaffG, §§ 52, 53 StGB gegeben.

e) Der Senat nimmt im Übrigen auch hinsichtlich der vorläufigen rechtlichen Beurteilungen der Taten, derer die Angeschuldigten dringend verdächtig sind, Bezug auf die näheren Darlegungen in seinem Haftfortdauerbeschluss vom 3. November 2022.

f) Es kann für diese Haftfortdauerentscheidung weiterhin offenbleiben, ob die Angeschuldigten über die vorstehend genannten Strafbarkeiten hinaus dringend verdächtig sind, sich - wovon die Anklageschrift ausgeht - auch (tateinheitlich) wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB strafbar gemacht zu haben. Denn für jeden Angeschuldigten rechtfertigt bereits der jeweilige vorgenannte dringende Tatverdacht, von dem nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen auszugehen ist, die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft.

3. Es sind nach wie vor die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) - der Schwerkriminalität gegeben. Es ist wahrscheinlicher, dass sich die Angeschuldigten - sollten sie auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm stellen werden. Der Senat nimmt insofern Bezug auf seine fortgeltenden Erwägungen zu den Haftgründen im Haftfortdauerbeschluss vom 3. November 2022.

Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen weiterhin nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

4. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) sind gegeben. Der Umfang des Verfahrens und seine besonderen Schwierigkeiten haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft.

Insofern nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Ausführungen im Haftfortdauerbeschluss vom 3. November 2022.

Auch danach ist das Verfahren durchgängig mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden: Das mit den Ermittlungen betraute Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz hat seither die umfangreichen Auswertungen sichergestellter digitaler Datenträger und sonstiger Asservate fortgeführt und mittlerweile weitgehend abgeschlossen. Bis Dezember 2022 sind bundesweit über 20 Zeugenvernehmungen durchgeführt worden. Das Landeskriminalamt hat die Akten, deren Umfang sich gegenwärtig auf 87 Stehordner beläuft, Mitte Dezember 2022 dem Generalbundesanwalt übermittelt. Dieser hat die Ermittlungen am 11. Januar 2023 abgeschlossen und unter demselben Datum Anklage gegen die Angeschuldigten und eine weitere Person beim Oberlandesgericht Koblenz erhoben. Dort ist die Anklageschrift am 16. Januar 2023 eingegangen. Mit Verfügung vom selben Tage hat die Vorsitzende des zuständigen 1. Strafsenats die Zustellung der Anklageschrift verfügt. Den Angeschuldigten und ihren Verteidigern ist eine Erklärungsfrist gemäß § 201 Abs. 1 StPO bis zum 6. Februar 2023 gesetzt worden. Es ist davon auszugehen, dass der zuständige Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz in Kürze über die Eröffnung des Hauptverfahrens befinden und für den Fall einer positiven Entscheidung zeitnah mit der Hauptverhandlung beginnen wird. Vor diesem Hintergrund steht zu erwarten, dass das Verfahren auch weiterhin mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung betrieben werden wird.

5. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Angeschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nach wie vor nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 452

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede