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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1004

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 49/22, Urteil v. 22.06.2022, HRRS 2022 Nr. 1004


BGH 2 StR 49/22 - Urteil vom 22. Juni 2022 (LG Gießen)

Strafzumessung (Strafmilderungsgrund: Verzicht auf Herausgabe der sichergestellten Gegenstände, Untersuchungshaft, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse, pandemiebedingten Einschränkungen); Anrechnung (Untersuchungshaft).

§ 46 StGB; § 51 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 30. Juli 2021, soweit es den Angeklagten E. betrifft, im gesamten Strafausspruch aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub und mit gefährlicher Körperverletzung, sowie wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und wegen Besitzes einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge die Strafzumessung. Die Revision hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts belieferte der Angeklagte zwischen März und Mai 2020 - nach jeweils vorheriger Absprache hinsichtlich Menge, Kaufpreis und Übergabemodalitäten - die gesondert verfolgten M. und Ma. R. mit Betäubungsmitteln. Zur Abwicklung der Geschäfte setzte der Angeklagte regelmäßig Läufer und Bunkerhalter ein. Die Betäubungsmittel wiesen in allen Fällen einen THC-Wirkstoffgehalt von mindestens 0,55% auf. In den Fällen II. 1. bis II. 4. der Urteilsgründe verkaufte der Angeklagte auf diese Weise zwischen dem 31. März 2020 und dem 8. April 2020 insgesamt neuneinhalb Kilogramm Marihuana zum Kaufpreis von mindestens 38.400 Euro.

Am 23. April 2020 bot der Angeklagte dem gesondert Verfolgten M. R. insgesamt sieben Kilogramm zweier unterschiedlicher Cannabissorten zum Verkauf an. Aufgrund der schlechten Qualität der angebotenen fünf Kilogramm „Haze“ nahm der gesondert verfolgte M. R. von dem Geschäft Abstand; ob es in der Folgezeit gleichwohl zur Übergabe der angebotenen Betäubungsmittel und zur Übergabe eines entsprechenden Kaufpreises gekommen ist, konnte die Strafkammer nicht feststellen (Fall II. 5. der Urteilsgründe).

Ausweislich der Feststellungen zu Fall II. 6. der Urteilsgründe scheiterte eine für den 1. Mai 2020 vereinbarte Übergabe von weiteren vier Kilogramm „Haze“ zu einem Kaufpreis in Höhe von 19.000 Euro, weil dem vom Angeklagten eingesetztem Kurierfahrer die Betäubungsmittel entwendet wurden.

Da sich die Brüder R. weigerten, den Kaufpreis zu zahlen, entschloss sich der Angeklagte, den Kaufpreis gewaltsam einzutreiben. Er mobilisierte weitere Personen, die sich mit Gegenständen „bewaffnen“ sollten. Die aus mindestens acht Personen bestehende Gruppe um den Angeklagten fing noch am selben Tag gegen 20.00 Uhr in G. - entsprechend dem zuvor gefassten Tatplan - eine mit den Brüdern R. näher bekannte Person mit dem Spitznamen „Re.“ ab und brachte diese in eine Wohnung eines Tatbeteiligten. Ziel war es, die Brüder R. aus Sorge um das Wohl „Re. s“ dazu zu bewegen, den Kaufpreis für das bestellte Rauschgift zu bezahlen.

Mitglieder der Gruppe um den Angeklagten hinderten „Re.“ gemäß gemeinsamem Tatplan daran, die Wohnung zu verlassen. Der Angeklagte setzte Ma. R. gegen 22.09 Uhr telefonisch „ein Ultimatum von zwei Stunden, um die Angelegenheit zu klären, da er anderenfalls ‚die Jungs nicht aufhalten‘ könne.“ Aus Angst davor, die Gruppierung werde gewaltsam gegen „Re.“ vorgehen, leitete Ma. R. - im Ergebnis erfolglose - Maßnahmen ein, um dem zuvor gescheiterten Betäubungsmittelgeschäft zum Erfolg zu verhelfen; zudem stand er telefonisch in Kontakt mit einem Zeugen, der sich in der Tatwohnung aufhielt, und ihn über die Geschehnisse vor Ort unterrichtete.

Währenddessen überlegte der Angeklagte mit einem weiteren Tatbeteiligten, ob „Re.“ der „Finger gebrochen oder abgeschnitten werden solle, wobei sie letztlich vereinbarten, „Re.“ den Finger zu brechen. Spätestens um 0.57 Uhr wurde „Re. “, dem zuvor von einer Person aus der Gruppierung mindestens eine Hand ausgerenkt und zwei Faustschläge in das Gesicht „verpasst wurden“, aus der Wohnung entlassen.

