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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 541

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 343/22, Urteil v. 29.03.2023, HRRS 2023 Nr. 541


BGH 2 StR 343/22 - Urteil vom 29. März 2023 (LG Aachen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten: naheliegende Wahrscheinlichkeit, Gesamtabwägung).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten setzt eine naheliegende Wahrscheinlichkeit voraus. Eine bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht. Dies erfordert eine umfassende Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände, wobei sich Anhaltspunkte hierfür etwa aus der Persönlichkeit des Täters, seinem bisherigen Rauschmittelkonsum, seinem Vorleben und seinen Vorstrafen ergeben können.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 14. April 2022 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Unterbringung der Angeklagten G. und T. in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

2. Auf die Revision des Angeklagten T. wird das genannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

Die weitergehende Revision des Angeklagten T. wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten G. wegen schweren Raubes und versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen einer Schusswaffe und vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren, den Angeklagten T. wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es den Angeklagten T. freigesprochen. Von der Unterbringung in der Entziehungsanstalt hat es bei beiden Angeklagten abgesehen. Die auf die Maßregelentscheidung beschränkten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg; auch das im Übrigen unbegründete Rechtsmittel des Angeklagten T. führt zur Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung zur Nichtanordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts überfielen die Angeklagten am 12. Mai 2021 aufgrund eines gemeinsamen Tatplans den Nebenkläger L. in seiner Wohnung, um an Geld oder Drogen zu kommen, die sie dort vermuteten. Sie schlugen und fesselten ihn mit mitgebrachten Kabelbindern und einem herumliegenden Handykabel. Nachdem der Zeuge L. auf die Aufforderung nach Herausgabe von Drogen, Geld oder Schmuck entgegnet hatte, Geld oder Drogen nicht bei sich zu haben, und zudem in akute Atemnot geraten war, flüchteten beide Angeklagte aus der Wohnung. Sie nahmen lediglich aufgefundenes Bargeld in Höhe von etwa 30 €, einigen nicht werthaltigen Schmuck sowie eine Uhr mit. Mit dem entwendeten Bargeld kauften die Angeklagten anschließend Heroin in den Niederlanden, das sie unmittelbar nach dem Erwerb konsumierten.

2. Zu einem Zeitpunkt vor dem 27. Mai 2021 verschaffte sich der Angeklagte G. eine Schusswaffe. Ebenfalls vor dem 27. Mai 2021 entschloss er sich, den Zeugen K. in seiner Druckerei zu überfallen, um so an Bargeld zu gelangen. Nach dem gemeinsamen Konsum von Heroin im Laufe des Tages fuhren beide Angeklagte am 27. Mai 2021 gegen 19.00 Uhr zur Anschrift des Zeugen K. Während T. im Auto sitzen blieb, verließ G. das Fahrzeug und begab sich mit der Schusswaffe und mitgebrachten Kabelbindern und Klebeband zur Türe des Wohnhauses. Dort klingelte er und gab sich als Paketbote aus. Er betrat die Wohnung und hielt die geladene Waffe auf den Zeugen, der diese zur Seite und den Angeklagten mit der Faust schlug. Im Zuge der folgenden Auseinandersetzung fielen beide zu Boden. Als der Zeuge realisierte, dass der Angeklagte eine Schusswaffe bei sich führte, lief er aus dem Haus. G. folgte ihm und stieg auf der Beifahrerseite des Fahrzeugs ein, das von dem Angeklagten T. weggefahren wurde. Es gelang den Angeklagten, den sie mit dem Auto verfolgenden Zeugen K. abzuschütteln. Eine eingeleitete Nahbereichsfahndung führte zur Festnahme der Angeklagten. Eine Beteiligung des Angeklagten T. an dem Überfall des Zeugen K. konnte das Landgericht nicht feststellen.

3. Die Angeklagten handelten im Hinblick auf ihren Drogenkonsum nicht ausschließbar im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit. Hinsichtlich beider Tatgeschehen war die bei beiden Angeklagten festgestellte Abhängigkeit von Heroin auch handlungsleitend.

4. Eine Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat die Strafkammer nicht angeordnet. Eine Gefahr der Begehung rechtswidriger Taten infolge eines Hangs zum Konsum berauschender Mittel im Übermaß liege hinsichtlich beider Angeklagter nicht vor. Entgegen den Ausführungen des Sachverständigen, der grundsätzlich eine Gefahr der Begehung rechtswidriger Taten angenommen habe, habe die Strafkammer begründeten Anlass zur Annahme, dass es in Zukunft nicht zur Begehung von rechtswidrigen Taten infolge eines Hangs zum Konsum berauschender Mittel kommen werde. Dies werde maßgeblich dadurch unterstrichen, dass die Angeklagten während der Dauer der Haftverschonung keine Betäubungsmittel konsumiert hätten und auch nach der erneuten Verhaftung nicht auf eine erneute Substitution angewiesen gewesen wären. Die Prognose einer fortdauernden Abstinenz werde hinsichtlich beider Angeklagter dadurch verbessert, dass diese jeweils nicht seit überragend langer Zeit kontinuierlich konsumiert hätten. Zudem seien sie im Hinblick auf ihre Betäubungsmittelabhängigkeit einsichtig. Es bestehe zwar eine nicht zu vernachlässigende Historie im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln; es sei allerdings auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den vorliegend abgeurteilten Taten erstmalig um Taten nach dem zwanzigsten Abschnitt des Strafgesetzbuchs handele. Tragfähige Gesichtspunkte, dass die Angeklagten einer Beeinflussung durch eine Inhaftierung nicht zugänglich seien, seien nicht erkennbar. Zudem bestünden bei dem Angeklagten G. durch den fortdauernden Kontakt zur eigenen Familie auch verfestigende Umstände. Ausweislich des Berichts des Bewährungshelfers sei der Angeklagte T. zudem bereit, Hilfe bei der Aufarbeitung seiner Verhältnisse anzunehmen. Bei einer Gesamtbetrachtung erkenne die Strafkammer zwar weiterhin noch eine allgemeine Wiederholungsmöglichkeit, nicht aber eine für die Anordnung erforderliche begründete, konkret zu besorgende Wiederholungswahrscheinlichkeit.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg.

1.Die Rechtsmittel sind wirksam auf die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beschränkt. Die Entscheidung des Landgerichts kann insoweit losgelöst vom Schuld- bzw. Strafausspruch überprüft werden. Einen Zusammenhang zwischen Strafausspruch und Maßregelentscheidung hat die Strafkammer nicht hergestellt.

2. Das Landgericht hat die Nichtanordnung der Maßregel hinsichtlich beider Angeklagter im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auf das Fehlen einer „konkret zu besorgenden Wiederholungswahrscheinlichkeit“ gestützt und damit die Gefahr zukünftiger hangbedingt begangener rechtswidriger Taten verneint. Dies hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Die Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten setzt eine naheliegende Wahrscheinlichkeit voraus. Eine bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2021 - 2 StR 104/21). Dies erfordert eine umfassende Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2019 - 4 StR 367/19 mwN), wobei sich Anhaltspunkte hierfür etwa aus der Persönlichkeit des Täters, seinem bisherigen Rauschmittelkonsum, seinem Vorleben und seinen Vorstrafen ergeben können (BGH NStZ-RR 2020, 170).

Diesem Maßstab werden die getroffenen Entscheidungen nicht gerecht.

b) Hinsichtlich des Angeklagten G. ergibt sich dies schon daraus, dass verlässliche Feststellungen zu seinem Betäubungsmittelkonsum fehlen. Die Strafkammer, die sachverständig beraten von einem Abhängigkeitssyndrom betreffend Kokain und Heroin ausgeht, teilt lediglich Einzelheiten zum Konsum von Heroin mit, der Mitte des Jahres 2020 begonnen haben soll. Zu Beginn und Dauer des Konsums von Kokain verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Ohne Kenntnis hiervon kann der Senat schon nicht überprüfen, ob die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte „konsumiere nicht seit überragend langer Zeit“, zutreffend ist. Art und Umfang des bisherigen Rauschmittelkonsums aber sind wesentlich für die Einschätzung, welche Bedeutung der konsumfreien Zeit von (lediglich) knapp zwei Monaten während der Haftverschonung im Herbst 2021 zukommt.

Der Umstand, dass der Angeklagte in der Zeit der Haftverschonung Betäubungsmittel nicht zu sich nahm, war ersichtlich genauso wie die Tatsache, dass er nach der erneuten Verhaftung nicht weiter auf eine Substitution angewiesen war, für das Landgericht ein wesentlicher Faktor bei der Verneinung einer von dem Angeklagten ausgehenden Wiederholungsgefahr.

Die knappe Gesamtbetrachtung der Strafkammer erweist sich zudem als rechtsfehlerhaft, weil sie bei ihrer Würdigung, der Angeklagte zeige im Hinblick auf seine Betäubungsmittelabhängigkeit Einsicht, auch hätte in den Blick nehmen müssen, dass der Angeklagte trotz bereits in der Vergangenheit bestehender Einsicht und Aufsuchen einer Drogenberatungsstelle seinen Konsum fortgesetzt hat. Dieser Umstand könnte zu einer Relativierung der Bedeutung im Urteilszeitpunkt vom Landgericht angenommener Einsicht in die Betäubungsmittelabhängigkeit führen, die sich im Übrigen nicht auch auf eine mögliche Behandlungsbedürftigkeit erstreckt hat.

Schließlich ist die Erwägung des Landgerichts, Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten einer Beeinflussung durch eine Inhaftierung nicht zugänglich seien, lägen nicht vor, rechtsfehlerhaft. Sie lässt besorgen, dass die Strafkammer anders als geboten als maßgeblichen Zeitpunkt der Gefahrenprognose nicht den Zeitpunkt des Urteils zugrunde gelegt hat.

c) Auch die Würdigung der Strafkammer in Bezug auf den Angeklagten T. greift zu kurz. Sie nimmt weder in den Blick, dass der Angeklagte anders als der Mitangeklagte G. über eine zumindest bis in das Jahr 2015 zurückreichende Erfahrung im Umgang mit Betäubungsmitteln verfügt, noch erörtert sie die Vorstrafen des Angeklagten aus den Jahren 2019 und 2020, die Betäubungsmitteldelikte betreffen und die Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten belegen. Diese Umstände waren jedenfalls vor dem Hintergrund, dass das Landgericht dem Angeklagten im Hinblick auf eine lediglich dreiwöchige Haftverschonung eine „nicht unbeträchtliche“ Abstinenz bescheinigen wollte, erörterungsbedürftig. Auch dass der Angeklagte in Bezug auf seine Betäubungsmittelabhängigkeit einsichtig sei, wäre im Hinblick auf die angestellte Gefahrenprognose zu hinterfragen gewesen. So hat der Angeklagte nach der Verurteilung im Jahr 2018 im Zuge von Bewährungsauflagen zwar am 14. Juni 2018 eine Drogenberatungsstelle aufgesucht, ist gleichwohl im Jahr 2019 nach dem Verlust von Familie und Arbeitsstelle wieder rückfällig geworden. Eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von fünf Monaten durch Urteil vom 14. Juli 2020 hat ihn nicht von weiterem Betäubungsmittelkonsum abgehalten, und dies, obwohl er sich in der zugrundeliegenden Hauptverhandlung bereit erklärt hatte, sich binnen sechs Monaten einer Therapie zur Behandlung der bestehenden Drogenabhängigkeit zu unterziehen. Dazu, ob der Angeklagte eine solche Therapie angetreten hat, verhalten sich die Urteilsgründe nicht.

d) Die Gefahrenprognosen des Landgerichts erweisen sich damit als rechtsfehlerhaft und bedingen insoweit - da auch die Annahme der weiteren Voraussetzungen für die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen - eine neue Verhandlung und Entscheidung der Sache, zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen.

III.

Die Revision des Angeklagten deckt im Schuldspruch wie auch im Strafausspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil auf, führt aber - entsprechend den vorangestellten Erwägungen - zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts zur Nichtanordnung der Maßregel.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 541

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede