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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1277

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 201/21, Beschluss v. 12.10.2022, HRRS 2022 Nr. 1277


BGH 2 StR 201/21 - Beschluss vom 12. Oktober 2022 (OLG Köln)

Vorlagepflicht bei der angestrebten Abweichung eines Oberlandesgerichts von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts (Zulässigkeit: Voraussetzungen, tatsächliche Unterschiede); Sprungrevision (sowohl Revision als auch Berufung durch die Beteiligten eingelegt: Zweck der Vorschrift); Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen.

§ 121 Abs. 2 GVG; § 335 StPO; § 153a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Vorlagepflicht besteht nach § 121 Abs. 2 GVG dann, wenn ein Oberlandesgericht in den dort genannten Fällen in tragender Weise von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will, sich mithin das rechtliche Ergebnis der beabsichtigten von demjenigen der fremden Entscheidung unterscheidet. Die Abweichung muss eine Rechtsfrage betreffen, die in der früheren Entscheidung beantwortet ist und die sich bei der beabsichtigten Entscheidung in identischer Weise stellt; weisen der Sachverhalt der Vorentscheidung und jener der zu treffenden Entscheidung in wesentlichen Beziehungen Verschiedenheiten auf, so dass die sich in beiden Fällen stellende Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet werden kann, besteht - ausgehend vom Zweck des § 121 Abs. 2 GVG, die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung zu sichern.

2. § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO bezweckt in erster Linie, zu verhindern, dass ein Verfahren durch verschiedenartige Anfechtung in zwei unterschiedliche Rechtszüge gerät und will sich widersprechende Entscheidungen in einer Sache vermeiden. Ihm liegen zumindest auch prozessökonomische Erwägungen zugrunde.

Entscheidungstenor

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Köln zurückgegeben.

Gründe

Die Vorlegungssache betrifft die Auslegung von § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO. Die Vorschrift regelt das Verfahren bei verschiedenartigen Anfechtungen eines Urteils durch mehrere Verfahrensbeteiligte. Danach wird die rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form eingelegte Sprungrevision eines Beteiligten als Berufung behandelt, solange die gegen dasselbe Urteil gerichtete Berufung eines anderen Beteiligten nicht zurückgenommen oder als unzulässig verworfen worden ist. Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob das Revisionsverfahren auch dann als solches fortzuführen ist, wenn das auf die Berufung eines anderen Beteiligten hin geführte Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt worden ist.

I.

Das Amtsgericht Leverkusen hat mit Urteil vom 27. Juni 2019 den Angeklagten und den Mitangeklagten A. jeweils wegen Betrugs zu Geldstrafen verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte unter Rüge der Verletzung materiellen sowie formellen Rechts Sprungrevision eingelegt, der Mitangeklagte A. Berufung. In der Hauptverhandlung über die nach § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO zunächst beide als Berufung zu behandelnden Rechtsmittel hat das Landgericht Köln das gegen den Mitangeklagten geführte Verfahren von jenem gegen den Angeklagten abgetrennt und gemäß § 153a Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Es hat dem Mitangeklagten zur Auflage gemacht, einen Geldbetrag in Höhe von 450 Euro an die Staatskasse zu zahlen. Hinsichtlich des Angeklagten ist die Hauptverhandlung ausgesetzt worden.

Nachdem der Mitangeklagte die Zahlungsauflage vollständig erfüllt und das Landgericht Köln mit Beschluss vom 16. Oktober 2020 die endgültige Verfahrenseinstellung festgestellt hatte, hat sich dieses für die Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten als nicht mehr zuständig erachtet und die Akten der Staatsanwaltschaft Köln zur Durchführung des Revisionsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Köln zugeleitet. Die Generalstaatsanwaltschaft Köln hat bei dem Oberlandesgericht Köln daraufhin beantragt, das Verfahren an das Landgericht Köln über das weiterhin als Berufung geltende Rechtsmittel des Angeklagten zurückzugeben. Das Verfahren sei dort weiter anhängig; die allein den Mitangeklagten betreffende Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 StPO bewirke nicht die Fortsetzung des gegen den Angeklagten geführten Verfahrens als Revision im Sinne des § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO.

Das Oberlandesgericht Köln beabsichtigt, dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Köln zu folgen. Hieran sieht es sich durch den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 14. Februar 1994 - 1 St RR 222/93 (BayObLSt 1994, 29) - gehindert. Nach dessen Auffassung steht die endgültige Einstellung des Verfahrens gegen den die Berufung führenden Beteiligten nach § 153a Abs. 2 StPO vor Beginn der Hauptverhandlung einer Verwerfung der Berufung als unzulässig und einer Zurücknahme gleich, da auch die Einstellung, entsprechend dem Zweck von § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO, eine Anhängigkeit der Sache bei verschiedenen Gerichten verhindere. Insoweit sei die Vorschrift analog anzuwenden mit der Folge, dass die durch einen anderen Verfahrensbeteiligten eingelegte Revision fortan als solche zu behandeln sei.

Mit Beschluss vom 22. Dezember 2020 hat das Oberlandesgericht Köln bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht angefragt, ob dieses an seiner Rechtsauffassung festhalte, was es mit Beschluss vom 26. März 2021 bejaht hat. Das Oberlandesgericht Köln hat die Sache deshalb mit Beschluss vom 23. April 2021 dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

„Ist eine Sprungrevision als Berufung durchzuführen, wenn gegen ein amtsgerichtliches Urteil der eine Angeklagte (Sprung-) Revision, der andere Berufung einlegt und das gegen den Berufungsführer gerichtete Verfahren abgetrennt und gemäß § 153a Abs. 2 StPO eingestellt wird?“ Der Generalbundesanwalt tritt dem Oberlandesgericht Köln bei und beantragt die Vorlegungsfrage entsprechend zu beschließen. Zudem regt er eine Erstreckung der Vorlegungsfrage auf die Fälle der § 153 Abs. 2 und § 154 Abs. 2 StPO an.

II.

Die Vorlage ist unzulässig. Die Voraussetzungen der § 121 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) GVG, § 335 Abs. 2 StPO (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 - 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63, 64 f.) sind nicht gegeben.

1. Eine Vorlagepflicht besteht nach § 121 Abs. 2 GVG dann, wenn ein Oberlandesgericht in den dort genannten Fällen in tragender Weise von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will, sich mithin das rechtliche Ergebnis der beabsichtigten von demjenigen der fremden Entscheidung unterscheidet (vgl. MüKo-StPO/Kotz/Oglakcioglu, GVG, § 121 Rn. 35). Die Abweichung muss eine Rechtsfrage betreffen, die in der früheren Entscheidung beantwortet ist und die sich bei der beabsichtigten Entscheidung in identischer Weise stellt; weisen der Sachverhalt der Vorentscheidung und jener der zu treffenden Entscheidung in wesentlichen Beziehungen Verschiedenheiten auf, so dass die sich in beiden Fällen stellende Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet werden kann, besteht - ausgehend vom Zweck des § 121 Abs. 2 GVG, die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung zu sichern (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2000 - 4 StR 287/99, BGHSt 46, 17, 20) - kein Anlass für eine Vorlage (vgl. Senat, Beschluss vom 24. April 1986 - 2 StR 565/85, BGHSt 34, 71, 76; BGH, Beschlüsse vom 31. Oktober 1978 - 5 StR 432/78, BGHSt 28, 165, 167; vom 18. Juni 2020 - 1 StR 95/20, NStZ-RR 2020, 322 f.; SSW-StPO/Quentin, 4. Aufl., GVG, § 121 Rn. 14; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., GVG, § 121 Rn. 64 f.; KK-StPO/Feilcke, 8. Aufl., GVG, § 121 Rn. 34).

2. So liegt der Fall hier. Das vorlegende Oberlandesgericht ist mit einer anderen Prozesslage befasst als es das Bayerische Oberste Landesgericht gewesen ist und ist damit durch dessen Entscheidung vom 14. Februar 1994 nicht in der Beantwortung der vorgelegten Rechtsfrage gebunden.

a) Im vorliegenden Fall ist die vorläufige Einstellung des gegen den Mitangeklagten geführten Verfahrens erst während der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht vorgenommen worden, wohingegen das Bayerische Oberste Landesgericht über eine Anwendbarkeit des § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO in einem Sachverhalt zu befinden hatte, bei dem schon die endgültige Verfahrenseinstellung vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgt ist.

b) Diese tatsächlichen Unterschiede sind für die Frage der entsprechenden Anwendbarkeit von § 335 Abs. 3 StPO rechtlich beachtlich, sodass eine von der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts abweichende Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts durch das Oberlandesgericht Köln jedenfalls möglich ist.

aa) Dieses hat die vorgenannten tatsächlichen Unterschiede zwar erkannt, ihnen aber keine rechtliche Bedeutung beigemessen. Begründet hat es dies damit, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des § 153a Abs. 2 StPO identisch seien, gleich ob eine Einstellung vor oder nach Beginn der Hauptverhandlung erfolge. Diese Bewertung greift indes zu kurz.

bb) § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO bezweckt in erster Linie, zu verhindern, dass ein Verfahren durch verschiedenartige Anfechtung in zwei unterschiedliche Rechtszüge gerät (vgl. BGH, Urteil vom 13. Mai 1953 - 5 StR 640/52, BGHSt 4, 207, 208; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 335 Rn. 10; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, § 335 Rn. 15; BeckOK-StPO/Wiedner, 44. Edition, § 335 Rn. 32) und will sich widersprechende Entscheidungen in einer Sache vermeiden (vgl. RG, Beschluss vom 6. Juni 1929 - g.S. II 500/29, RGSt 63, 194, 196; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 335 Rn. 21). Ihm liegen zumindest auch prozessökonomische Erwägungen zugrunde (vgl. KMR-StPO/Momsen, Lfg. 54, § 335 Rn. 35).

cc) Dahingestellt kann bleiben, ob die Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts zutrifft, § 335 Abs. 3 StPO sei über dessen Wortlaut hinaus entsprechend auf jene Fälle anzuwenden, in denen das Berufungsverfahren vor Beginn der Hauptverhandlung endgültig eingestellt worden ist. Prozessökonomische Gesichtspunkte spielen bei einem bereits vor Beginn der Berufungshauptverhandlung endgültig eingestellten Verfahren eine geringere Rolle als bei einer Einstellung nach deren Beginn. Es liegt auf der Hand, dass die Beurteilung der Anwendbarkeit von § 335 Abs. 3 StPO auf die vorliegende Fallkonstellation dadurch beeinflusst werden kann, dass justizielle Ressourcen durch die Anberaumung und (teilweise) Durchführung einer Hauptverhandlung unwiederbringlich verbraucht würden, wenn nach Einstellung des Berufungsverfahrens nach Beginn der Hauptverhandlung das Revisionsverfahren fortzuführen wäre.

dd) Dem steht auch nicht entgegen, dass in den gesetzlich geregelten Fällen des § 335 Abs. 3 StPO nicht danach unterschieden wird, ob die Berufungsrücknahme bzw. deren Verwerfung als unzulässig vor oder nach Beginn der Hauptverhandlung erfolgt ist. Aber in den gesetzlich geregelten Fällen ist das Berufungsgericht - anders als bei einer Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO - ohne Einflussmöglichkeit auf den Abschluss des Berufungsverfahrens. Es vollzieht die Erledigung des Berufungsverfahrens aus rein formalen Gründen und ohne eigene Gestaltungsmöglichkeit, die ihm bei § 153a StPO eröffnet sind (vgl. auch BT-Drucks. 7/551, S. 69).

3. Das vorlegende Oberlandesgericht ist damit durch die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 14. Februar 1994 nicht daran gehindert, das gegen den Angeklagten geführte Verfahren an das Landgericht Köln zurückzugeben. Eine Beantwortung der Vorlegungsfrage ist nicht veranlasst.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1277

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede