hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1170

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 50/23, Beschluss v. 27.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1170


BGH AK 50/23 - Beschluss vom 27. Juli 2023 (OLG Koblenz)

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr im Lichte der „Nettostraferwartung“; Haftgrund der Schwerkriminalität; besondere Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Koblenz übertragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte befindet sich seit seiner Auslieferung aus Frankreich am 12. Januar 2023 ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. März 2022 (OGs 38/22). Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich in S. und anderen Orten in der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit von Anfang August 2019 bis Mai 2020 und von Ende März bis Mitte April 2021 in zwei Fällen als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans“ („Partiya Karkeren Kurdistan“, PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB (in Verbindung mit § 53 Abs. 1 StGB).

Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz hat mit Anklageschrift vom 12. April 2023 wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwurfs Anklage zum Oberlandesgericht Koblenz erhoben. Die Übersetzung der Anklageschrift in die kurdische Sprache ist dem Angeklagten am 16. Mai 2023 zugestellt worden. Das Oberlandesgericht hat das Hauptverfahren mit Beschluss vom 29. Juni 2023 eröffnet und den Beginn der Hauptverhandlung mit Rücksicht auf die Jahresurlaube der Senatsmitglieder für den 15. August 2023 vorgesehen. Es hält die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Bei der Berechnung der Frist des § 121 Abs. 1 StPO hat im Ausland etwa erlittene Auslieferungshaft außer Betracht zu bleiben, weil es sich um eine Zwangsmaßnahme nach ausländischem Recht handelt, auf deren Vollzug deutsche Behörden und Gerichte keinen Einfluss haben (BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2021 - AK 3/21 u.a., juris Rn. 3; vom 24. Februar 2021 - AK 9/21, juris Rn. 29; BeckOK StPO/Krauß, 47. Ed., § 121 Rn. 4a, jeweils mwN).

1. Der Angeklagte ist der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die PKK wurde 1978 unter anderem von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên Kurdistan“ („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan“, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan“ (KONGRA GEL - „Volkskongress Kurdistans“) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel“ („Volksverteidigungskräfte“, fortan: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die HPG bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands“ zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Nachdem der „Friedensprozess“ im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung“ (YDGH - Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Verteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG, bei denen Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten, getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK indes auch in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „Civata Demokratik a Kurdistan“ („Kurdische Demokratische Gesellschaft“, im Folgenden: CDK), welche die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine „Konföderation der kurdischen Vereine in Europa“ (KONKURD) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa“ (KCDE) um. Unter der Bezeichnung KCDE werden nicht nur die Strukturen des KONKURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.

Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha“) „Süd“, „Mitte“ und „Nord“; 2012 wurde der Sektor „Süd“ in die Sektoren „Süd 1“ und „Süd 2“ aufgeteilt. Im Jahr 2016 wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet“) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge“) gebildet. Jede Organisationseinheit wird in der Regel von einem durch die Vereinigung eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der Angeklagte war in der Zeit von Anfang April 2019 bis zur folgenden Kaderrotation im Mai 2020 als hauptverantwortlicher Leiter des PKK-Gebiets S. tätig. In dieser Funktion oblag ihm die Organisation PKK-bezogener Veranstaltungen und Anweisung von Teilnehmern an diesen. Dafür nahm er unter anderem eine Vielzahl von Treffen mit Leitern anderer PKK-Gebiete sowie vorgesetzten Kadern wahr, um einzelne Veranstaltungen und Demonstrationen - wie etwa den“ “ von F. nach S. im Februar 2020 - zu organisieren bzw. diesbezügliche Anweisungen entgegenzunehmen.

Ende März/Anfang April 2021 wirkte der mittlerweile in H. aufenthältliche Angeklagte zusammen mit anderen Personen mehrfach auf die zum damaligen Zeitpunkt 19 Jahre alte Zeugin K. ein, um diese zum Anschluss an die PKK zu bewegen. Nachdem die Zeugin ihren Beitritt erklärt hatte, wurde sie am 11. April 2021 von anderen Personen zu einer ideologischen Schulung nach Belgien und von dort aus weiter nach Paris und sodann nach Griechenland verbracht, von wo ihr schließlich die Flucht gelang.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vollzogenen Haftbefehl Bezug genommen.

b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus Folgendem:

aa) Die Erkenntnisse zur PKK beruhen auf den Ergebnissen von Strukturermittlungen, insbesondere Sachverständigengutachten, Auswertungsberichten und -vermerken des Bundeskriminalamts sowie Gerichtsentscheidungen.

bb) Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf bislang nicht geäußert. Die diesbezüglichen Erkenntnisse ergeben sich insbesondere aus einer Vielzahl von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung, aus Observationen sowie aus Angaben von Zeugen; letzteres zuvörderst im Zusammenhang mit der Anwerbung der Zeugin K., die den Angeklagten zudem im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage als den ihr bekannten“ “ identifiziert hat.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeklagte zwischen Anfang August 2019 und Mitte April 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in einem Fall strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB). Ob das Verhalten des Angeklagten darüber hinaus - wovon der vollzogene Haftbefehl und die zugelassene Anklage ausgehen - konkurrenzrechtlich tatsächlich zwei tatmehrheitliche Taten darstellt, ist für die Haftfortdauerentscheidung ohne Belang. Lediglich eine Tat im Rechtssinne könnte anzunehmen sein, wenn sich der Angeklagte - bedingt durch die Kaderrotation - an unterschiedlichen Orten fortlaufend an der terroristischen Vereinigung beteiligt hätte. Für eine zur Annahme von Tatmehrheit ausreichende Unterbrechung seiner Tätigkeit (zu den diesbezüglichen Voraussetzungen vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2001 - StB 4/01 u.a., BGHSt 46, 349, 357 f.; MüKoStGB/Schäfer/Anstötz, 4. Aufl., § 129 Rn. 85, 137; SSW-StGB/Lohse, 5. Aufl., § 129 Rn. 55; jeweils mwN) ist dem bisherigen Beweisergebnis jedenfalls nichts zu entnehmen.

Das Bundesministerium der Justiz hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten unter anderem der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Gebiete der PKK und ihrer Teilorganisation in Europa allgemein am 6. September 2011 und konkret den Angeklagten betreffend am 4. März 2022 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität. Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Zwar ist der unbestrafte Angeklagte Vater zweier Töchter. Er verfügt im Inland jedoch über keinen festen Wohnsitz, so dass die im Falle einer Verurteilung wegen zumindest eines Verbrechens drohende Freiheitsstrafe einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Hieran ändert auch der seitens der Verteidigung des Angeklagten angeführte Umstand, dass die in Frankreich erlittene Auslieferungshaft von über sieben Monaten Dauer in der Regel auf die auszusprechende Freiheitsstrafe anzurechnen sei, nichts. Selbst unter Berücksichtigung dieser Auslieferungshaft verbleibt eine hinreichende „Nettostraferwartung“ (vgl. hierzu Senat, Beschlüsse vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; vom 3. Mai 2023 - StB 26/23, juris Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 23 mwN).

Eine - bei verfassungskonformer Auslegung im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO ebenfalls mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer. Der Aktenbestand des Verfahrens umfasst derzeit 15 Bände. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die 91 Seiten starke Anklageschrift, deren zeitaufwändige Übersetzung ins Kurdische nach Eingang beim Oberlandesgericht von dort noch zu veranlassen gewesen ist, innerhalb von vier Monaten nach Auslieferung des Angeklagten fertiggestellt. Entgegen der Darstellung der Verteidigung des Angeklagten sind in diesem Zeitraum eine Vielzahl weiterer erforderlicher Verfahrenshandlungen ausgeführt worden. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft und den Schriftsatz der Verteidigung vom 19. Juli 2023 Bezug genommen. Dass der Beginn der Hauptverhandlung erst etwa sieben Wochen nach der für sich gesehen zeitgerecht beschlossenen Eröffnung des Hauptverfahrens vorgesehen ist, begegnet entgegen der Auffassung der Verteidigung angesichts der seitens des Oberlandesgerichts im Einzelnen dargelegten vorgezogenen Urlaubsabwicklung ebenfalls keinen durchgreifenden Bedenken.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Hieran ändern entgegen der Auffassung der Verteidigung auch die mit der Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs untrennbar einhergehenden Beschwernisse des Angeklagten nichts.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1170

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede