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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 242

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 38/21, Beschluss v. 16.12.2021, HRRS 2022 Nr. 242


BGH StB 38/21 - Beschluss vom 16. Dezember 2021 (Hanseatisches OLG in Hamburg)

Dringender Tatverdacht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 129a StGB; § 112 StGB

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 15. November 2021 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 22. September 2021 (10 OGs 63/20) seit dem 27. September 2021 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich - als Heranwachsender und Erwachsener - mitgliedschaftlich an einer ausländischen terroristischen Vereinigung, der Ahrar alSham, beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) oder Völkermord (§ 6 VStGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB, §§ 1, 105 JGG.

Der Angeschuldigte hat zunächst unter dem 30. September 2021 Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. Diese hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 verworfen. Die dagegen gerichtete weitere Beschwerde vom 8. Oktober 2021 hat der dortige Strafsenat als Haftprüfungsantrag behandelt, nachdem die Anklageschrift vom 15. Oktober 2021 bei ihm eingegangen war. Mit Beschluss vom 15. November 2021 (8 St 2/21) hat er den Haftbefehl aufrechterhalten und den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet.

Hiergegen richtet sich die nunmehr erhobene Beschwerde des Angeschuldigten. Er wendet sich gegen den dringenden Tatverdacht; außerdem ist er der Ansicht, dass kein Haftgrund bestehe. Hilfsweise beantragt er, den Haftbefehl gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Das Oberlandesgericht hat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die Beschwerde ist unbegründet.

1. Der Angeschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

a) Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die in Syrien seit Februar 2011 gegen die Regierung von Bashar al Assad schwelenden Proteste eskalierten ab dem 15. März 2011 aufgrund des repressiven und gewaltsamen Vorgehens syrischer Sicherheitskräfte, Milizen sowie der Armee gegen Demonstranten und Oppositionelle. Die dadurch bewirkte Militarisierung der Protestbewegung entwickelte sich zu einem bewaffneten Aufstand, der Anfang 2012 schließlich weite Teile des Landes erfasste und sich zu einem großflächigen Bürgerkrieg ausweitete. Spätestens seit dieser Zeit herrschte in Syrien ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt.

An dem Aufstand beteiligte sich die Ahrar al Sham (auch Ahrar ash Sham). Sie ging aus den im Jahr 2011 gegründeten Kata’ib Ahrar ash Sham (Brigaden der Freien von Großsyrien) hervor, die sich Ende Januar 2013 mit drei anderen Gruppierungen zusammenschlossen. In dem aus diesem Anlass veröffentlichten Video mit dem Titel „Gründungserklärung der Harakat Ahrar ash Sham al Islamiya“ betonte die Organisation ihre islamische Ausrichtung. Eine politische Lösung des Konflikts lehnte sie ab; sie sah den bewaffneten Kampf als „Heiligen Krieg“ an.

Ziel der Ahrar al Sham war in erster Linie der Sturz des Assad-Regimes. Im Gegensatz zu anfänglichen Verlautbarungen, in welchen noch von Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -gläubigen die Rede war, bekräftigte die Organisation anschließend ihre salafistische Orientierung und definierte als ihre weiteren Zwecke den Schutz des Islam sowie die Errichtung einer Gesellschaftsordnung unter dem Gesetz der Scharia. Sie strebte ein autoritäres Regime an, dessen Macht geographisch über Syriens Grenzen hinausreicht. Säkularismus und Demokratie sollten darin keinen Platz finden.

Im Laufe des Jahres 2013 entwickelte sich die Ahrar al Sham mit 10.000 bis 20.000 Kämpfern zur stärksten Gruppierung innerhalb des syrischen Aufstands. Sie setzte im Kampf gegen das Assad-Regime in erster Linie militärische 8 9 10 Mittel und Einsatztaktiken ein. Die Bewaffnung ihrer Kampfeinheiten bestand überwiegend aus erbeuteten Beständen der syrischen Armee. Selbstmordattentate lehnte sie ab, arbeitete aber bei Operationen mit der Jabhat al Nusra (JaN) zusammen, deren Kämpfer dabei Selbstmordanschläge begingen. Bereits seit dem Jahr 2012 war sie bzw. ihre Vorgängerorganisation - häufig in enger Zusammenarbeit mit Gruppierungen der späteren Islamischen Front - an fast allen wichtigen Operationen der syrischen Aufständischen beteiligt, insbesondere an der Offensive in der Stadt Aleppo im Juli 2012, der Einnahme der Provinzhauptstadt Rakka im März 2013, in Zusammenarbeit mit der JaN, dem „Islamischen Staat im Irak und Syrien“, der Vorgängerorganisation des „Islamischen Staates“, und anderen dschihadistischen Gruppierungen ab dem 4. August 2013 an der Offensive gegen alawitische Dörfer im Gebirge in der Provinz Latakia, bei der zahlreiche Zivilisten ermordet wurden, sowie im Februar 2014 an dem Angriff auf das Zentralgefängnis von Aleppo, an dem wiederum auch die JaN und weitere dschihadistische Vereinigungen teilnahmen. Ab März 2015 bestand ein dauerhaftes militärisches Zweckbündnis mit der JaN.

An der Spitze der Ahrar al Sham standen ein politischer Führer und ein Schura-Rat sowie Büros für Militär, Religion, Finanzen, humanitäre Aktivitäten sowie Öffentlichkeitsund Medienarbeit. Letzteres verbreitete Verlautbarungen sowie Bekenner- und Propagandavideos über soziale Netzwerke und eigene Internetkanäle. Als nächste Leitungsebene fungierten die Anführer in den einzelnen syrischen Provinzen. Darunter gliederten sich die militärischen Kampfeinheiten mit ihren Kommandanten. Die Anweisungen und Planungen der höheren Ebenen wurden durch die nachgeordneten umgesetzt.

bb) Der aus der syrischen Provinz I. stammende Angeschuldigte schloss sich als Heranwachsender spätestens am 9. August 2015 der Ahrar al Sham an und gliederte sich in Kenntnis ihrer Ziele und Methoden in ihre hierarchische Struktur ein. Er war jedenfalls bis zum 18. Dezember 2015 - und damit über sein 21. Lebensjahr hinaus - Teil des der Vereinigung zugehörigen, in seinem Heimatdorf B. stationierten „Ba. ". Dieses kommandierte zunächst A., ein Onkel des Angeschuldigten, der im Herbst 2015 ums Leben kam.

Der Angeschuldigte nahm mit seiner Einheit an der Belagerung der nahegelegenen Dörfer K. und F. teil. Er verfügte über ein Sturm-, ein Maschinen- und ein Scharfschützengewehr. Außerdem bediente er einen Granatwerfer und ein schweres Maschinengewehr mit einem Standfuß.

Überdies wirkte der Angeschuldigte an der Aufnahme eines Propagandavideos mit. Es trägt den Titel“ Fa. verkündet den Beginn der Schlacht H. gegen K. und F. und wird diese nicht einstellen, bis die Forderungen der Revolutionäre erfüllt werden“. Der gut zweiminütige Film wurde spätestens am 9. August 2015 aufgezeichnet und an diesem Tag seitens der Vereinigung beim Internetportal YouTube eingestellt. Das Video zeigt den Onkel des Angeschuldigten, der als damaliger örtlicher Befehlshaber die Belagerung der beiden Dörfer rechtfertigt und die gegnerischen Einheiten zur Kapitulation auffordert. Der Angeschuldigte steht mit zwei weiteren Kämpfern direkt neben ihm. Er ist mit einem Tarnanzug bekleidet, hält ein Sturmgewehr des Typs Kalaschnikow AK 47 in den Händen und richtet seinen Blick in die Kamera. Dabei wusste und wollte er, dass die Veröffentlichung des Videos Propagandazwecken der Vereinigung diente.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatvorwurfs wird auf den Haftbefehl und die Anklage Bezug genommen.

b) Der dringende Tatverdacht folgt, soweit er die Vereinigung Ahrar al Sham betrifft, aus öffentlich zugänglichen Quellen und den Strukturerkenntnissen zu dieser Organisation, die sich aus der Akte ergeben und dem Senat aus einer Vielzahl anderer Verfahren bekannt sind.

Der Angeschuldigte hat die ihm zur Last gelegten Tathandlungen bestritten. Im Haftprüfungstermin vom 25. Oktober 2021 vor dem Oberlandesgericht hat er angegeben, er habe sich weder an Kampfhandlungen noch an der Aufzeichnung des Propagandavideos beteiligt. Dieses und die im Dezember 2015 bei Instagram eingestellten Bilddateien zeigten nicht ihn in Kampfmontur und mit Waffen, sondern seinen ihm sehr ähnlich sehenden jüngeren Bruder.

Bei dieser Einlassung handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Schutzbehauptung. Neben einer ins Auge springenden Ähnlichkeit des Angeschuldigten zu der im Video und auf den sichergestellten Lichtbildern abgebildeten Person, die einen bewaffneten Kämpfer unter anderem vor dem Schriftzug „Ahrar al Sham“ zeigen, belegen unter anderem zahlreiche WhatsApp-Nachrichten, dass es der Angeschuldigte und nicht sein Bruder ist, der damals für diese Vereinigung kämpfte und die eigenen Fotos ins Internet stellte. Hinsichtlich der Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht begründenden Umstände wird auf den angefochtenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. November 2021, die Anklage sowie die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 22. November 2021 Bezug genommen.

Die den Angeschuldigten entlastenden Aussagen der Zeugen Fay. und Ha. erschüttern - auch eingedenk des auf sie bezogenen Beschwerdevorbringens - den dringenden Tatverdacht nicht. Die Zeugen haben angesichts ihrer Verwandtschaft zum Angeschuldigten ein starkes Entlastungsinteresse.

