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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 619

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 425/21, Beschluss v. 02.03.2022, HRRS 2022 Nr. 619


BGH 2 StR 425/21 - Beschluss vom 2. März 2022 (LG Erfurt)

Gesamtstrafenbildung (Zäsurwirkung); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (Absprache: umfassende rechtliche Prüfung durch das Gericht).

§ 54 StGB; § 64 StGB; § 257c StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Absprache setzt regelmäßig voraus, dass das Gericht vor Unterbreitung eines eigenen Verständigungsvorschlags den Fall umfassend rechtlich geprüft hat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 22. Juni 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) in den Gesamtstrafenaussprüchen,

b) im Ausspruch über die Einziehung von Wertersatz und

c) soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen á 13 Euro und einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten aus zwei früheren Verurteilungen durch das Amtsgericht Arnstadt vom 20. August 2019 und vom 3. März 2020 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Erfurt vom 6. August 2020 zu einer ersten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Eine in dem vorgenannten Berufungsurteil getroffene Einziehungsentscheidung hat es aufrechterhalten.

Wegen der durch Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 13. Oktober 2020 verhängten Einzelstrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe hat es ihn unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 3. März 2020 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Erfurt vom 6. August 2020 gegen ihn verhängten Geldstrafe von 30 Tagessätzen á 13 Euro und unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 1. September 2020 gegen ihn verhängten Geldstrafe von 90 Tagessätzen á 15 Euro zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Während der Schuldspruch und die für die hier abgeurteilte Tat vom 23. Februar 2019 verhängte Einzelstrafe von zwei Jahren und neun Monaten rechtlicher Nachprüfung standhalten, haben die Gesamtstrafenaussprüche keinen Bestand.

Ausweislich der Urteilsgründe beruht das Urteil nur hinsichtlich des ersten Gesamtstrafenausspruchs auf einer Absprache. In den Urteilsgründen heißt es:

„Vorauszuschicken ist, dass die von der Kammer vorgenommenen Gesamtstrafenbildungen falsch sind. Die Kammer hat verkannt, dass in den Verfahren 1 Ds 144 Js 25457/18 und 1 Ds 830 Js 26199/19 das letzte tatrichterliche Urteil das Berufungsurteil vom 06.08.2020 (5 Ns 144 Js 25457/18) war und nicht die Urteile des Amtsgerichts Arnstadt vom 20.08.2018 <richtig: 20.08.2019> und 03.03.2019. Demzufolge hätten alle bislang gegen den Angeklagten verhängten Einzelstrafen in die Gesamtstrafenbildung einbezogen werden müssen. Insoweit war auch die von der Kammer vorgeschlagene Absprache nicht sachgerecht; es hätte einer Obergrenze von deutlich über 3 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe bedurft.“

Hinsichtlich der zweiten Gesamtstrafe führt das Urteil aus:

„Die Kammer hat es verabsäumt, die Entscheidung über die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 118,98 EUR aus dem Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 13.10.2020 aufrechtzuerhalten.“

Nach alledem hat das Landgericht rechtsfehlerhaft eine Zäsurwirkung der Urteile des Amtsgerichts Erfurt vom 20. August 2019 und vom 3. März 2020 angenommen, indem es übersehen hat, dass das Berufungsurteil des Landgerichts Erfurt vom 6. August 2020 die für die Gesamtstrafenbildung maßgebliche frühere Verurteilung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB war; Zäsurwirkung kam daher dem Berufungsurteil des Landgerichts Erfurt vom 6. August 2020 zu, während die zuvor ergangenen amtsgerichtlichen Urteile keine eigene Bedeutung hatten. Demzufolge hätten auch die gegen den Angeklagten verhängten Einzelstrafen aus den amtsgerichtlichen Urteilen vom 1. September 2020 und vom 13. Oktober 2020 in eine einheitliche Gesamtstrafenbildung einbezogen werden müssen, da sämtliche Taten vor dem 6. August 2020 verübt wurden.

Dieser Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung der beiden Gesamtstrafenaussprüche und zur Zurückverweisung der Sache. Die Aufhebung erfasst auch die Einziehungsentscheidung. Hinsichtlich des von dem neuen Tatrichter zu beachtenden Verschlechterungsverbots verweist der Senat auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts.

2. Das Urteil hält auch insoweit rechtlicher Überprüfung nicht stand, als eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB unterblieben ist. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 64 StGB erkennbar nicht erwogen, obwohl sich deren Vorliegen aufdrängte. Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte seit seinem 14. Lebensjahr Betäubungsmittel und seit seinem 16. Lebensjahr in erheblichem Maße Alkohol. Ausweislich des Berufungsurteils des Landgerichts Erfurt stehen alle dort abgeurteilten Taten in Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelkonsum des Angeklagten und sind auf diesen zurückzuführen. Auch die nunmehr abgeurteilte Tat steht nach den Urteilsgründen in einem kausalen Zusammenhang zu seiner Betäubungsmittelabhängigkeit.

Soweit das Landgericht - zur Begründung einer positiven Sozialprognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB - darauf verweist, der Angeklagte strebe nunmehr eine von der Kammer befürwortete Therapie im Rahmen des § 35 BtMG an, entbindet das nicht von einer Prüfung des § 64 StGB. Abgesehen davon, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 BtMG - Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren bzw. ein zwei Jahre nicht übersteigender Strafrest - zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich nicht vorliegen, ist vorrangig eine Unterbringung nach § 64 StGB zu erwägen (st. Rspr.; vgl., die zahlreichen Nachweise bei Fischer, StGB, 69. Aufl., § 64 Rn. 26).

Da das Vorliegen der weiteren Unterbringungsvoraussetzungen nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 246a StPO unter Hinzuziehung eines Sachverständigen neu verhandelt und entschieden werden.

3. Der vorliegende Fall gibt dem Senat Anlass zu folgenden Hinweisen:

Die Darstellung der Vorstrafen des Angeklagten in den Urteilsgründen ist verworren, teilweise falsch und so für das Revisionsgericht nicht nachprüfbar.

Die von der Vorsitzenden Richterin „vorsorglich“ im Hinblick auf die Revision des Angeklagten abgegebene dienstliche Erklärung läßt erkennen, dass die von der Strafkammer praktizierte Absprachepraxis teilweise mit § 257c StPO nicht im Einklang steht und in mehrerlei Hinsicht mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs unvereinbar ist (vgl. eingehend BVerfGE 133, 168 ff.; zur Unzulässigkeit einer sog. „Punktstrafe“: BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 3 StR 359/10, NStZ 2011, 231).

Eine - zudem von einer Strafkammer initiierte - Absprache setzt regelmäßig voraus, dass das Gericht vor Unterbreitung eines eigenen Verständigungsvorschlags den Fall umfassend rechtlich geprüft hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 619

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß