HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 923
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 2 BGs 751/20, Beschluss v. 10.03.2021, HRRS 2021 Nr. 923
Auf Antrag des Verteidigers des Beschuldigten und nach Anhörung des Generalbundesanwalts wird festgestellt, dass die Entschließung des Generalbundesanwalts vom 10. September 2020, Rechtsanwalt A. die beantragte uneingeschränkte Akteneinsicht zu versagen, rechtswidrig ist.
Die K§osten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten hat die Staatskasse zu tragen.
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof führt - nach Übernahme eines zuvor von der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main geführten Ermittlungsverfahrens (...) - gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland („Islamischer Staat“), strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB. Das zuvor auch gegen H. geführte Ermittlungsverfahren wurde - nach Rückführung dieser Beschuldigten aus der Haft im Nordirak in die Bundesrepublik Deutschland (...) und Übergabe der zuvor von den kurdischen Behörden „beschlagnahmten Gegenstände“ an den deutschen Generalkonsul in (...) bzw. an die eingesetzten BKA-Beamten (...) - zwischenzeitlich abgetrennt.
1. Der Beschuldigte befindet sich seit etwa August 2017 - ebenso wie zuvor die frühere Mitbeschuldigte H. - in der Gefangenschaft kurdischer Kräfte im Irak. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen - soweit hier von Bedeutung - zugrunde:
...
e) Die Übernahme des Ermittlungsverfahrens gegen die Beschuldigten B. und H. durch den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof erfolgte am 4. Oktober 2017 (...).
f) Am 6. Oktober 2017 erließ der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl (2 BGs ...). Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten damit namentlich, dass er sich nach seiner Ausreise über die Republik Türkei und im Anschluss an seine Einreise nach Syrien dem „IS“ angeschlossen, in den von der Vereinigung zeitweise beherrschten Gebieten - gegen Bezahlung - in Krankenhäusern als Pfleger gearbeitet und mit seiner Familie verschiedene, ihm durch den „IS“ zugewiesene Wohnungen bezogen hat.
...
h) Am 28. Mai 2018 teilte das Auswärtige Amt dem Bundeskriminalamt mit, dass „kurzfristig mit der Freilassung“ des Beschuldigten ... „und einer unmittelbar anschließenden Abschiebung nach Deutschland zu rechnen“ sei (...).
i) Das Verfahren gegen die H. wurde am 19. Oktober 2018 abgetrennt (...).
...
2. Nach Übernahme des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt erfolgten maßgeblich im Jahre 2018 Auswertungen sichergestellter Datenträger, etwa solche der gesondert Verfolgten H., und Zeugenvernehmungen. Verdeckte Maßnahmen wurden nicht geführt (...).
3. Auf einen Akteneinsichtsantrag des Verteidigers des Beschuldigten, Rechtsanwalt A., vom 19. August 2019 hin gewährte der Generalbundesanwalt am 23. August 2019 teilweise Akteneinsicht. Er übermittelte dem Verteidiger den „Sonderordner Haftbefehlsantrag D. B. “, der eine Zusammenstellung der aus der Sicht des Generalbundesanwalts für den Erlass des Haftbefehls maßgeblichen Ermittlungsunterlagen und damit einen Auszug aus den Ermittlungsakten enthielt. Den Hintergrund dessen erläuterte der Generalbundesanwalt - nachträglich (...) - dahin, dass „der Haftbefehl gegen den Beschuldigten B. seinerzeit bereits Aktenbestandteil des abgetrennten Ermittlungsverfahrens gegen die H. war und an die Verteidigerin der Beschuldigten H. umfassend auf Grund des Vollzugs des dortigen Untersuchungshaftbefehls Akteneinsicht gewährt worden ist“.
4. Ein weiteres Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers vom 8. September 2020 lehnte der Generalbundesanwalt unter dem 10. September 2020 ab und führte hierzu aus, dass weitergehende Akteneinsicht derzeit nicht gewährt werden könne, da“ die Ermittlungen nicht abgeschlossen“ seien (...). Eine weitere Begründung dessen ist der Akte nicht zu entnehmen.
5. Hiergegen wendet sich der Verteidiger mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 14. September 2020.
6. Der Generalbundesanwalt beantragte am 21. September 2020, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Der Antrag sei unstatthaft, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und eine in § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO benannte Ausnahmekonstellation nicht gegeben sei; insbesondere erfolge derzeit keine Freiheitsentziehung aufgrund des durch den Generalbundesanwalt geführten Ermittlungsverfahrens. Im Übrigen sei die Versagung auch zu Recht erfolgt, da „bei umfassender Akteneinsicht“ eine Gefährdung des Untersuchungszwecks zu besorgen sei.
7. Auf gerichtliche Bitte vom 22. September 2020 hin sandte der Generalbundesanwalt seiner Antragsschrift am 2. Oktober 2020 vier Stehordner Ermittlungsakten sowie den Sachakten-Sonderband „Haftbefehlsantrag D. B.“ nach.
8. Im Zuge des Rechtsbehelfsverfahrens wurde gerichtlich Kontakt zum Auswärtigen Amt aufgenommen (...). Hierauf wurde das gegen den Beschuldigten ... verhängte Urteil vom 1. März 2020 in Form einer (auch übersetzten) Kurzfassung durch E-Mail vom 20. November 2020 übersandt. Die Frage, ob derzeit Auslieferungshaft - etwa auch als Überhaft - dort vollstreckt werde, konnte die Auslandsvertretung nicht aufklären. Unter dem 1. Dezember 2020 übermittelte das Auswärtige Amt dem Generalbundesanwalt eine Übersetzung der Urteilsformel des gegen den Beschuldigten ... ergangenen Urteils. Dieser wurde demzufolge zu einer „Haftstrafe von fünf Jahren und einem Monat“ - ersichtlich maßgeblich - auf der Grundlage des „Antiterrorgesetzes“ verurteilt. Zuletzt teilte das Auswärtige Amt mit E-Mail vom 6. Januar 2021 mit, dass eine „formale Reaktion“ der Region Kurdistan Irak nicht mehr zu erwarten sei, sondern das deutsche Ersuchen lediglich „faktisch“ in Form einer - „untechnischen“ oder „unspezifizierten“ - Rückführung erledigt werden würde.
9. Rechtsanwalt A. hatte gegenüber dem Gericht ausdrücklich sein Einverständnis damit erklärt, dass eine Verbescheidung seines Antrags bis zum Eintreffen der notwendigen Tatsachengrundlage und deren abschließender rechtlicher Bewertung zeitlich zurückgestellt wird (...).
10. Die Antragschrift und die Sachakten wurden am 20. Januar 2021 nach vorläufiger Bewertung der Sach- und Rechtslage dem Generalbundesanwalt zurückgesandt und hierbei darauf hingewiesen, dass der Rechtsbehelf als statthaft angesehen und deshalb Gelegenheit gegeben werde, Ausführungen zur konkreten Gefährdung des Untersuchungszwecks nachzuschieben; dass der schlichte Hinweis auf den Gesetzestext für die Begründung einer Gefährdung des Untersuchungszwecks regelmäßig unzureichend ist, war dem Generalbundesanwalt zuvor bereits fernmündlich mitgeteilt worden (...).
11. Mit Zuschrift vom 25. Januar 2021 teilte der Generalbundesanwalt mit, dass der Rechtsbehelf weiterhin als unzulässig angesehen werde. Zur Sache führte er aus, dass die Versagung der Akteneinsicht zu Recht erfolgt sei mit Blick auf die „zahlreichen weiteren Erkenntnisse, die in den Akten enthalten sind und nach Erlass des Haftbefehls erlangt werden konnten und die eine Tätigkeit des Beschuldigten für die ausländische terroristische Vereinigung ‚Islamischer Staat‘ ergeben, die deutlich über die im Haftbefehl enthaltenen Betätigungshandlungen hinausgeht. Nähere Ausführungen hierzu haben zu unterbleiben, da ansonsten der Sinn der Versagung der Akteneinsicht unterlaufen würde.“
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist statthaft.
a) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren gemäß § 147 Abs. 5 Satz 1 Hs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft. Versagt diese die Akteneinsicht, so kann gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO gerichtliche Entscheidung beantragt werden, wenn die Staatsanwaltschaft den Abschluss der Ermittlungen in der Akte vermerkt hat, die Einsicht in privilegierte Unterlagen nach § 147 Abs. 3 StPO versagt worden ist oder der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet. Zuständig hierfür ist der Ermittlungsrichter (§ 162 Abs. 1 Satz 1, § 169 StPO). In anderen als den genannten Fällen ist diese Entscheidung der Anklagebehörde regelmäßig nicht anfechtbar (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2009 - 3 StB 22/08, NStZ-RR 2009, 145; BGH [ER], Beschluss vom 26. Januar 2011 - 4 BGs 1/11, NStZ-RR 2012, 16; vgl. aber auch BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 330).
b) Der Beschuldigte befindet sich hier nicht auf freiem Fuß (§ 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO).
aa) Hierfür ist grundsätzlich ausreichend, dass sich der Beschuldigte im nämlichen Ermittlungsverfahren in Untersuchungshaft (§§ 112, 127b StPO) oder in einer einstweiligen Unterbringung befindet (§ 126a StPO; vgl. BGH [ER], Beschluss vom 26. Januar 2011 - 4 BGs 1/11, NStZ-RR 2012, 16; nach weitergehender Ansicht soll sogar Haft in anderer Sache ausreichen, vgl. etwa LR/Jahn, 27. Aufl., § 147 Rn. 206 f. m.w.N.; Tsambikakis in FS Richter [2006], S. 529, 530; vgl. auch BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 330). Dies gilt gleichermaßen bei im Ausland vollstreckter Auslieferungshaft, wenn die Akteneinsicht in dem dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Strafverfahren versagt worden ist (vgl. LG Regensburg StV 2004, 369; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 147 Rn. 39; KK-StPO/Willnow, § 147 Rn. 26; SSW/Beulke, 4. Aufl., § 147 Rn. 50; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 147 Rn. 111; LR/Jahn, a.a.O., § 147 Rn. 207).
Hierzu im Einzelnen:
(1) Der Gesetzeswortlaut ist mit diesem Normverständnis vereinbar. Er ist weitgefasst und enthält - anders als etwa § 51 Abs. 3 Satz 1 StGB (vgl. hierzu etwa BGH, Beschluss vom 5. August 2020 - 3 StR 231/20, BeckRS 2020, 23705) - keine Konkretisierung des Grundes der Freiheitsentziehung. Auch ist der tatbestandliche Anwendungsbereich des Rechtsbehelfs aus § 147 Abs. 5 StPO weiter formuliert, als die konkret auf die Untersuchungshaft oder auf den Antrag auf vorläufige Festnahme gerichteten materiellen Versagungsgründe für eine beantragte Akteneinsicht aus § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO. Im Übrigen korrespondiert dieses weite Wortlautverständnis auch mit der Auslegung der insoweit identischen Tatbestandsmerkmale der § 35 Abs. 3, § 216 Abs. 2, § 299 Abs. 1 StPO.
(2) Der Gesetzeshistorie ist kein eindeutiger Hinweis auf die hier inmitten stehende Konstellation zu entnehmen. Zwar war in der für diesen Rechtsbehelf maßgeblichen Anregung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass eine Verfahrensverzögerung durch eine gerichtliche Überprüfung in den Fällen des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO nicht zu besorgen sei, „da in den betroffenen Fällen seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich Duplo-Akten im Hinblick auf die Rechtsbehelfe der Haftprüfung bzw. der Beschwerde (§ 117 Abs. 1 und 2, § 126a Abs. 2 StPO) geführt werden“ (BT-Drucks. 14/2525, S. 28). Hieraus mag auf eine restriktive Auslegung des Anwendungsbereichs für diesen Rechtsbehelf geschlossen und eine notwendige Kongruenz zwischen dem Verfahren, in dem die Freiheitsentziehung erfolgt, und dem Verfahren, das Gegenstand des Akteneinsichtsgesuchs ist, hergeleitet werden (vgl. BGH [ER], Beschluss vom 26. Januar 2011 - 4 BGs 1/11, NStZ-RR 2012, 16). Bei der Auslieferungshaft ist diese Verfahrensidentität allerdings schon immer dann gewahrt, wenn Einsicht in die Verfahrensakten deutscher Strafverfolgungsbehörden und damit in die Grundlagen des Rechtshilfeersuchens begehrt wird. Im Übrigen hat eine historische Betrachtung ferner in den Blick zu nehmen, dass die Gesetzesmaterialien auch Anhaltspunkte für ein über diesen restriktiven Ansatz hinausgehendes Normverständnis enthalten. So wurde vom Reformgesetzgeber nämlich ausdrücklich ein weitgehender Gleichlauf des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO mit den uneingeschränkten Rechtschutzmöglichkeiten eines Verletzten gegen eine Versagung seines Akteneinsichtsbegehrens nach § 406e Abs. 2 und 4 Satz 2 StPO erstrebt (vgl. BT-Drucks. 14/1484, S. 22; anders noch BT-Drucks. 13/9718, S. 37; vgl. bereits BGH, Beschluss vom 18. Januar 1993 - 5 AR [VS] 44/92, StV 1993, 118).
(3) Das Ergebnis einer systematischen Betrachtung der Vorschrift zeigt ebenfalls auf, dass der Zugang zum Rechtsschutz nach § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO im Falle von Freiheitsentziehungen keinen zu strengen rechtlichen Anforderungen zu unterwerfen ist. Hierauf deutet schon der Vergleich mit den ebenfalls im elften Abschnitt des Gesetzes geregelten Maßgaben der notwendigen Verteidigung hin. Nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen, wenn bekannt wird, dass sich dieser auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung - in anderer Sache (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 141 Rn. 16) - in einer Anstalt befindet (§ 140 Abs. 1 Nr. 5, § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass während einer Anstaltsunterbringung eine Vorbereitung und Durchführung der eigenen Verteidigung nur eingeschränkt möglich ist (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; LR/Jahn, a.a.O., § 141 Rn. 25). Gerade diese Beschwernisse wirken sich aber auch bei einer von ausländischen Behörden angeordneten Auslieferungshaft aus; dem dadurch bestehenden strukturellen Verteidigungsdefizit bei Freiheitsentziehungen ist - korrespondierend mit dem Normverständnis des § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO - durch einen Rechtsschutz nach § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO auch in Fällen von Auslieferungshaft im nämlichen Verfahren zu begegnen.
(4) Dieses Auslegungsergebnis wird schließlich durch verfassungsrechtliche Maßgaben gestützt. Erst durch die Akteneinsicht - verstanden als Ausprägung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und wichtigstes Informationsrecht der Verteidigung (Welp in FG Peters [1984], S. 309, 325) - wird der in diesen Fällen vom Gesetz ausdrücklich als notwendig angesehene Verteidiger in die Lage versetzt, die Interessen des Beschuldigten effektiv zu vertreten. Auch im Lichte des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) drängt sich eine Einschränkung des Rechtsbehelfs aus § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO allein auf im Inland erfolgende Freiheitsentziehungen nach alledem nicht auf.
bb) Gemessen hieran weist die derzeitige Inhaftierung des Beschuldigten in der Republik Irak die notwendigen Voraussetzungen nach § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO für eine gerichtliche Sachentscheidung auf.
Der Generalbundesanwalt betreibt hier mit seinem an die Republik Irak gerichteten Auslieferungsverfahren im Wege der vertragslosen Rechtshilfe die Überstellung des - sich nach rechtskräftiger Verurteilung derzeit dort in Strafhaft befindlichen - Beschuldigten. Zwar konnte auch gerichtlich nicht aufgeklärt werden, ob mit Blick auf den Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof im ersuchten Staat derzeit Überhaft notiert ist. Gleichwohl ist hier jedenfalls von einer faktischen Überhaftnotierung auszugehen. Denn der ersuchte Staat hat auf das ihm durch die zuständigen deutschen Behörden übermittelte Auslieferungsersuchen hin durch mehrere Verbalnoten erklärt, den Beschuldigten überstellen wollen.
Dass hierfür noch kein konkreter Zeitpunkt benannt worden ist, ändert an dieser rechtlichen Bewertung nichts. Denn sowohl die auf Rechtshilfeersuchen deutscher Behörden zurückgehende bisherige Zusammenarbeit in diesem Verfahren mit Stellen des ersuchten Staates (vgl. I.1.) als auch vergleichbare Fälle, namentlich das Verfahren gegen die gesondert Verfolgte H. (vgl. OLG München, Urteil vom 29. April 2020 - 7 St 9/19 [4], GSZ 2020, 278 mit Anm. Fahl) und das Urteil vom OLG Stuttgart, Urteil vom 3. Mai 2019 - 2 StE 11/18 -, hierzu becklink 2013581, belegen, dass die Überstellung auf deutsche Auslieferungsersuchen bislang lediglich in zeitlicher Hinsicht ungewiss und nicht prognostizierbar war, im Übrigen aber - der hiesigen Überstellungsbewilligung entsprechend - tatsächlich erfolgte.
Damit wirkt die Vollziehung der irakischen Strafhaft zugleich als Maßnahme zur Sicherung des Auslieferungsverfahrens, zumal da die Überstellung an die Bundesrepublik seit Bewilligung durch den ersuchten Staat jederzeit erfolgen und dann der nationale Haftbefehl an die Stelle der vollstreckten Strafhaft treten kann. Dass auch die deutschen Strafverfolgungsbehörden nach diesen diplomatischen Erklärungen von einer jederzeit möglichen Überstellung des Beschuldigten ausgehen, belegt nicht zuletzt der Antrag des Generalbundesanwalts vom 29. Mai 2018 auf Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses gegen den Beschuldigten, weil „nach polizeilichen Informationen mit einer zeitnahen Rückkehr des Beschuldigten in die Bundesrepublik Deutschland zu rechnen ist“ (...).
2. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Versagung von Akteneinsicht liegen hier nicht vor (vgl. zum Prüfungsumfang LR/Erb, 27. Aufl., § 161a Rn. 61; Schlothauer, StV 1991, 192, 195).
a) Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks - auch in einem anderen Strafverfahren (vgl. BGH [ER], Beschluss vom 26. Januar 2011 - 4 BGs 1/11, NStZ-RR 2012 16; ferner Senge FS Strauda [2006], S. 459, 464) - durch Akteneinsicht des Verteidigers liegt vor, wenn nach den Umständen des Einzelfalls zu befürchten ist, dass bei Gewährung von Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 147 Rn. 25 ; H. Schneider, Jura 1995, 337, 343; Pfeiffer in FS Odersky [1996], S. 453, 459). Erforderlich aber auch hinreichend ist, dass die Ermittlungsakten dem Beschuldigten unbekannte Erkenntnisse enthalten und eine Gesamtwürdigung der Art der Tatbegehung und der Person des Beschuldigten die Besorgnis rechtfertigt, es werde bei Kenntnisnahme des Beschuldigten zu verfahrensfremden, den Erfolg der Untersuchung gefährdenden Flucht- oder Verdunkelungshandlungen kommen (vgl. H. Schneider, a.a.O.; SSW/Beulke, 4. Aufl., § 147 Rn. 32; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 147 Rn. 96; LR/Jahn, a.a.O., Rn. 152).
Die Vorschrift trägt dem Grundgedanken effektiver Sachaufklärung Rechnung, nach dem der Staatsanwaltschaft im vorbereitenden Verfahren ein Informationsvorsprung eingeräumt wird und eingeräumt werden muss (vgl. bereits Meyer-Goßner, NStZ 1982, 353, 357). Diesen Informationsvorsprung kann die Anklagebehörde - ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts aus § 147 Abs. 1 und 2 StPO - für sich aber nur reklamieren, solange im Falle von Akteneinsicht der Untersuchungszweck gefährdet wäre (vgl. Senge FS Strauda [2006], S. 459, 463; H. Schneider, Jura 1995, 337, 338; Welp, a.a.O., S. 330, 326 Fn. 72). Aus § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO folgt nichts anderes. Hiernach gilt für Fälle vollstreckter Untersuchungshaft, dass dem Verteidiger die zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen sind. Auch diese Regelung knüpft allerdings an eine zu diesem Zeitpunkt bestehende Gefährdung des Untersuchungszwecks an und spricht dem Verteidiger sogar trotz dessen ein - hier freilich beschränktes (vgl. Pfeiffer, a.a.O., S. 460) - Akteneinsichtsrecht zu. Hiermit korrespondiert wiederum, dass Akteneinsicht nach Abschluss der Ermittlungen (§ 169a StPO) selbst bei bestehender Gefährdung für den Untersuchungszweck zu gewähren ist.
Akteneinsicht kann deshalb immer versagt werden, wenn die Staatsanwaltschaft strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, wie etwa die Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, vorbereitet (vgl. BGH, Urteil vom 3. Oktober 1979 - 3 StR 264/79, BGHSt 29, 99, 102 f.). Konnte ein Haftbefehl gegen den Beschuldigten noch nicht vollstreckt werden, bestehen eine Gefährdung des Untersuchungszwecks und damit auch das Interesse der Verfolgungsbehörden, dem Beschuldigten Ermittlungswissen vorzuenthalten, in der Regel bis zu dessen Verhaftung in besonderem Maße. So hat die Kenntnis des Beschuldigten von dem Inhalt der Tatvorwürfe und der Intensität des Tatverdachts gewöhnlich Bedeutung für seine Entscheidung, sich dem Verfahren - weiter - zu entziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. April 2019 - StB 5/19, NJW 20019 2105, 2107 mit Anm. Mitsch). Die Information über die den Tatverdacht stützenden Beweismittel kann ferner die Gefahr begründen, der Beschuldigte werde auf diese vereitelnd einwirken (BGH, a.a.O.). Zur Begründung der Gefährdung können hingegen vage und entfernte Gefahrenlagen oder rein technische oder praktische Schwierigkeiten, die beantragte Akteneinsicht zu gewähren, etwa die notwendige Rückforderung der bei der Polizei zwecks Durchführung der Ermittlungen befindlichen Akten, nicht herangezogen werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 25; H. Schneider, a.a.O., 342 f.; LR/Jahn, a.a.O., Rn. 152).
Die Staatsanwaltschaft hat ihre Entscheidung, Akteneinsicht mit Blick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks (teilweise) zu versagen, grundsätzlich zu begründen (§ 34 StPO; vgl. BeckOKRiStBV/Meyberg, 38. Ed., Nr. 188 Rn. 1; ferner LR/Graalmann/Scheerer, 27. Aufl., § 34 Rn. 5 m.w.N.). Werden zum Zeitpunkt des Akteneinsichtsbegehrens noch verdeckte Maßnahmen geführt oder aber deren Vollstreckung gerade vorbereitet, so reicht der Hinweis auf laufende Ermittlungsmaßnahmen regelmäßig aus. Im Übrigen ist auch hier die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts unzureichend (BeckOKRiStBV/Meyberg, a.a.O.). Folgt indes im Einzelfall bereits aus einer Begründung selbst eine Gefährdung des Untersuchungszwecks, so wird diese dem Verteidiger nicht bekannt gegeben (vgl. RiStBV Nr. 188 Abs. 1 Satz 3; BeckOKRiStBV/Meyberg, a.a.O., Rn. 4). Stets aber hat die Staatsanwaltschaft die ihre Ablehnung tragenden „plausiblen Erwägungen“ (vgl. hierzu H. Schneider, a.a.O., 343) aktenkundig zu machen (vgl. ferner LR/Jahn, a.a.O., Rn. 155). Hierdurch wird gerade auch die gerichtliche Überprüfung sowohl der Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks als auch der staatsanwaltschaftlichen Ermessensbetätigung ermöglicht. Diese Maßgaben korrespondieren im Rechtsbehelfsverfahren nach § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO mit der gerichtlichen Befugnis, zum Schutze eines ansonsten gefährdeten Untersuchungszwecks dem Verteidiger die Entscheidungsgründe bis zum Wegfall der Gefahrenlage nicht offenzulegen (vgl. § 147 Abs. 5 Satz 4 StPO), naheliegend also ihm zunächst eine Ausfertigung ohne Begründung bekanntzugeben.
b) Gemessen an diesen rechtlichen Maßgaben steht angesichts des in seiner Gesamtheit durch das Gericht gewürdigten Akteninhalts (vgl. hierzu Anlage zum Beschluss „Übersicht Akteinhalt“) eine Gefährdung des Untersuchungszwecks hier durch die Akteneinsicht des Verteidigers nicht zu besorgen.
aa) Zwar enthalten die vorgelegten Sachakten Ermittlungsunterlagen mit Beweisbedeutung, die dem Beschuldigten und seinem Verteidiger noch nicht bekannt sind. Hierbei handelt es sich maßgeblich um Erkenntnisse aus Durchsuchungen und Vernehmungen aus dem Jahre 2018. Die Wahrnehmungen der vernommenen Zeugen wurden durch die polizeilichen Vernehmungen für das Verfahren allerdings gesichert. Ansatzpunkte für weitere - gar verdeckte - Ermittlungsmaßnahmen haben sich hieraus nicht ergeben. Dies erhellen sowohl die Vernehmungsinhalte selbst, als auch der seither verstrichene Zeitraum von mehreren Jahren, innerhalb dessen keine hieran anknüpfenden weiteren Ermittlungshandlungen vorgenommen oder Anträge auf gerichtliche Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen gestellt oder angekündigt worden sind. Dies gilt gleichermaßen für die im Jahre 2018 ersichtlich abgeschlossene Auswertung von Datenträgern. Es ist hier ausgeschlossen, dass der in Haft befindliche Beschuldigte diese Beweisquellen in irgendeiner Weise trüben könnte; auch sind Anhaltspunkte für ein solches Bestreben anhand der Ermittlungsakten nicht erkennbar.
bb) Auch die Ausführungen des Generalbundesanwalts belegen keine plausiblen Anhaltspunkte für die gesetzlich erforderliche Gefahrenlage.
(1) Dieser hat dem Antragssteller eine über den Sachaktenband „Haftbefehlsantrag D. B.“ hinausgehende Akteneinsicht zunächst mit dem pauschalem Hinweis auf die andauernden Ermittlungen verweigert. Im Rechtsbehelfsverfahren hat er dies gegenüber dem Gericht um den Hinweis auf die „zahlreichen weiteren Erkenntnisse“ ergänzt, „die in den Akten enthalten sind und nach Erlass des Haftbefehls erlangt werden konnten und die eine Tätigkeit des Beschuldigten für die ausländische terroristische Vereinigung ‚Islamischer Staat‘ ergeben, die deutlich über die im Haftbefehl enthaltenen Betätigungshandlungen hinausgeht.“ Vor diesem Hintergrund müssten „nähere Ausführungen“ zur Gefährdung des Untersuchungszwecks „unterbleiben, da ansonsten der Sinn der Versagung der Akteneinsicht unterlaufen würde.“
(2) Unklar bleibt zunächst, von welchen Handlungen der Generalbundesanwalt hier ausgeht und in welchem Maße sich aus seiner Sicht der Schuldgehalt hierdurch erhöht. Auch auf ausdrücklichen gerichtlichen Hinweis auf die Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs hin sind konkrete Ausführungen unterblieben. Die Konkretisierung der dem Beschuldigten von der Anklagebehörde zur Last gelegten Taten ist indes ureigene Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Der Ermittlungsrichter kann den hierzu erforderlichen Inkulpationsakt im Anschluss an seine Aktenlektüre nicht durch eine eigene Auswahl ersetzen.
(3) Dessen ungeachtet könnte hier auch ein im Vergleich zum Gegenstand des - bereits durch den Generalbundesanwalt bekannt gemachten - bestehenden Haftbefehls erhöhter Schuldgehalt den Untersuchungszweck nicht durchgreifend gefährden. Denn von besonderer Bedeutung ist hier, dass sich der Beschuldigte gegenwärtig in der Republik Irak in Strafhaft befindet und die deutschen Behörden ein Auslieferungsverfahren betreiben, das konkret absehbar und vergleichbar mit früheren Fällen anderweitig Verfolgter jedenfalls nach vollständiger Strafvollstreckung zu einer Überstellung führen wird. Es steht mithin nicht mehr im Belieben des Beschuldigten, sich dem Verfahren zu stellen oder zu fliehen. Überdies betreibt der Beschuldigte im Wege eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens selbst seine Rückholung in die Bundesrepublik. Anhaltspunkte für mögliche Verdunkelungshandlungen werden auch vom Generalbundesanwalt nicht vorgebracht.
c) Vor dem Hintergrund der fehlenden Gefahrenlage für den Untersuchungszweck kann hier dahin stehen, ob die - letztlich im Rechtsbehelfsverfahren nachgeschobene - Begründung des Generalbundesanwalts überhaupt eine Ermessensbetätigung im Rahmen der Versagungsentscheidung erkennen lässt. Soweit der Erklärung die Rechtsansicht zugrunde zu liegen scheint, dass eine Begründung der Versagungsentscheidung auch gegenüber dem Gericht mit Blick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks unterbleiben kann, geht dies aus den vorstehend genannten Gründen fehl. Es handelt sich hierbei nicht um einen rein behördeninternen Vorgang, sondern um einen justitiablen Rechtsakt. Auch war hier eine Begründung aus Gründen der Evidenz nicht etwa entbehrlich. Hieran ändert in der vorliegenden Verfahrenskonstellation auch der Umstand nichts, dass gegen den Beschuldigten ein Haftbefehl besteht, der gegenwärtig im Inland noch nicht vollstreckt wird. Der Haftbefehl wurde hier durch den Generalbundesanwalt selbst dem Verteidiger bekannt gegeben. Überdies hat der Generalbundesanwalt dem Verteidiger in die dem Haftbefehl zugrunde liegenden Ermittlungsergebnisse, in Form einer Zusammenstellung im Sachaktenband „Haftbefehlsantrag“, bereits Akteneinsicht gewährt. Vor diesem Hintergrund und mit Blick darauf, dass weitere, gar verdeckte Ermittlungsmaßnahmen, anhand der vorgelegten Aktenteile nicht erkennbar sind, versteht sich die Gefahrenlage hier gerade nicht von selbst.
d) Nach alledem kam es hier auch nicht darauf an, ob die Staatsanwaltschaft als milderes Mittel zur Versagung der begehrten vollständigen (weiteren) Akteneinsicht nicht teilweise (weitere) Akteneinsicht hätte gewähren und dies entsprechend in der Akte hätte dokumentieren können.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 147 Abs. 5 Satz 3 StPO in Verbindung mit § 473a StPO. Hierbei war auch (ausdrücklich) über die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu befinden (vgl. BGH [ER], Beschluss vom 26. Januar 2011 - 4 BGs 1/11, BeckRS 2011, 26970).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 923
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 564
Bearbeiter: Christian Becker