Ihre Angaben bei der Polizei sind nach vorläufiger Würdigung nicht überzeugend gewesen.

c) Danach ist der Angeschuldigte dringend verdächtig, sich zunächst als Heranwachsender und dann als Erwachsener mitgliedschaftlich an einer ausländischen terroristischen Vereinigung beteiligt zu haben (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB, §§ 1, 105 Abs. 1 JGG). Nach der maßgeblichen Verdachtslage ordnete er sich - getragen von einem einvernehmlichen Willen - in die Befehlsstrukturen der Ahrar al Sham ein, vollzog auf deren Veranlassung hin mitgliedschaftliche Betätigungshandlungen und förderte so die Ziele und die Zwecke dieser Organisation von innen her.

Inwieweit der Angeschuldigte darüber hinaus Waffendelikte verwirklichte und wie sich dieser Umstand - angesichts deren möglicher Verjährung - konkurrenzrechtlich auswirkt, bedarf für die Frage der Haftfortdauer derzeit keiner Entscheidung. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in der Anklageschrift angeführt hat, die mitgliedschaftlichen Beteiligungshandlungen stünden ausnahmslos mit den Waffendelikten in Tateinheit, weil zugunsten des Angeschuldigten zu unterstellen sei, er habe während der gesamten Zeit seiner Mitgliedschaft Zugriff auf alle Waffen gehabt, wird allerdings zu bedenken sein, dass dies nicht ohne Weiteres für solche Betätigungsakte zugunsten der Vereinigung gelten würde, die er nur gelegentlich des Waffenbesitzes beging (s. BGH, Beschluss vom 10. August 2017 - AK 35 u. 36/17, juris Rn. 38 f.). Sie unterfielen gegebenenfalls der verbleibenden tatbestandlichen Handlungseinheit, die zu denjenigen Betätigungsakten hinzuträte, die auch gegen das Waffenrecht verstoßen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308 Rn. 23, 37 ff.; vom 20. Dezember 2016 - 3 StR 355/16, BGHR StGB § 129a Konkurrenzen 6 Rn. 5; vom 20. Februar 2019 - AK 4/19, BGHR VStGB § 8 Abs. 1 Konkurrenzen 1 Rn. 27).

Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts folgt jedenfalls aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB.

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern der Ahrar al Sham, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am 25. Juli 2014 erteilt.

2. Angesichts des Tatverdachts nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB besteht der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO). Nach den Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass ohne die Untersuchungshaft die alsbaldige Ahndung und Aufklärung der Tat gefährdet wäre. Auch für den Fall der Anwendung von Jugendstrafrecht nach § 32 JGG analog (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 1996 - 1 StR 113/96, BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Alter 1) muss der Angeschuldigte wegen des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens mit Freiheitsentzug rechnen. Es ist nicht sicher, dass er, auf freien Fuß gesetzt, dem von der Straferwartung ausgehenden Fluchtanreiz widerstehen wird.

Zwar spricht sehr viel dafür, dass er sich innerlich von der Ahrar al Sham gelöst hat und zu dieser nicht zurückkehren wird. Gegenüber der Jugendgerichtshilfe hat er sein Leben in Syrien als „seine schwarze Vergangenheit“ bezeichnet, die er zu verdrängen versuche. Er ist dort aus eigenem Entschluss und unter schwierigen Bedingungen ausgereist und hält sich seit dem Jahr 2016 durchgängig in der Bundesrepublik auf. Nach den bisherigen Ermittlungen pflegt er einen westlichen Lebensstil. Er spricht fließend Deutsch und hat hier erfolgreich eine Ausbildung als Radiologieassistent absolviert. Zum 1. Oktober 2021 hätte er in diesem Beruf eine Stelle in einem Krankenhaus in Be. antreten können, wäre er nicht inhaftiert worden. Hinzu kommt, dass er die ihm bekannten bisherigen Ermittlungsmaßnahmen nicht zum Anlass für eine Flucht genommen hat.

Die Annahme des dringenden Tatverdachts durch die Ermittlungsbehörden und der Erlass des Haftbefehls haben dem Angeschuldigten jedoch nunmehr in besonderem Maße vor Augen geführt, dass ihm eine Verurteilung zu einer erheblichen Haftstrafe droht. Außerdem ist er jung und ungebunden. Näheren persönlichen Kontakt hat er in Deutschland, soweit bekannt, nur zu den Zeugen Fay. und Ha., die in S. wohnen. Das Tatgeschehen belegt dagegen seine starke Einbindung in die Strukturen und Zwänge seiner in Syrien lebenden Familie, bei der das Wort des verstorbenen, islamistisch eingestellten Onkels „Gesetz“ war. Zu seinen Eltern und Brüdern pflegt er ausweislich der Auswertung seines Mobiltelefons nach wie vor engen Kontakt. Bei ihnen würde er jederzeit Aufnahme finden. Die Verbindung zu seinen ehemaligen Kampfgenossen hat er ebenfalls nicht vollständig abgebrochen. Sie reden ihn in Chat-Nachrichten mit dem Namen“ J.“ an.

Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO analog).

3. Schließlich steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft derzeit nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der bei einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Im Fall der Eröffnung soll die Hauptverhandlung am 4. Januar 2022 beginnen. Das ist knapp dreieinhalb Monate nach der Festnahme.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 242

Bearbeiter: Christian Becker