Das Landgericht hat nicht festzustellen vermocht, ob es bis zur Freilassung von „Re.“ bereits „zur Erbringung einer Leistung durch die R. -Brüder gekommen war oder dass eine solche auch nur bereits konkret in Art und Umfang versprochen war.“ Denn auch im Anschluss an die Freilassung „Re. s“ gab es weitere Verhandlungen, ohne dass es zu weiteren Drohungen oder Gewaltanwendungen kam. „Schlussendlich“ einigte sich die Gruppierung um den Angeklagten mit den gesondert verfolgten Brüdern R. auf die Rückzahlung von insgesamt 19.500 Euro, davon „10.000 Euro in Raten anlässlich zukünftiger Rauschgiftgeschäfte“.

In einem weiteren Fall übergab der Angeklagte bzw. einer seiner Kuriere am 9. Mai 2020 den gesondert verfolgten Brüdern R. vier Kilogramm Marihuana (Fall II. 7. der Urteilsgründe).

Schließlich transportierte der Angeklagte am 12. Mai 2020 für ein weiteres Betäubungsmittelgeschäft mit den Brüdern R. zuvor im Raum A. erworbene 5.579,73 Gramm Cannabidiol in eine Wohnung eines Tatbeteiligten in G., das dort gelagert werden sollte. In der 25 qm großen 1-ZimmerWohnung bewahrte der Wohnungsinhaber die dem Angeklagten gehörende Schusswaffe der Marke S., Model , Kaliber 9 mm auf, die der Angeklagte ihm zu einem unbekannten Zeitpunkt zuvor übergeben hatte (Fall II. 8. der Urteilsgründe).

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft führt mit der erhobenen Sachrüge zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist trotz des gegenüber ihrer Begründung weitergehenden Antrags, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben, wirksam auf den Strafausspruch beschränkt. Denn die Revisionsführerin hält das Urteil allein hinsichtlich der Bemessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe für fehlerhaft, weil die Strafkammer sowohl hinsichtlich der Strafrahmenwahl als auch im Rahmen konkreter Strafzumessung zum Vorteil des Angeklagten eingestellte Strafzumessungskriterien nicht belegt bzw. zu seinem Nachteil einzustellende Gesichtspunkte außer Acht gelassen habe.

2. Das zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Der Strafausspruch hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Die Strafzumessung ist Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von den Taten und der Persönlichkeit der Angeklagten gewonnen hat, die wesentlichen zumessungsrelevanten Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen; eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358 mwN).

b) Das Landgericht hat bei der Wahl der Strafrahmen und bei der Bemessung der Einzelstrafen zugunsten des Angeklagten gewertet, dass dieser „auf die Herausgabe der sichergestellten Gegenstände verzichtet“ habe. Insoweit sind die getroffenen Feststellungen lückenhaft, da eine Prüfung, ob der genannte Umstand als bestimmender Milderungsgrund angesehen werden durfte, nicht möglich ist. Denn das Urteil teilt nicht mit, welche Gegenstände im Verfahren asserviert worden sind, wem diese zustehen und welchen Wert sie haben. Soweit es sich dabei um das sichergestellte Marihuana sowie die Schusswaffe der Marke S., Model , Kaliber 9 mm nebst Patronen handeln sollte, wäre deren Einziehung ohnehin zwingend (§ 33 Satz 1 BtMG, § 54 Abs. 1 Nr. 1 WaffG; vgl. auch BGH, Urteil vom 20. August 2013 - 5 StR 248/13, NStZ 2014, 31) und deshalb strafzumessungsrechtlich irrelevant gewesen.

c) In gleicher Weise hat das Landgericht die vom Angeklagten erlittene Untersuchungshaft strafmildernd berücksichtigt. Eine solche ist jedoch regelmäßig für die Strafzumessung ohne Bedeutung, denn sie wird nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet (vgl. BGH, aaO, mwN). Erstmaliger Vollzug von Untersuchungshaft kann dann strafmildernd sein, wenn damit ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehenden Beschwernisse verbunden sind.

Zusätzliche, den Angeklagten besonders beschwerende Umstände des Haftvollzuges, die auch aus pandemiebedingten Einschränkungen resultieren können (vgl. auch Senat, Beschluss vom 12. April 2022 - 2 StR 507/21), lassen sich dem Urteil jedoch nicht entnehmen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 29. Oktober 2008 - 5 StR 456/08, StV 2009, 80).

d) Angesichts dieser beiden jeweils zugunsten des Angeklagten berücksichtigten Umstände kann der Senat nicht ausschließen (§ 337 Abs. 1 StPO), dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Strafzumessung andere Strafen festgesetzt hätte, zumal sich sämtliche Einzelstrafen im unteren Bereich des jeweils zugrunde gelegten Strafrahmens bewegen. Die danach erforderliche Aufhebung der Einzelstrafen zieht diejenige des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Die zugehörigen Feststellungen können bei diesem Wertungsfehler aufrechterhalten bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Neue Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen, sind möglich und gegebenenfalls bezüglich des Verzichts auf Herausgabe sichergestellter Gegenstände geboten.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1004

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede