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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 854

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 452/20, Beschluss v. 12.05.2021, HRRS 2021 Nr. 854


BGH 2 StR 452/20 - Beschluss vom 12. Mai 2021 (LG Aachen)

Zuständigkeitsänderung vor der Hauptverhandlung (Verweisung der Sache an das zuständige Gericht bei fehlendem Übernahmebeschluss); Einziehung von Tatmitteln (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: mitgeführte Waffe); verminderte Schuldfähigkeit (Beweiswürdigung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 225a Abs. 1 Satz 2 StPO; § 74 StGB; § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Fehlen eines wirksamen, den Anforderungen des § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechenden schriftlichen Übernahmebeschlusses führt nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht.

2. Der besonders schwere Fall des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB setzt nicht (mehr) voraus, dass der Täter die Waffe verwendet oder in Verwendungsabsicht bei sich führt, allein das Mitführen der Waffe macht diese aber nicht zum Tatmittel im Sinne des § 74 StGB.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 5. August 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe verurteilt ist; insoweit wird das Verfahren zu erneuter Sachbehandlung an das Amtsgericht Heinsberg zurückverwiesen;

b) soweit der Angeklagte im Ãœbrigen verurteilt ist und dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt wurde;

c) soweit die Einziehung eines sichergestellten Klappmessers angeordnet ist; die Anordnung der Einziehung entfällt.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (Fall 6 der Urteilsgründe), wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (Fall 3 der Urteilsgründe), wegen Körperverletzung in drei Fällen (Fälle 1, 4 und 5 der Urteilsgründe) sowie wegen Nötigung (Fall 2 der Urteilsgründe) zu drei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und die Einziehung eines näher bezeichneten Klappmessers angeordnet. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützt ist, hat mit der Sachrüge überwiegend Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung in Fall 1 der Urteilsgründe steht ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis entgegen. Hinsichtlich des zugrundeliegenden Sachverhalts hatte die Staatsanwaltschaft Anklage zum Amtsgericht Heinsberg erhoben, welches das Hauptverfahren eröffnet und die Sache sodann dem Landgericht mit Blick auf das dort anhängige Verfahren gegen den Angeklagten vorgelegt hat. Es fehlt indes an einem wirksamen, den Anforderungen des § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechenden schriftlichen Ãœbernahmebeschluss, der die Zuständigkeit des Landgerichts als Gericht höherer Ordnung hätte begründen können (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1998 - 4 StR 273/98, NJW 1999, 157; zu den Anforderungen vgl. BGH, Urteil vom 23. April 2015 - 4 StR 603/14, NStZ-RR 2015, 250; Senat, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 StR 514/15 mwN). Dies führt - im Gegensatz zu anderen Prozesshindernissen - nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 2011 - 3 StR 164/11, NStZ 2012, 46; vom 15. Juli 2020 - 6 StR 76/20, NStZ-RR 2020, 285; vom 21. Oktober 2020 ? 4 StR 290/20, NStZ 2021, 179), hier das Amtsgericht Heinsberg.

2. Die Verurteilung des Angeklagten im Übrigen hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die vom Landgericht gegebene Begründung für seine Annahme, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei in allen Fällen zwar erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB, aber in keinem Fall sicher vollständig aufgehoben war, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

a) Nach den Feststellungen des sachverständig beratenen Landgerichts litt der Angeklagte an einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Psychose (ICD 10: F20.0), welche ursprünglich möglicherweise drogeninduziert war und nunmehr durchgehend mit einer Depotmedikation behandelt wird. Ferner war bei dem Angeklagten eine Polytoxikomanie (ICD 10: F19.2) und eine Alkoholabhängigkeit (ICD 10: F10.2) zu diagnostizieren. Die Strafkammer hat angenommen, dass es zu den abgeurteilten Taten im Zeitraum zwischen Oktober 2019 und März 2020 „auf dem Boden der genannten psychiatrischen Erkrankung des Angeklagten“ gekommen sei, „wobei in sämtlichen Fällen jedenfalls ein zusätzlicher Einfluss von Alkohol und/oder Cannabis- und /oder Amphetaminkonsum auf die Tatgeneigtheit des Angeklagten wenigstens im Sinne eines konstellativen Faktors nicht ausgeschlossen werden“ könne. Dies habe in allen Fällen die Fähigkeit, das Unrecht seines Tuns einzusehen „nicht tangiert“, jedoch sei seine Fähigkeit, gemäß dieser Unrechtseinsicht zu handeln, erheblich vermindert gewesen. Lediglich in Fällen, in denen sich Angriffe des Angeklagten gegen die Zeugin N. - richteten, sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließbar aufgehoben - und der Angeklagte insoweit freizusprechen - gewesen.

b) Die dieser Wertung zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Ihren Befund stützt die Strafkammer auf die Ausführungen der Sachverständigen, denen sie folgt, weil diese „sorgfältig und überzeugend zwischen den einzelnen Tatsituationen und den jeweiligen Tatanlässen und -motivationen differenziert und je nach Handlungsrelevanz insbesondere der vorliegenden chronifizierten Psychose des Angeklagten (…) nachvollziehbar teils nur als (nicht ausschließbar) erheblich vermindert, teils aber auch als nicht ausschließbar aufgehoben bewertet“ habe. Demgegenüber teilen die Urteilsgründe - bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB - mit, dass „die hier in Rede stehenden Delikte“ nach den Ausführungen der Sachverständigen teilweise aufgrund der wahnhaften Verkennung der Situationen durch die vermeintlichen Widersacher des Angeklagten entstanden und insoweit Ausdruck von dessen psychotischer Erkrankung seien. Zwar bezögen sich diese Ausführungen der Sachverständigen „in erster Linie“ auf Übergriffe zum Nachteil der Zeugin N. ; „ob und inwieweit bei dem Angeklagten zu den übrigen Tatzeitpunkten tatsächlich Wahnideen etc. vorhanden waren und wie sich diese auf seine Tatmotivation und seine Handlungsmöglichkeiten ausgewirkt haben“, stehe „hingegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zuverlässig fest“. Dieser Widerspruch wird auch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht aufgelöst. Die Erwägung der Strafkammer, die nicht die Zeugin N. betreffenden Übergriffe könnten ebenso gut normalpsychologisch erklärbar sein, kann ersichtlich nicht zur erforderlichen Klarheit beitragen, zumal die Strafkammer selbst „diese Frage dahingestellt“ hat sein lassen. Zu näherer Erörterung hätte sich die Strafkammer umso mehr gedrängt sehen müssen, als nach den mitgeteilten Angaben der Sachverständigen im Fall 2 der Urteilsgründe (zum Nachteil einer Jugendamtsmitarbeiterin) zu dem (§ 21 StGB begründenden) impulsiven Verhalten des Angeklagten „auch personenverkennende Tendenzen“ hinzugetreten seien und der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen auch andere Tatopfer mit der realitätsverkennenden Vorstellung - diese hätten ihm die Heizung abgedreht - verband.

bb) Die Urteilsgründe lassen ferner nicht erkennen, dass die Strafkammer einen möglichen Einfluss von Alkohol und/oder Cannabisprodukten auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeitpunkten ausreichend in den Blick genommen hat. Dass der Angeklagte „immer Alkohol konsumiert“ hat, ohne „in einem eigentlichen Rauschzustand gewesen zu sein“ und er sich von der Betreuerin habe „begrenzen“ lassen, hat für sich genommen wenig Aussagekraft, ebenso wenig ein bei den Taten des trinkgewohnten Angeklagten gezeigtes Leistungsverhalten (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Juli 2015 - 2 StR 146/15, NJW 2015, 3525; Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103, 105; Beschluss vom 27. März 2019 - 2 StR 382/18). Die Frage, welche Auswirkungen der - von der Strafkammer in allen Fällen angenommene - vorangegangene kombinierte Genuss von Alkohol und Drogen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Dezember 1996 - 2 StR 202/96) auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in den jeweiligen Tatsituationen allein oder in Wechselwirkung mit der festgestellten psychiatrischen Erkrankung hat, lässt die Strafkammer unerörtert. In Ermangelung einer nachvollziehbaren Gesamtbetrachtung (vgl. BGH, Beschluss vom 9. April 1991 - 4 StR 120/91, BGHR § 20 StGB Ursachen, mehrere 2) bleibt letztlich unklar, ob ein „zusätzlicher Einfluss von Alkohol und/oder Cannabis- und /oder Amphetaminkonsum (…) wenigstens im Sinne eines konstellativen Faktors“ die Steuerungsfähigkeit nur beeinträchtigt oder sogar aufgehoben haben könnte.

c) Insoweit bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung durch eine andere Strafkammer des Landgerichts. Dies gilt auch, weil vom Ergebnis einer erneuten Schuldfähigkeitsbeurteilung abhängig, hinsichtlich der Frage der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der Senat hebt daher - auch um dem neuen Tatgericht umfassende eigene, widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen - das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen insgesamt und auch insoweit auf, als von der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen wurde. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (vgl. § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5); er hat die Nichtverhängung der Maßregel auch nicht von seinem Revisionsangriff ausgenommen.

3. Die auf fehlende Erfolgsaussicht gestützte Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ist demgegenüber ohne Rechtsfehler und hat Bestand.

4. Die Einziehungsentscheidung hinsichtlich eines sichergestellten Klappmessers, dass der Angeklagte bei Begehung von Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte in der Jackentasche hatte, hat zu entfallen. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, setzt zwar der besonders schwere Fall des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht (mehr) voraus, dass der Täter die Waffe verwendet oder in Verwendungsabsicht bei sich führt, allein das Mitführen der Waffe (hier ohne Verwendungsabsicht) macht diese aber nicht zum Tatmittel im Sinne des § 74 StGB.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 854

Externe Fundstellen: StV 2022, 289

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß